Tag Sieben - Der Kuss des weißen Wales

Jemand rüttelte mich an der Schulter. Irgendwie tat mir alles weh und ich wollte weiterschlafen. "Hmpf." Ich wurde wieder gerüttelt, etwas stärker: "He, Kleine." Langsam kam ich hoch, rieb mir die Augen, ganz zerknautscht. Dann wurde mir klar: Das war ja Juri! "Bin nicht klein." Er kniete vor meiner Bank - Du meine Güte, ich war vor der Wache eingepennt! Aber ich war so froh, ihn draußen zu sehen. Vito hatte Wort gehalten. "Naja.", grinste er, "jedenfalls bist du jetzt reich" "Hä?" Er zeigte auf den Pappbecher vor meiner Bank. Nur dass der nicht mehr leer war. Er war voll mit Münzen. Offenbar hatten die Passanten den ganzen Morgen über Geld reingeworfen, weil sie mich für ein Bettelmädchen gehalten hatten. "Ach du meine Fresse." Ich schüttelte den Becher. "Klingt nach richtig viel." "So wie Du da gelegen hast, hätt' ich auch gespendet." Er lachte. Wenn er das tat, sah ich ihn wieder wie auf dem Bild der Schulband, er sah total verändert aus, einfach gut. "Mann, ich hab überhaupt nix mitbekommen." Ich stand auf und schüttelte mir die Haare aus der Stirn. "Aber weißt du was? Ich hab total Hunger. Komm, ich lad dich ein." Er grinste und zeigte zur Wache:

"Ich hab da drin schon was gekriegt. Außerdem verdien' ich mein eigenes Geld." "Ach ja? Wie denn?" "Komm einfach mit, dann zeig ich's Dir!" - Wir gingen in die Fußgängerzone, und diesmal war tatsächlich Gobo wieder da, der einarmige Clown. Er kannte Juri und der lieh sich von ihm die Gitarre aus. Ich entschädigte Gobo dafür mit einer Tüte Pommes vom Frittenstand gegenüber - ich war ja jetzt 'reich'. Während wir beide mampften, ich wie ein Scheunendrescher, stimmte Juri irgendwie die Gitarre um. Sie klang ganz anders jetzt, irgendwie schwebend. Magisch. Ich wusste, dass Juri Musik gemacht hatte. Ich wusste aber nicht, was seine Musik mit mir machen würde. Als er zu singen anfing. Und ich alles um mich herum vergaß. Sogar meine Pommes. 

"Wie der letzte Fisch im Meer

Wie ein Astronaut im leeren All

So fühl ich mich, manchmal.

Hörst du mein Signal?

Mein Ruf von nirgendwo?

Du fehlst mir - fehlst mir - fehlst mir

so!"

Ich hörte zu, wie Juri in der Fußgängerzone sang. Er musste das Lied selbst geschrieben haben. Es war seine Geschichte und meine, beides gleichzeitig. Es war unglaublich!

"Graue Taube auf Beton.

Warum fliegst du nicht davon, in die Nacht?

Leere Tage haben dich leer gemacht.

Hier gibts nichts für dich,

Kein Morgen und kein Licht.

Und wenn du gehst, dann geh nicht ohne mich."

Der Song war so unendlich traurig. Es war so sehr ER - und auch so sehr ICH. Mein Herz war nur noch eine Waschmaschine, mir war total schwindelig. Sah nix mehr, hörte nix mehr, nur noch das Lied. Und Juris Stimme in meinem Kopf.

"Phantom - kann nicht bleiben, kann nicht gehn .

Kann mich nicht einmal im Spiegel sehn.

Phantom - selbst die Seele ist verwest.

Kein Kuss der mich erreicht und..

Erlöst."

Ich weinte, ich merkte es nicht mal. Juri sang noch weiter aber ich war nur noch Pudding. Sah seinen toten Bruder auf dem Bild. Sah meine Mutter, ihr Grab. Alles kam hoch, aber die Musik nahm es mit sich, nahm es weg. Wie der Engel der Nacht aus meiner Straße alle Traurigen mit sich nahm. Dieser Song nahm es von mir fort. Dann war das Lied zu Ende. Es gab Applaus und er bekam sehr viele Münzen. Ich wischte mir die Augen, meine Wangen glühten. Ich atmete schnell aus und ein und versuchte verzweifelt, wieder runterzukommen. Er sollte es nicht sehen, was gerade passiert war. Auf keinen Fall. Denn nach der letzten Note gab es kein Zweifel mehr, verdammt, verdammt: Ich war bis über beide Ohren und volle Kanne und bis in meine Fußzehen in Juri verliebt. 

Wir standen in einer langen Schlange, ich hatte gar nicht gewusst, dass es eine Meeres-Ausstellung in unserer Stadt gab. Und noch weniger, dass hier Wale gezeigt wurden. Seit einer Woche schon. Juri hatte mir vorgeschlagen, eine Vorstellung zu besuchen . Von dem Geld aus seinem Auftritt und meiner unfreiwilligen Bettel-Aktion vor der Polizeiwache. Ich hatte nur genickt und wenig gesagt, weil ich meiner Stimme nicht so recht traute. Mir kribbelten die Ameisen durch den Bauch, seit seinem Lied vorhin. Vielleicht war es schon vorher klar gewesen, nur eben mir nicht, was ich für ihn empfand. Mein Gott, ich konnte kaum mehr grade gucken.

Wir waren dran, zahlten und kamen durch einen dunklen Tunnel in eine Ausstellung mit vielen Aquarien. Schön düster, da konnte er nicht sehen, wie rot ich war. An der Decke waren schwache blaue Lichter, die leicht flimmerten, ansonsten war alles schwarz. Wie unter Wasser. In einer hellen Säule aus Glas schwebten kleine rosafarbene Quallen wie winzige Engel auf und ab. 

Es war ein magischer Ort. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus, aber schließlich gelangten wir in einen großen runden Saal. Walgesänge drangen aus Lautsprechern. Es gab an einer Seite eine Bühne und dahinter eine riesige Wand aus Glas, die blau schimmerte. Eine Dame in silbernem Kostüm stieg dort hoch und es wurde still. "Meine Damen und Herren, wir haben heute einen echten Beluga-Wal hier bei uns. Was sie da hören, ist keine Aufzeichnung. Das ist Mozart. Unser Weißwal. Das einzige Exemplar, das wir haben. Und ich habe hier ein Mikrofon, denn jetzt werden sie etwas Einmaliges erleben. Heute werden Wal und Mensch miteinander sprechen - oder besser..." sie lächelte. "Miteinander singen!" Sie beugte sich über das Mikro, drückte einen Knopf und sang zwei Töne. Nach einer Weile erschien ein weißes Gesicht mit lustigen Augen an der Scheibe, Mozart sah fast wie ein Delphin aus, wenn man keine Ahnung hatte. Meine Güte, ein echter Weißwal! Und er sang dieselben Töne nach. Ich war völlig fertig, vergaß sogar mein Gefühlschaos mit Juri. Die Frau wiederholte andere Töne, er sang sie alle mit. Dann sang der Wal etwas, und die Dame machte es ihm nach. Wahnsinn! Schließlich lächelte die Waltrainerin und fragte. "So, und nun: wer möchte es gerne selber einmal versuchen." "ICH ICH ICH!" rief ich so laut ich konnte. Es war unvorstellbar, dass ich diese Chance NICHT nutzen würde. Gott, mit dem weißen Wal reden, ich MUSSTE das tun, was für eine Chance! Was für ein Traum! Und sie holte mich tatsächlich auf die Bühne. Dann kam der schönste Augenblick seit vielen, vielen Jahren, vielleicht nicht nur für mich, sondern auch für Mozart, den Beluga. Denn ich hatte eine Überraschung für ihn.

 Ich stand am Mikro und wollte mit Mozart sprechen, dem weißen Wal. Seine dunklen Augen beobachteten mich neugierig durch die Scheibe. Aber die Frau in Silber wollte noch etwas Show, sie fragte nach meinem Namen. "Ich bin Lucy." "Sag, Lucy, weißt du schon was über Wale?" "Ich liebe sie." Das brachte mir ein wohlwollendes Raunen im Publikum ein. Dann legte ich los: "Mozart ist ein Beluga, ein Weißwal, die sind uns Menschen am ähnlichsten. Mehr als Delphine sogar. Sie tauchen nie sehr tief und leben ganz nah an der Küste. Manche nennen sie die Kanarienvögel der See, weil sie so viele Gesänge haben und alles nachmachen. Sogar unsere Stimmen. Das sind die geselligsten Wale, die es gibt, sie sind niemals alleine...außer der hier." Jetzt war es im Publikum still, sogar die Frau schwieg kurz - denn ich hatte recht. Mozart musste sehr einsam sein. Das kannte ich selber nur zu gut. In der Stille holte ich mein Handy heraus. "Hi Mozart. Ich hab was für dich." Dann spielte ich eine seltene Aufnahme ab, die ich im Netz gefunden hatte. Es war ein Liebeslied. Von einem Beluga-Weibchen: Eine Folge schillernder Töne und Melodien. Ich hielt es nah ans Mikrofon und sah zu dem weißen Gesicht. Erst bewegte er sich nicht, als wollte er bloß nichts verpassen. Und dann fing Mozart an zu tanzen. Hinter der Scheibe schwamm er auf und ab, drehte sich vor Freude um sich selber, Purzelbäume und die lustigsten Kreise. Ich lächelte und lächelte, weil es so irre schön war - die Leute murmelten beeindruckt, aber ich hörte nichts. Als das Lied vorbei war, trat ich an die Scheibe und hielt meine Hand dagegen. Mozart stupste mit der Nase immer wieder dagegen. Es war wie kleine Küsschen. Dann sang er ein paar Töne. "Das kenne ich, das..er macht das immer nur dann," sagte die Waltrainerin, "wenn er sich bedanken will." Ich war gerührt. Winkte ihm den ganzen Weg zurück von der Bühne herunter zu. Es gab lange anhaltenden Applaus, und dann stand ich im Dunkeln und kam langsam wieder zu mir, suchte Juri mit den Augen. "He Kleine." Er war hinter mir aufgetaucht, und selbst im Dunkeln sah ich seine Augen leuchten. Er schien total fasziniert zu sein. Keine Traurigkeit darin, nicht hier an diesem unglaublichen Ort und in diesem unglaublichen Moment. "Bin nicht klein.", antwortet ich automatisch. Er legte mir die Hände auf die Schultern und nickte: "Nein, Lucy, bist du nicht. Du bist großartig. Wirklich." Wir sahen uns in die Augen. 'Oh Gott!', dachte ich, 'Jetzt passiert es. Jetzt, jetzt, jetzt...'  

- - -

Wir kamen aus der Wal-Ausstellung und ich war völlig durcheinander. Es war nichts weiter passiert da drinnen. Abgesehen davon, dass mich ein weißer Wal geküsst hatte. Wahnsinn, was für ein Moment! Aber ich fühlte, dass ich was ganz anderes wollte. Jemand anderen. Und ich merkte: Mit diesem Gefühl war ich nicht mehr alleine. Wir schlenderten zu Juri's Park, es war nicht weit. Aber den ganzen Weg über war er sehr still geworden und blickte mich nicht an. Zwischen den Bäumen war es warm und Kinder spielten auf der Wiese. Ich sah nichts, mein Kopf war leer, ich war nur noch eine einzige Antenne: Obwohl ich Juri nicht einmal ansehen konnte, spürte ich jede seiner Bewegungen. Es war wie Unter-Strom-Stehen. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus. Ich machte einen großen Schritt und drehte mich um. Juri blieb stehen, sah mich an. Ich fuhr mit meiner Hand an seiner Jacke entlang, ganz vorsichtig.

"Lucy?" - "Hm?" - "Lucy ich...ich bin schon 20. Und du erst 15." Er wirkte gequält. Also ließ ich seine Jacke wieder in Ruhe, zuckte die Schultern und drehte mich weg. Ich machte zwei Schritte, dann wirbelte ich zurück, packte seinen Jackenkragen, zog mich hoch - und drückte ihm einen dicken Kuss mitten auf den Mund. - - -

Eine Ewigkeit. Noch eine. Dann ließ ich ihn los, rannte ein Stück weg: "Mundraub" rief ich kichernd. "YEAH! Ist das verboten? Komm ich jetzt auch in den Knast?" Ich hatte etwas Vorsprung, hatte ihn zu sehr überrumpelt. Aber dann kam er hinter mir her und versuchte, mich zu kitzeln und ich quiekte wie ein Meerschweinchen. Er lachte: "In die Hölle kommst du, du kleines Miststück!" Ich flüchtete zum Brunnen und spritzt ihn nass. Es gab eine Wasserschlacht. Schließlich steckte er den Kopf komplett in das Becken. Dann legt er sich am Rand auf den Rücken und prustet eine Fontäne in die Luft, wie der Blas eines Wales. Ich lachte mich kaputt: "Ein Juri-Wal, oh Mann, die waren doch ausgestorben! Moment, nicht bewegen." - Ich machte ein Foto. Dann packte ich seine Hand und zog ihn zum Spielplatz, auf eine Seilbahn. Wir schoben uns gegenseitig an, dann setzten wir uns gemeinsam drauf, hingen fast bis zum Boden. Wurden irre schnell und sprangen schließlich ab, um nicht gegen den Bremsbalken zu knallen. Er auf den Rücken, ich auf ihn drauf. Ich blieb einfach liegen - so schön, so schön. Er hob den Kopf und strich mir eine Strähne aus dem Gesicht, ganz sanft. Also beugte ich mich vor und küsst ihn auf die Nasenspitze. "Hups?" Ich sprang wieder auf und rannte davon. So ging es weiter, bis wir beide völlig außer Atem waren. Er setzte sich an einen Baumstamm und ich mich an seine Schulter. Eine große Ruhe kam über mich, und dann dachte ich: Jetzt ist der richtige Moment. "Juri?" - "Hm?" "Ich hab übrigens auch eine Überraschung für dich." Ich sah zu ihm hoch, er hatte die Augen geschlossen. Seine rote Narbe war mir inzwischen so vertraut. 'Da küss ich ihn als nächstes drauf,' entschied ich. Aber später. Ich holte tief Luft: "Ich weiß, woher du die Narbe hast!"

 Juri öffnete überrascht die Augen. "Aber das ist mir egal!" Ich konnte sehen, wie verwirrt er war. Ich beiß mir heute noch in den Hintern , dass ich das gemacht habe, vielleicht wäre alles anders gekommen, hätte ich es langsam angehen lassen. Aber ich habe ein Problem: Ich bin eine Niete im Lügen - oder darin, etwas vorzuspielen. Oder mit unausgesprochenen Dingen - das quält mich unsäglich. Ich wollte ihm doch nahe sein. Wollte alles, was ihn quälte, mit ihm zusammen tragen. Tja. Wollen reicht manchmal nicht. Jedenfalls gab es jetzt kein Zurück mehr. "Ich war bei deiner Mutter." Er zuckte weg, als hätte er sich verbrannt. "Nein", keuchte er. "NEIN!" "Juri, beruhige dich, bitte. Es ist nicht, wie du denkst." - "Ich glaub's nicht. Nein." - "Es ist ok, wirklich. Ich hab sie getroffen, vor zwei Tagen! Ich weiß jetzt alles, mit deinem Bruder und so, der Unfall." Er sprang auf. "Was? DU WEIßT NICHTS!" Er brüllte es, und wand sich hin und her, totenbleich. "Gott, ich hätt's wissen müssen, ich hätt's einfach wissen müssen." Ich kam ebenfalls hoch. "Juri, warte.." Er wich vor mir zurück. "Du bist ein Kind,...ich bin ja so ein Idiot." - "Juri, hör mir doch zu!" - "Nein!" - "Ich soll dir was sagen! Von deiner Mum." Er schrie gequält auf. "NEEEIN!" Dann drehte er sich um und rannte davon. Ich hinter ihm her. "Ich soll dir sagen..", rief ich. "Lass mich in Ruhe!" Er hielt sich die Ohren zu und floh. Und er war furchtbar schnell. Als ich am Brunnen vorbeikam, verschwand er schon zwischen den Bäumen am Ende der Parkwiesen. 

Ich blieb stehen, war völlig durcheinander, eben war es noch ein goldener Tag gewesen - und jetzt? Plötzlich wurde mir eiskalt, je mehr mir klar wurde, dass ich vielleicht gerade alles zerstört hatte. Ich merkte, wie meine Augen feucht wurden. "Juri." Ich blinzelte die Tränen weg und ging die paar Schritte bis zur Rasenkante. Dann flüsterte ich leise: "Ich soll dir sagen: Juri, mein Junge, mein lieber Junge. Ich werde dir immer und alles verzeihen. Immer und alles. Wenn du nur zu mir zurück kommst. Bitte."  

"Er ist weg!", schrieb ich an Kara. Es kam keine Antwort. Ich saß immer noch im Park, an der Stelle, an der Juri verschwunden war. Wollte nicht weg. Machte das Bild auf, als er den Juri-Wal gespielt hatte - hielt den Bildschirm so vor den Brunnen, dass es perfekt mit dem Hintergrund übereinstimmte. Dort hatten wir gelacht, nach dem ersten Kuss. Was tut mehr weh? Splitter abkriegen - oder rausziehen? Natürlich, ihr wisst es. Nun, gerade zog jemand einen Splitter aus meinem Herz. Ich ging langsam zurück, ging zu allen Orten, an denen wir heute waren. Sah mir die Fotos dazu an. Eines von der Warterei in der Schlange vor der Walausstellung. Wieder ein Splitter, es tat so dermaßen weh. Aber ich konnte nicht aufhören - wie bei den Rasierklingen. Sah mir Foto um Foto an. Ich hatte leider nur ein einziges Bild von der Fußgängerzone, wo er gesungen hatte. Wo ich mich so furchtbar verliebt hatte. Es war kein gutes Foto, ganz verschwommen, aber seinen Song, den konnte ich auswendig, Zeile für Zeile. "Graue Taube auf Beton. Warum fliegst du nicht davon?" sang ich in meinem Kopf. Ja, warum eigentlich nicht? Es trieb mich wie unter Zwang weiter, zu all den anderen Orten - bis nur noch einer übrig blieb: Die Brücke über den Gleisen. Und damit war ich wieder bei Null angekommen. Kein Foto natürlich, aber dafür ein schöner Sonnenuntergang. Wie zum Abschied. Ich lehnte mich an das Geländer und stützte den Kopf auf die Hände. Das Versprechen galt noch einen Tag. Aber galt überhaupt noch irgendetwas? Ich zog meinen Ärmel hoch, sah auf die Narben. Seit fast einer Woche hatte ich keine Rasierklingen mehr angefasst. Die letzten Schnitte hatten zu heilen begonnen. Wie mein Leben auch. Schritt für Schritt, mit der Kommissarin, mit Kara, dem Clown Gobo, mit Mozart, dem weißen Wal. Aber alles war jetzt nichts mehr, ohne Juri. Vielleicht stimmt es - den ersten Kuss vergisst man nicht. Und das war jetzt der schlimmste Splitter. Ich hielt mich am Geländer fest und schrie. Und tief im Dunkeln regt sich der Krake. Ich schnappt nach Luft und schluchzt. Das war doch vorbei? Das konnte doch jetzt nicht wieder losgehen? Wenn ich jetzt zurückfallen würde - mit Mum hatten wir das ja auch erlebt. Ich fühlte den Kraken näher kommen. Die nasskalten Arme. GOTTVERDAMMT JURI !!! Was hast du mir angetan? Und plötzlich war da noch etwas. Ein kleiner Ball aus Feuer. Eben als ich geschrien hatte, war er aufgetaucht. Ein kleiner Funke purer Wut. Hell wie ein Stern. Wut auf Veronique. Auf die Schulkameraden. Auf diese Scheißkrankheit meiner Mum. Aber vor allem Wut auf diesen großen dummen Jungen mit seiner Narbe und seinem Helden-Getue - der dann vor der Wahrheit davon gelaufen war. Genau! Ich schrie noch einmal, so laut ich konnte, schrie die Gleise entlang, schrie der Sonne nach. Und das tat auf einmal richtig gut. Ich bin noch da, hört ihr? Ich bin noch da! Und ich bin ja sowas von sauer! Genau! Das Versprechen galt, aber jetzt galt es noch einmal! Bis ich Juri endlich die Botschaft seiner Mutter verklickert hatte. Seine Mum so leiden zu lassen, dieser Kerl würde mich noch kennenlernen! Aber sowas von! Das musste er hören, Wort für Wort - und dann durfte er von mir aus Krakenfutter werden.

Genau! Oder vielleicht zu mir zurückkommen, bitte bitte bitte. Ich schrie ein drittes Mal und dann endlich konnte ich mich vom Geländer lösen. Mein Handy einstecken und nach Hause gehen. Statt auf die Gleise.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top