Tag Null - Auf den Gleisen
Kennt ihr einen Tag Null?
Wenn man auf die Gleise geht und wartet - das ist ein Tag Null.
Vor einem halben Jahr war ich dort.
Hab mir mein Lieblingslied angehört. Ich bin da bisschen spezi - ich hör gerne Walgesänge. Darum heißt die Geschichte hier auch so.
Hab ein Lied von einem sterbenden Wal gehört. Total trauriges Lied, da muss ich immer weinen, wenn ich das höre. Hab auch genug Grund gehabt, ganz ehrlich. Ok - ich bin ja noch da, also hab ich die Nacht keinen Abflug gemacht, das habt ihr sicher schon kapiert. Aber wie es dazu gekommen ist, das ist oberkrass. Also warum ich noch da bin. Und das hat mit Tag Null angefangen, neun Tage lang.
Ich hab das schon alles meiner Freundin mal erzählt, und die meinte, ich soll das aufschreiben. Ja - also das hier ist dann Nummer null. Weil bei Null alles losgeht. Nicht bei Eins. Ist euch das mal aufgefallen? Wenn du geboren wirst, das ist doch dein Geburtstag, oder?. Aber nach einem Jahr gibt es dann erst deinen Ersten. Was also war dann bei deiner Geburt für ein Tag?
Da warst Du eine Null ;-)
Sorry - hey seht ihr, ich kann wieder Witze machen. Das war damals nicht so. Als ich auf den Gleisen war, da war ich echt bei Null. Oder noch tiefer, wie in einem Tiefseegraben.
Als der Zug am Horizont aufgetaucht ist, hab ich nur die Lichter gesehen. Wie die immer größer wurden. Das ist wie so Schlangen-Augen, Hypnose. Der Zug beschleunigt auf der Strecke immer - bis er unter unserer Eisenbahnbrücke durchrauscht, ist der dann auf voll Speed. Da wollte ich dann hin. Aber als die Lichter immer näher kamen, konnte ich kaum noch laufen. Wie in Sirup oder so. Der Boden hat richtig gebebt. Eigentlich dachte ich, das geht ganz leicht. So war's aber nicht. Ich erzähl euch ganz sicher nicht heute, warum ich da war. Später mal.
Als der Zug dann bei mir war, hab ich die Arme ausgebreitet und geschrien, glaub ich. Aber habs einfach nicht geschafft. Total verrückt.
Das war aber nicht das Verrückteste.
Das glaubt ihr mir jetzt vielleicht nicht: Als der Zug durch war, sah ich auf der anderen Seite der Gleise Etwas: Da stand noch einer. Der das auch nicht geschafft hatte.
Der Typ auf der anderen Seite der Gleise ließ die Arme sinken. Wir standen uns gegenüber und hörten zu, wie der Zug langsam in der Ferne verrauschte. Er war kein Junge mehr, dazu war der zu groß, aber von den Klamotten her - was ich erkennen konnte - auch nicht alt. Ich konnte unter seiner Kapuze kaum was sehen, und es war sowieso viel zu dunkel, kurz vor Mitternacht. Als er mich sah, wich er einen Schritt zurück und rührte sich dann nicht mehr. Ich glaub wir standen beide unter Schock, also ich auf jeden Fall. Ich hatte genug damit zu tun, dass ich es nicht auf die Gleise geschafft hatte. Ich war sowas von wütend auf mich selbst. Heute weiß ich, dass ihm das ganz ähnlich ging. Also standen wir da und warteten auf nichts. Es war still wie auf einem Friedhof.
Und dann hörte ich ganz leise noch eine Lok pfeifen. Der Gegenzug! Den hatte ich vollkommen vergessen. Die zweite Chance. Er sah hin, ich sah hin, aber ich rührte mich als Erste. Diesmal wollte ich keinen Rückzieher mehr machen. Also ging ich die paar Schritte und stellte mich direkt auf die Gleise. Und da machte er zum ersten Mal den Mund auf. "Hau ab!", sagte er. Habs erst gar nicht gehört. Dann noch mal lauter. Ich sah nur noch die Lichter auf mich zukommen. Spürte nichts mehr, dachte an nichts mehr - und endlich war auch diese Traurigkeit irgendwie verblasst - nur noch das Licht, das war noch da. Aber von wegen Licht am Ende des Tunnels. Das war das Tunnelende, das auf mich zugeflimmert kam, wie ein Engel. Wenn ein Zug auf dich zukommt, das ist so unbeschreiblich. Ich glaub, mein Herz hörte auf zu schlagen. Dann fingen die Gleise an, zu singen. Zu beben. Irgendwo schrie eine Stimme. Das war ich wahrscheinlich selber gewesen, bin mir aber nicht sicher. Ich erinnere mich aber, als wäre es heute passiert, an den Augenblick, als der Zug fast bei mir war. Und mich jemand mit voller Wucht zur Seite riss.
So bin ich dem Tod von der Schippe gehüpft. Das war echt knapp. Wir kugelten beide auf den Schottersteinen den Bahndamm runter. Diese spitzen Steine verschrammten meinen ganzen Rücken, es tat höllisch weh. Ich hab ja einige Narben, aber die am Rücken sind ausnahmsweise mal nicht von mir. Die Jacke war völlig aufgerissen. Ich strampelte wie blöde und versuchte, mich zu befreien, aber der Kerl hielt mich fest und die Waggons zischten vor meiner Nase vorbei. Verdammt, ich wollte da aber wieder hin, unbedingt. So wütend war ich noch nie im Leben, ich drosch auf ihn ein und versuchte, mich aus seinem Griff rauszuwinden. Er war zwar viel stärker, aber dann erwischte ich ihn am Kinn mit meinem Knie. Hey, ich höre heute noch, wie seine Zähne aufeinander klackten. KLACK, richtig laut. Und da ließ er kurz los und ich konnte kurz seine Augen im Schatten sehen. Wie ein gehetztes Tier sah das aus. Ich hab mal einen Fisch gesehen, der lebendig ausgenommen wurde - der hat genauso geguckt. Mehr hatte ich nicht erkannt, nur diese Augen. Viel später sah ich dann sein Gesicht, aber in dieser Nacht hat die Kapuze alles im Schatten gelassen und vielleicht war das besser so. Ich kraxelte also wieder zu den Gleisen hoch, aber schon nach ein paar Schritten angelte er meinen Fuß und erwischte dann mein T-Shirt, das dann auch zerriss. Und dann war der letzte Waggon vorbei. Ich krachte zusammen und war nur noch am heulen. Irgendwas hatte er noch gesagt, aber in dem Augenblick kam ein Bahnwärter mit einem riesigen Schraubenschlüssel angestapft. Und er selber war auch riesig, wie ein Berg. Hatte gelbe Gummistiefel, die gibts doch gar nicht mehr, und ne rote Jacke. Krächzte rum und sah aus wie eine Mischung aus Papagei und Bär. Der hatte wohl einfach einen Kerl mit Kapuze gesehen und unter ihm am Boden ein kleines Mädchen mit zerrissenen Klamotten. Das sah wohl nach was anderem aus, als es eigentlich war.
Und mein Retter ist abgehauen. Ich hatte einen Weinkrampf und konnte nix mehr sagen, wollte nur noch sterben und konnte nicht. Wie so ein Vampir, die können das ja auch nicht. Das war übrigens mein Assi-Name in der Klasse gewesen, wenn sie nicht Sumpfleiche gesagt haben - bin inzwischen nicht mehr auf dieser Kack-Schule, aber das war einer der Gründe, warum ich auf die Gleise bin. Ok, das war nicht DER Grund, aber gehört mit in den Sack.
Jemand trug mich schließlich weg, ins Warme. Ich bekam kaum noch etwas mit, aber ich sah die ganze Zeit diese gehetzten Augen vor mir, immer nur diese Augen.
Ich bin aufgewacht von einem Licht, das mich geblendet hat. Jemand hat mir ins Auge geleuchtet. Ein Notarzt, und als der mir was auf meine blutigen Hände getupft hat, hab ich Oper gesungen. Aber er war nett. Hat versucht, mich aufzumuntern und wollte mir eine Ärztin holen. Weil immer noch alle dachten, auf den Gleisen wäre einer über mich hergefallen. Und da darf man um eine Frau bitten - wusst ich früher auch nicht. Über mich ist ja nie einer hergefallen - auch in dieser Nacht nicht. Ganz im Gegenteil. Dann ging die Tür auf und ein dicker Polizist kam rein gepoltert, der war sowas von ein Arsch. "Na Kleine, hat er dich angefasst?" Ich hasse es, wenn einer Kleine zu mir sagt. Der Arzt war kurz raus, da hab ich mich in eine Ecke verzogen und wollte eine Polizistin haben. Nicht ihn. Der ist richtig böse geworden. Und da bin ich durchgedreht, ich hab geschrien: "Ich will eine Polizistin, sonst sag ich, sie haben mich angefasst!" War vielleicht bisschen überzogen. Aber hat gewirkt. Der hat richtig Angst bekommen.
Eine Kommissarin kam, die hieß Vito und hat mich in ihr Auto geladen. Es war gemütlich im Wagen, und ruhig, ich entspannte mich etwas. Aber reden wollte ich trotzdem nicht. Nur das Komische war, die hat auch nicht geredet. Und dann hat die was irres gesagt: "Du bist nicht vergewaltigt worden. Du warst aus einem anderen Grund auf den Gleisen." Da hab ich nichts mehr gewusst und nur noch genickt. Und gedacht, jetzt erfährt es mein Dad und das wäre wirklich das Letzte gewesen, was ich heute Nacht noch ausgehalten hätte. Aber die hat mich angelächelt und gesagt: "Sag einfach, was war. Wenns kein Verbrechen war, braucht es auch niemand zu wissen. Auch nicht deine Eltern." Seit dem Tag mag ich diese Frau. Also hab ich von dem Typen erzählt, der mich von den Gleisen geholt hat. Die hat mich angesehen, als wäre ich vom Mars. Und mich am Ende einfach zuhause rausgelassen ohne Dad was zu sagen. Aber mir hat sie was gesagt, und ich hab die ganze Nacht drüber nachgedacht:
"Vielleicht hat nicht nur der Typ dich gerettet, sondern auch du ihn."
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