Tag Fünf - Die Wahrheit über Juri
Heute morgen trug ich einen doppelten Zauber. Neben meinem Auge hatte ich einen roten Stern geschminkt, rot wie Juris Narbe. Als Erinnerung an unser Versprechen: Eine Woche nicht auf die Gleise gehen. Und auf dem Armgelenk eine Nummer von Kara. Für ein anderes Versprechen. Ich schrieb ihr auf Whatsapp: "Danke für gestern. Das war klasse. Schreib gleich, wenn du was findest." - "Wird gemacht, Holmes." Ich musste noch einmal kichern. Aller guten Dinge sind drei! Vielleicht war ja auch noch das Schultor frei? Aber so weit schien der Vorrat an gutem Karma heute nicht zu reichen. Die übliche Meute wartete schon auf mich - Veronique nahm ihre Rache wirklich sehr ernst. Ich verbarg mich hinter Büschen. Ein Streifenwagen hielt gegenüber. Ich dachte schon an Kommissarin Vito - aber stattdessen stieg ein Junge aus, Marlon. Der Fahrer war dieser Polizist, das furchtbare Walross aus meiner ersten Nacht an den Gleisen. Ich rief zu Marlon, und er sah mich skeptisch an, kam aber dann doch zu mir. "Bist du unter Polizeischutz?" "Nur mein Vater, der fährt mich manchmal." Ich sah zum Schultor. "Hör mal, du hast mal gemeint, du könntest mir helfen?" Er nickte "Also hier gibt's was. Wie komme ich rein, ohne dass die mich sehen?" Er sah ebenfalls zum Eingang. Dann grinste er. "Na dann komm mal mit." Er führte mich nach hinten, zum Tor hinter den Sportanlagen - das ist sonst immer zu. Selbst hier gab es High-Tech, das hatte ein elektronisches Schloss. Immerhin war das hier das Fortuna. Er holte eine Rasierklinge aus der Tasche und schob sie neben dem Schlüsselloch in den Spalt. Es piepte und die Tür sprang auf. "Das war jetzt echt derbe genial!" "Hab ich aus dem Internet." Er versprach mir, nach der Sechsten hier wieder auf mich zu warten. Ich war derart happy, dass ich ohne Nachzudenken zum Klassenzimmer lief - und darum voll in Veroniques Clique stolperte - sie hatte mich abgepasst, nachdem ich am Schultor nicht aufgetaucht war: "Du kannst dich nicht ewig verstecken." Meine Lehrerin war schon an der Tür, sie konnten mir nicht viel, aber sie raunte mir zu: "Morgen bist du tot." Haha, dachte ich, du weißt ja nicht, was ich weiß. Aber da hatte ich mich getäuscht.
Sie fanden tausend Wege, mich zu quälen, auch während der Stunde. Bis auf Vera war es für die anderen nur ein Spiel. Wie Kinder einem Schmetterling die Flügel ausrupfen, aus Langeweile. Ist doch nur Spaß. Ja klar. Aber nicht für den Schmetterling! Angerempelt werden. Die Blicke. Die Grimassen. Ich schloss die Augen und dachte an meine neuen Bekannten. Ein Clown mit einem Arm. Ein Junge mit einer Narbe. Kara mit dem großen Herz. Und dann noch dieser Marlon mit seinen Tricks. Ein kleiner Schwarm, aber immerhin. Vielleicht auch mehr? Freunde? In der Pause verzog ich mich aufs Klo, eine Kabine für mich. Jacke aus, Ohrstöpsel rein, ein paar Minuten mit den Walen schwimmen. Weil ich nichts hörte, bekam ich auch erst nicht mit, wie die Tür aufging und gekichert wurde. Jemand schrie: "Hey Vampy, hier kommt ein Lolly!" Etwas rotes flog über die Wand in meine Kabine, klatschte mir voll auf den Arm und dann auf den Boden. Ein benutzter Tampon, ich schrie vor Ekel auf. Mein Arm war rotverschmiert. Draußen wildes Gelächter, dann Fußgetrappel. Ich stürmte aus dem Klo, zum Waschbecken und musste mich übergeben. Drehte das Wasser voll auf, schrubbte den Arm. Ohne Rücksicht auf die letzten Schnitte. Jacke an und raus, Treppe hoch bis zum Speicher, zu meiner letzten Zuflucht. Unter der alten Matraze waren die Klingen, sie warteten und funkelten. Ich hatte schon den Ärmel hochgeschoben, da sah ich auf einer Klinge meine Augen spiegeln. Und darunter der rote Stern, rot wie Juris Narbe.
Plötzlich hörte ich Worte in meinem Kopf:
Ein Stern, eine Zahl
Ein Geheimnis, ein Wal
Halt mich fest, halt mich ab
Von meiner süßen Qual
Eine Woche hab ich versprochen.
Eine Woche wird's nicht gebrochen.
Ich atmete tief durch und legte die Klinge wieder weg. Das hatte ich noch nie geschafft. Wow. Was für ein Gefühl. Wie wenn einem Wind in die Segel fährt, oder man endlich vom Dreier gesprungen ist. Ich hatte es tatsächlich ausgehalten. Die Klinge blieb trocken. Das Versprechen es war für mich zu einem Geländer geworden. Eine Sicherheitsleine in der Steilwand. Ich sah zu dem kleinen runden Fenster hoch, draußen war Sonne. Ich träumte noch, als mein Handy piepte, das war Kara: "Lucy, Du musst sofort kommen, ICH HAB SEINE ADRESSE!!!"
Ich saß die restlichen zwei Stunden, die ich einfach nicht schwänzen durfte, wie auf glühenden Kohlen. Marlon ließ mich raus, wie ausgemacht. War enttäuscht, als ich gleich in den Bus und weg wollte, der Arme. Er war wohl auch so eine Außenseiter-Nudel wie ich. Aber no way, die Nachricht von Karas Entdeckung war sowas von heiß. An ihrer Haustür kam sie angehüpft wie ein aufgeregtes Hühnchen und zog mich sofort in ihr Zimmer, an ihrer Mum vorbei "Hallo." "Hallo" "Jetzt nicht Mum, wichtig!" "Äh, na gut.." - ich konnt nicht mal die Jacke ausziehen. Im Zimmer plapperte sie sofort los.
"Also - Primo: Die Jungs aus der Band studieren schon, hab die online angeschrieben, aber keiner hat geantwortet. Secundo: Von der Gamedesign-Gruppe ist noch einer da, hier in der Stadt, der heißt Tullio, wirklich, so heißt der, und der hat 'n Laden aufgemacht, gar nicht weit von hier, in der Fußgängerzone. Stell dir vor, ein Kosmetikstudio - ich glaub, der ist schwul oder so, aber war total nett. Und hübsch war der, eigentlich echt traurig, der könnte in jeder Serie mitspielen. Ich frag mich..."
"Kara?"
"Ja, sorry, also jetzt kommt's, Tertio: Der wusste in der Tat, wo der Juri gewohnt hat: Also - tadaaaa - hab ich die Adresse gekriegt: Hier!" Sie zeigte es mir auf Maps. Leider nicht um die Ecke, zu Fuß ne Stunde, mit dem Bus kaum schneller. Kara lief aufgeregt im Zimmer hin und her. "Aber jetzt halt dich fest: Tullio hat mir auch erzählt, was er von diesem Unfall weiß. Also erstmal: Der Juri hatte damals noch nicht diese Narbe, die kennt der Tullio überhaupt nicht. Dann war Abifete. Die ham da gefeiert als gäb's kein Morgen - er meint, er hat noch nie so viel Wodka gesehen, oder selber getrunken. Ich persönlich fall ja schon von 'nem halben Glühwein um. Also bin ich sogar mal wirklich, letztes Weihnachten, da hat mein Onkel heimlich die halbe Flasche Rum in den Punsch gekippt und wegen dem ganzen Zucker und so hab ich's nicht mitbekommen, und dann.."
"Kara. Bitte!"
"Ja klar, sorry, bin einfach so aufgeregt. Also - Tullio war blau und kann nur sagen, was die anderen ihm erzählt haben. Den Juri hat er an dem Abend auch zum letzten Mal gesehen. Später in der Nacht hat der ein paar andere heimgefahren. Oder es versucht, aber der war eben auch voll betrunken. Dann ist der mit dem Wagen von seiner Mum los." Sie blieb kurz still, dann kam's: "Und voll in einen Laster reingekracht, MIT HUNDERT SACHEN. Dabei ist dann einer von denen gestorben." Ich machte große Augen. "Voll traurig. Und jetzt noch was - also warum der Tullio den nicht mehr gesehen hat: Der Juri kam in den Knast dafür. Ne ganze Weile."
Karas Entdeckung war der Hammer. Juri im Knast weil er jemand totgefahren hatte? Was war da bloß passiert? Und warum mischte ich mich so in Juris Leben ein? Es ging mich ja eigentlich nichts an. Aber irgendwie doch. Wir waren durch ein Versprechen verbunden. Er fühlte sich verantwortlich für mich. Vielleicht sah er es nicht so, aber ich fühlte mich inzwischen auch verantwortlich für ihn. Irgendwie.
"Im Gefängnis ist der jedenfalls nicht mehr. Schläft im Park", sagte ich zu Kara. "Echt? Hast du ihn da kennengelernt?" "Nein, ich.." Ich verstummte. So gut kannte ich Kara noch nicht, dass ich ihr von den Gleisen erzählen konnte. "Ich erzähl's dir noch, versprochen, aber nicht heute. Das ist eine traurige Geschichte." Sie bekam einen ganz ernsten Ausdruck.
"Hat er dir irgendwie ... was gemacht?" Ich ließ mich rückwärts auf ihr Bett fallen.
"Oh Mann, warum denken das immer alle? Nein, überhaupt nicht, der hat...also pass auf Kara, nur eine Sache, mehr gibt es heute nicht von mir: Der hat mir das Leben gerettet!" Kara stand der Mund offen. Buchstäblich - sowas hatte ich noch nie gesehen, aber es dauerte auch nicht lange, dann sprang sie auf: "Neeeeeiiiin. Lucy, das kannst Du mir nicht antun, ich kann drei Nächte lang nicht schlafen jetzt! Au Backe, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll." Ich musste grinsen: "Na das ist ja was Neues." Wir fingen beide hemmungslos an zu kichern. Dann bat sie mich ganz schüchtern, ob ich ihr eines meiner Muster schminken könnte, ich hatte immer irgendwas, ein Netz oder Flügel oder Kreuze neben den Augen, je nach Stimmung. Im Augenblick ja der rote Stern. Dass jemand meine gruftigen MakeUps irgendwie cool finden konnte, wollte mir noch immer nicht in den Kopf. Als Dankeschön spendierte sie eine ganze Tüte Marshmallows . Dann schoss sie ein Selfie nach dem anderen. Wollte mich dabei haben. "Sorry, Kara, ich hab grad ganz schlechte Erfahrung gehabt mit Fotos." Sie war ein bisschen geknickt, also beugte ich mich vor und nahm sie in den Arm. "Ich brauch kein Foto mit dir, um deine Freundin zu sein." Jetzt hatten wir beide feuchte Augen, also drückten wir uns gleich noch mal, und das war der Anfang von etwas ganz besonderem. Ich konnte es schon in dem Moment spüren.
"Ok," sagte ich schließlich. "Ich geh zu der Wohnung. Jetzt gleich. Seine Eltern wohnen doch bestimmt noch da." Ich versprach Kara, alles haarklein zu erzählen. Wie man das so macht bei Freundinnen. Auf dem Weg musste ich daran denken, dass ich mich heute seit Jahren zum ersten Mal benommen hatte, wie ein ganz normales Mädchen: Plappern, Naschen, Schminken. Das könnte es öfters geben, fand ich. Dann kam ich zu seinem Hochhaus. Ich las den Namen. Martinus. 12. Stock. Stand schließlich vor dieser unscheinbaren Tür. Und bekam Schiss. Aber dann dachte ich an Juris traurigen Blick. Vielleicht konnte ich hier etwas für ihn tun. Das gab mir genug Mut, um auf die Klingel zu drücken. Die Tür ging auf ---- und ich bekam kein Wort raus. Da stand eine Dame, anders kann ich sie nicht beschreiben. So einfach und doch so elegant. Das Gesicht war runder wie das von Juri, aber ihre Augen - oh Gott, diese AUGEN, darin sah ich dieselbe Traurigkeit. Ein schwarzer Abgrund wie bei Juri. Ich war immer noch still, und sie zog fragend die Brauen hoch. "Ja, bitte?" Ich musste schon komisch gewirkt haben mit meinen gruftigen Klamotten, und sie ganz Dame. "Sie sind seine Mutter?." Mir fiel nichts anderes ein. Wäre ich ein Gespenst gewesen, die Wirkung hätte nicht heftiger sein können. Sie wurde ganz blass, dann lief ihr eine Träne die Wange herunter. "Komm rein. Bitte, komm rein." Sie brachte mich in ein kleines Appartement. "Setz dich doch, ich mache Tee". Die Wohnung sagte mir, dass sie hier ganz alleine lebte. Kein Mann. Ich hörte, wie sie in der Küche einmal ganz leise schluchzte, aber sie hatte sich wieder gefangen, als sie sich zu mir setzte. Wir tranken jeder kleine Schlucke aus feinem weißen Porzellan. "Wie ist dein Name?" "Lucy." "Lucy, wie geht es ihm?" "Hm, gut, also - gestern gings ihm ganz gut." Sie blickte in ihren Tee. "Ganz gut, uhum." Schließlich stellte sie die Tasse ab. "Lucy. Ich habe eineinhalb Jahre kein Sterbenswort von meinem Kind gehört. Jetzt gerade bist du das erste Zeichen überhaupt, dass er lebt." Sie nahm die Hand vor die Augen, bis sie sich wieder gefasst hatte. Dann sah sie mich lange an. Es kribbelte mich überall. "Wir haben beide Schlimmes erlebt. Ist es nicht so?" Ich nickte. Sie hatte recht, ich brauchte hier nichts zu verstecken. Und sie war seine Mutter. Also erzählte ich ihr alles.
Juris Mutter ließ mich erzählen, sagte kein Wort. "Um ehrlich zu sein: Vor ein paar Tagen war ich auf den Gleisen. Um vor einen Zug zu laufen. Juri hat mich da runter geholt. Ein Wahnsinns-Zufall. Meine Mum war sehr krank, Depressionen. Dann hat sie sich umgebracht. Das war es bei mir. Aber bei Juri ist es noch schlimmer, glaube ich. Er hat mir nicht sagen wollen, was es ist. Aber er war nicht zum Spass auf den Gleisen. Dann haben wir uns versprochen, dass wir eine Woche lang nichts unternehmen. Weder er noch ich." Sie schwieg immer noch. "Ja, also, so meine ich das mit 'Es geht ihm gut'. Er lebt im Park, in einem Zelt, ich weiß nicht, wie lange schon." Sie bedankte sich tapfer mit einem Nicken. Für meine Ehrlichkeit. Ich war aber noch nicht fertig. Denn ich hatte auch ein Frage: "Juri hat eine riesige Narbe im Gesicht. Ich glaube, es gab einen Unfall, nach seiner Abifeier. Ich weiß nicht, ob mich das was angeht, aber ich würde gerne wissen: Ist die von damals? Bevor er ins Gefängnis musste?" Frau Martinus brauchte einen Moment. Ihr Stimme zitterte deutlich. "Ja. Das Auto hatte angefangen zu brennen - das kam daher. Weißt Du, warum er ins Gefängnis kam?" Ich zuckte die Schultern. "Alkohol, oder? Er ist gefahren, und einer ist gestorben. Von den Schülern, richtig?" Jetzt liefen ihr die Tränen. "Der Junge, der da gestorben ist, Lucy...das war Max." Sie sah zu einer Kommode, und erst jetzt erkannte ich darauf ein Familien-Foto, neben einem dieser russischen Heiligenbilder in Gold - auf dem Foto stand sie zusammen mit zwei Jungen im Arm. Einer der beiden war Juri, noch ohne Narbe. Und der andere? Frau Martinus nickt: "Ja. Max war sein jüngerer kleiner Bruder."- - -
Oh Gott.
Es ging so tief.
So weit runter.
Er hatte seinen kleinen Bruder umgebracht? Ich vergaß einige Sekunden lang zu atmen. Setzte mich sofort neben sie, nahm ihre Hand, es ging gar nicht anders. Wir weinten bestimmt eine halbe Stunde immer wieder. Ich hatte den Tod meiner Mum nicht verhindern können. Und dann nicht mal Tränen gehabt. Die Schuld war wie die Hölle gewesen, obwohl mein Kopf wusste , dass ich nichts dafür konnte. Aber das? Ich hätte mich schon am nächsten Tag selber gerichtet, an seiner Stelle. Wie hatte er das nur ausgehalten? Wie ging sowas? Seine schwarzen Augen, in denen alles Licht erloschen war. Oh ja, jetzt verstand ich das so viel besser! Schließlich erzählte seine Mutter mir, dass er keinen Anwalt gewollt hatte. Er hatte alles getan, damit er bloß ins Gefängnis musste. Sie durfte ihn nicht mal besuchen. Er ließ es nicht zu. Als er endlich rauskam, verschwand er spurlos. Wir wischten uns die Augen, dann nahm sie erneut meine beiden Hände, sah mich aufmerksam an. "Würdest du meinem Jungen etwas ausrichten? Von mir?" Ich nickte. "Wort für Wort?" "Ich versuchs." Sie schloss die Augen. Ich machte es ihr nach. Dann sprach sie ganz leise, und ich kann noch heute jedes Wort auswendig: "Juri, mein lieber, lieber Juri. Ich werde dir immer und alles verzeihen. Immer und alles. Wenn du nur zu mir zurück kommst. Bitte." Da weinte ich wieder. Ich hatte schon so lange keine Mutter mehr sprechen gehört.
Ich hatte mich wieder mit meinem Dad gezankt. Weil die Surimis im Kühlschrank alle waren. Ja, genau: Total dämlicher Streit. Das gab's inzwischen bald jeden Tag, seit unserem Krach. Als er in meinem Zimmer ausgeflippt war, weil ich ihm das mit Mum vorgeworfen hatte. Was natürlich auch dumm gewesen war. Nicht sehr fair eben, er war ja genauso einsam wie ich. Aber wir fanden einfach nicht zusammen. Ich schlief lange nicht ein. Dachte an Juri, seine Mum, was die mir Schreckliches erzählt hatte. Und auch an meine Mum. So viele Menschen, und alle trieben wir verloren und einsam wie Schiffbrüchige im Ozean. Und in dieser Nacht träumte ich zum ersten Mal vom weißen Wal. Es begann wie immer, der Krake war wieder auf der Jagd, ich sah es an den Knochen auf dem Meeresgrund. Totenschädel, Rippen, zernagte Hände. Das makabere Spiel mit dem, was er übrig ließ von seinen Opfern. Die Luft wurde knapp und ich spürte die Gefahr, wollte auftauchen. Hinter mir die pulsierenden Druckwellen, das Monster kam näher als je zuvor. Aber dann sah ich über mir eine helle Gestalt zwischen den funkelnden Wellen. Licht im Licht - so weiß wie Schnee. Er war für mich gekommen, oh Gott, für mich. Ein weißer Wal. Aber in dem Moment schossen graue Tentakel wie Baumstämme an mir vorbei - auf den Wal da oben zu. Zum ersten Mal sah ich meinen Verfolger, in all seiner Hässlichkeit. Pockige Haut, gelbe Augen, ein Schnabel wie ein Dampfhammer, zum Hacken und Reißen. Der Krake schoss auf den Wal zu, der dort oben wartete. Nein, das dürfte nicht sein.
Ich begann zu schwimmen, nicht mehr um MEIN Leben, sondern um seins. Aber es war aussichtslos. Da begann ich zu schreien, zu strampeln, alles, um das Monster auf mich zu lenken. Der Wal dürfte nicht sterben. Ich schrie wie am Spieß, schrie und schrie, und plötzlich rief jemand meinen Namen. Ich wachte schweißnass auf, und mein Dad war bei mir. "Lucy, es war nur ein Traum. Nur ein Traum, Kind." Ich zitterte und schlang meine Arme um ihn, hielt ihn ganz fest, und er mich auch. Lange, so lange, bis er sich räusperte: "Lucy, das letztens, also..." Ich wusste, was er meinte, aber er brachte es nicht über die Lippen. "Schon Ok Dad. Bin auch nicht so gut mit Worten." So hielten wir uns noch ein bisschen und ich wurde still. Das letzte mal ganz ruhig vor den Tagen, die mein Leben für immer verändern sollten. Und das von Juri. Eigentlich von allen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top