Tag Eins - Vampir und Wölfe

Mein Abschiedsbrief war noch in der Küche. Ungeöffnet. Hab ihn schnell genommen. Aber nicht zerrissen. Mein Paps war noch nicht Zuhause gewesen. Hatte wohl Nachtschicht. Ich sah ihn ja kaum, immer nur Arbeit, Arbeit, und dann? Genau: Noch mal Arbeit. Er tut das nur für mich, meinte er. Damit ich auf die teure Privatschule kann. Er hatte ja keine Ahnung, was mir dort angetan wurde. Na, wenigstens gab es so keine Szene. Eigentlich ganz gut. Und auch schlecht, aus demselben Grund. Ich hab mir heimlich immer gewünscht, EIN Mensch würde Bescheid wissen. Wirklich Bescheid. Na, ein bisschen ist mir das ja gelungen: Ein Arzt, eine Kommissarin - und er, der Kapuzenmann von der Nacht davor. Sollte ich sauer auf ihn sein? Oder dankbar? Hatte ich ihn etwa auch gerettet? Keine Ahnung, und jede Minute hat mich Richtung Schule geschoben - also auf zu meinem Morgenritual. Hätte nie gedacht, dass ich das nochmal machen würde.

Aufstehn, duschen, essen. Alles wie ein Zombie. Ich holte meinen schwarzen Mantel raus, war ja kalt genug. Ich trag eigentlich immer Schwarz. Aber nicht, weil ich das jetzt kultig finde. Ich kann nur nicht anders. Jede andere Farbe wäre gelogen.

Im Bus das übliche Gekreische, Mädchen quatschten über Liebeszoff, und wer grad fame ist. Jungs haben getestet, wer härter ist: Sie oder ihre Rückenlehne. Ich schaute aus dem Fenster wie so ein Aquariumfisch und hörte mir Walgesänge von meinem Handy an. Wale sind einfach so unglaublich. So frei in ihrem Palast aus endlosem Wasser. Und wenn sie singen, dann kann ich das raushören. Wie gerne hätte ich auch eine 50 Zentimeter dicke Haut gehabt. Aber meine Haut war nun mal dünn wie Papier, ich selber hab sie auch noch angeritzt.

Ich roch nach Blut, das wusste ich. Trotzdem musste ich schon wieder durch die verdammte Klassentür ins Land der Wölfe. Mein Schimpfname hier war "der Vampir". Wisst ihr, das Schlimmste für einen Vampir ist doch nicht das Blut. Oder dass er ein Ausgestoßener ist. Das Schlimmste für einen Vampir ist, dass er nicht sterben kann.

"Lucy, zuhause schlafen, nicht im Unterricht!" Ich war tatsächlich eingepennt. Eigentlich kein Wunder nach DER Nacht. Aber der Spruch von Lehrer Michel war echt lahm, darum legte Andi, der Klassenclown, noch einen drauf: "Lucys Sarg war nicht ganz zu, heut Nacht!" Jetzt lachten alle und ich wurde wütend. Ich hab es immer gehasst, wenn sie mich wütend machten. Warum hatte der Typ mit der Kapuze mich gestern nicht auf den Gleisen gelassen, verdammt? Ich hasste ihn auch! Seinetwegen war ich noch in dieser Folterkammer. Und musste mir Veroniques Hyänengrinsen ansehen. Veronique, die blonde Göttin. Und ihr Hofstaat, Annika und Anna, beide wie aus einem Modekatalog. Designerklamotten, und nicht mal schön. Die nur zeigen sollten: Hey, ich kanns mir leisten. Synchron blondierte Haare und die Nasen hoch in der Luft wie frisierte Pudel. So wie ich aus der Gruft kam, stammten sie aus dem Himmel. Nur hier zu uns Sterblichen herabgestiegen, um uns mit den Strahlen ihrer Schönheit zu beglücken. Und solche Leute brauchten nicht nur Fans, sie brauchten auch einen Fußabtreter. My Job. Ich hasste, dass ich ihnen nicht in die Augen sehen konnte. Ich hasste, wie mir die Augen wieder nass wurden, also verkroch ich mich in den Armen und die Stunde plätscherte dahin. Beinah wäre ich schon wieder eingeschlafen.

In der Pause dann die Sticheleien von Andi: "Ich wette, Vampire sind gut im Bett." Ich tat als ob ich nichts hörte, also hat er's noch lauter gesagt. Und dann seine Fangemeinde im Chor:

"Warum denn?" Ich war schon auf dem Weg nach draußen, wollte nichts hören. "Na!" hat er geblökt, "So, wie die saugen!" SCHEIßKERL. SCHEIßLEBEN. Draußen dann Veronique: "Kann ihr mal einer sagen, dass Schwarz out ist? Seit etwa 300 Jahren!" Ich drehte wieder ab, zur Treppe nach oben.

Jetzt gab es nur noch einen Ort für mich. Im Fünften der alte Speicher. Da landen nur Dinge, die keiner mehr braucht. Ich setzte mich auf eine staubige Matratze. Zog meinen Ärmel hoch. Holte die Rasierklingen raus. Manchmal gibt es nur eine Medizin:

Schmerz mit Schmerz!

Ich schreckte auf, weil ich was gehört hatte. Zog die Ohrenstöpsel raus. Der Türgriff klackerte. Jemand kam. Scheiße, ich hab auf dem Speicher noch nie jemand getroffen. Ich zog mir hastig den Ärmel runter, die Schnitte waren noch blutig, aber egal. Das ist noch so ein Vorteil von schwarzen Klamotten. Man sieht nichts drauf, jedenfalls kein Blut. Ich stand vorsichtig auf und schlich mich hinter den Regalen entlang. Weiter hinten gab es ein paar Tische und da hatte sich offenbar jemand breit gemacht. Doch nicht Hausaufgaben, oder? Irgendein Junge, dunkle Haare, vielleicht aus der Neunten, unscheinbarer Typ. Mal gesehen, mehr nicht. Unsere Schule hatte über tausend Schüler, so heimelig wie ein Ameisenhaufen. Und er saß so, dass er mich auf jeden Fall sehen würde, wenn ich zur Tür wollte. Na toll. Ich hörte die Pausenglocke, ewig warten ging also auch nicht. Aber was machte der da eigentlich? In der Hand hielt er was silbriges. Etwas, das ich sofort erkannte: Eine Rasierklinge. Und er fuhr damit über ein Papier. Ein paar Typen hier machen das mit ihren Metro-Tickets. Den Stempel abschaben. Ist mehr so ein Nervenkitzel für Kids, die das nicht nötig hätten. Aber das war auch kein Ticket. Ich war zu neugierig: "Was machst du da?" Der zuckte zusammen wie bei einem elektrischen Schlag, und drehte sein Blatt um. Ich hatte es aber schon gesehen. Eine Klassenarbeit. Natürlich, selber Trick. Papa hatte vielleicht eine neue Playstation versprochen - für eine Eins. Und da werden die Noten mal eben ein bisschen frisiert. So was Affiges. "Geht dich gar nichts an." Ok, da hatte er recht. Ich ging einfach zur Tür, als er mir hinterher rief: "Du bist der Vampir, oder?" Ich drehte mich um, wollte schon pampig werden. "Ich kann dir helfen! Ich weiß, wie man hier überlebt." Das hatte noch keiner gesagt. Darum hab ich ihm auch nicht geglaubt. Ich wollte nur in Ruhe gelassen werden. Ich hab an meine Schnitte gedacht und gesagt: "Du weißt gar nichts!" Aber draußen hab ich mich gefragt, ob ich da vielleicht falsch lag.

Ich ging immer gerne als Erste aus der Klasse. Das vermeidet ne Menge Stress. Oder als Letzte, wie diesmal. Kein Tag ohne Spruch, kein Spruch ohne Wirkung. Aber nach der Nacht wollte ich mir das unbedingt ersparen. Nicht heute. Bitte! Ich ließ mir Zeit, schlenderte durch das imposante Portal, die Treppen runter, über den weiten Hof. Unsere Schule sah aus wie ein Schloss, alles hier roch nach alt und reich. Sogar das Rasen-Betreten-Verboten-Schild war aus poliertem Messing. Dann die 'Grafensäule': Der Gründer in Bronze gegossen auf einem Sockel, ha, der stand da wie ein Gockel auf dem Misthaufen und blickt milde lächelnd in die Arena herab, in der ich regelmäßig den Löwen zum Fraß vorgeworfen wurde. Erst dachte ich, Glück gehabt. Waren wohl alle schon weg. "Hey Waschbrett!" Ich zuckte zusammen. Annika, zusammen mit den anderen beiden wie immer. Ich schaltete auf Autopilot. Kennt ihr das? Der Kopf zwischen die Schultern, der Blick geradeaus, die Schritte schneller? Es war sinnlos, natürlich. "Warum nimmst du nicht Hormone, Schätzchen?" Veronique öffnete ihre Kaschmirjacke, streckte den Busen raus und wackelte damit. "So muss das, Vampy!" Sie schrien vor Lachen. Ich rannte durch die Pforte auf die Straße, rannte und rannte. Veronique war eine Bombe, und ich ein dünnes Huhn, vorne war nicht viel und hinten auch nicht. Jungs wollen den Längsten haben, und Mädchen haben eben ihren Körbchen-Komplex. Und den Klamotten-Vergleich. Und den Lover-Wettkampf. Ich war sowieso in allem ganz am Ende der Skala. Ich rannte am Park vorbei und schmiss meine Schultasche in ein Gebüsch, die brauchte ich nicht mehr. Ein Vampir kann nicht sterben? Von wegen! Ich wusste genau, wann die Züge fahren. Aber es war Tag, am Tag ging das nicht, zu viel Publikum. Ich blieb unschlüssig stehen.

Und dann dachte ich an meinen Dad. Er würde den Brief niemals finden, den musste ich ihm noch auf den Küchentisch legen, ich hatte ja Zeit. Und vielleicht, ja vielleicht wäre er ja da. Einmal wenigstens. Ich schloss eine Wette mit mir selbst ab: Falls ja, würde ich ihm den Brief geben. Direkt.

Ich wollte gerade meinen Abschiedsbrief auf den Küchentisch legen, als die Tür ging. Jemand warf einen Schlüsselbund auf die Anrichte. Das gabs doch nicht! Mein Dad kam heim. Er kam nie um die Uhrzeit heim, nie so früh. Ich blieb einfach reglos stehen. War es dem Schicksal ernst oder was? Sollte ich wirklich nicht auf die Gleise? Er schaute kurz in die Küche, mit Holzspänen in den Wuschelhaaren. Mein Papa ist Zimmermann. "Hey Lucy." Ich hielt immer noch den Brief in der Hand und sagte nix. Er war schon wieder im Flur und Richtung Werkzeugkammer. "Hab meine lange Säge vergessen. Ist Post gekommen?" Ich hab meinen Dad lieb, aber seit wir alleine leben, ist er irgendwie blind geworden. Er sah nicht mehr, wie's mir ging. Auch jetzt nicht. Ok, ich hab mich auch immer versteckt. Wollte nicht, dass er was mitkriegt. Und wollte es gleichzeitig doch so sehr. "Mach du mal auf." rief er mir aus der Kammer zu. Ich wusste überhaupt nicht, was ich tun sollte. Er kam zurück, er hatte seine Säge unterm Arm, die ist bestimmt nen Meter lang und suchte seine Schlüssel. Ich stand in der Küchentür und sah, wie eilig er es hatte. "Muss gleich wieder weiter, ich mach zweite Schicht bis Mitternacht." "Wieso denn?" - "Mein Kollege ist krank. Nachtschicht ist doppelter Lohn. Weißt ja, dass wir das brauchen können." Natürlich. Für meine Schule. Meine ganz persönliche Hölle, oder ein Teil davon, und er rackerte sich auch noch ab dafür. Ich nickte nur, zeigte auf die Anrichte und er nahm sich die Schlüssel. "Hab dich lieb, Kleine." Mein Dad ist der einzige, der mich so nennen darf. Ich konnte nix sagen. In der Tür drehte er sich nochmal um und nickte zu dem Brief. "Was Wichtiges?" Mir wurde ganz kalt. JETZT ODER NIE. Ich holte tief Luft, aber es ging einfach nicht. "Nein, nicht wichtig." Dann war er weg. Und das würde ich auch bald sein. Heute um 23:17 - wenn der Zug unter der Brücke wäre. Genau wie ich. Ich stellte den Brief deutlich sichtbar auf den Tisch. Jetzt brauchte ich nur noch ein Fernglas.

Es gibt ein gutes Lied zum Sterben. Da singt ein einsamer Wal im Ozean, das klingt so traurig und trotzdem so voller Würde. Das hatte ich schon beim ersten Mal gehört, als dieser Typ dann dazwischen kam. Seinetwegen hatte ich ein Fernglas mit - ich schaute den Bahndamm lang, in beide Richtungen. Klar, es war sehr dunkel, aber es gab hier auch Lampen. Erst als ich ganz sicher war, dass niemand unten stand, zog ich die Ohrenstöpsel raus und stieg über den Zaun. Ich kraxelte runter und ging die Gleise entlang, sah immer wieder mit dem Fernglas zu den Büschen auf beiden Seiten. Noch zehn Minuten. Wenn er käme, dann jetzt bald. Einmal dachte ich, ich hätte was Rascheln gehört, aber das muss wohl eine Ratte gewesen sein. Davon gibts hier viele. Die Steine am Bahndamm waren spitz und taten sogar durch meine Sohlen weh. Ich hatte immer noch Schmerzen am Rücken von seiner Rettungsaktion. Warum hatte der das bloß gemacht? Er wollte doch auch gehen! Ich an seiner Stelle hätte wahrscheinlich die Schultern gezuckt, wenn da noch jemand gewesen wäre. Oder es wäre mir unangenehm gewesen. Ich wollte keine Zuschauer. Sterben, das ist irgendwie etwas sehr persönliches, intimes. Ich kenn ein Lied da heißt es: Sex mit dem Tod. Vielleicht war es das? Der wollte den Platz für sich? Wollte mich weg haben. Ach verdammt, dann hätte er doch einfach nur warten müssen. Ladies first, da kommen ja noch mehr Züge. Dann blieb ich mitten auf den Gleisen stehen. Mir war schlagartig klar geworden: Ich wollte heute gar nicht auf die Gleise. Nicht so dringend. Ich wollte ihn sehen. Ihn fragen können, ob ihm was dran gelegen war, dass ich lebe. Ob es verdammt noch mal irgendjemandem in dieser Welt auch nur ein klitzekleines Bisschen wichtig war, mein kaputtes Leben. Ich wollte ihn wieder treffen. Nur darum das Fernglas. Ich war ja so eine Heuchlerin, sogar zu mir selber. Und eine Loserin denn natürlich war ich allein. Er kam nicht. Und dann hab ich mich furchtbar erschrocken, als eine leise Stimme hinter mir sagte: "Du schon wieder!"

Ich wirbelte herum und da stand er vor mir, wie in der ersten Nacht. Das Gesicht komplett verborgen unter seiner großen Kapuze. Ich hätte beinahe das Fernglas fallen lassen vor Schreck. Er sah die Gläser an und schüttelte den Kopf: "Du wolltest zusehen?" Es klang wie ausgespuckt. Er kam einen Schritt näher und ich wich zurück, schüttelte hektisch den Kopf. "Nein, nein, das ist nicht wahr. Das Gegenteil. Ich wusste nur, dass du kommst." Er hob drohend einen Finger. "So, das wusstest du? Jetzt hör mal zu! Hau einfach ab, du weißt gar nichts von mir." Den Satz hatte ich heute schon mal gehört, aus meinem eigenen Mund. Ich konnte ihn sogar verstehen. Aber es lief alles ganz falsch, ich wollte doch mit ihm reden, nicht streiten. Aber er kam noch einen Schritt näher, und ich stolperte wieder instinktiv zurück. "Ach ja?" hielt ich dagegen. "Und du weißt nix von mir!" Ich hörte, wie meine Stimme zitterte. Er sah unbeeindruckt an mir vorbei die Gleise entlang. Zu dem Punkt, von dem das Ende aller Sehnsüchte kommen würde. "Wenn's dich so stört, warum hast du mich dann letzte Nacht nicht gelassen?" Er schwieg, und dann tauchten die Lichter auf. Er sah nur noch dem Zug entgegen, den wir beide schon mal verpasst hatten. "Du bist ja immer noch hier." sagte er. Da ist was mit mir passiert. Wie in der ersten Nacht. Ich fühlte Wut. Ich war überall eine Ausgestoßene, aber nicht hier ganz am Ende. Hier gehörte ich hin. "Das ist genauso mein Platz wie deiner!" knurrte ich. "Ist es nicht." Ich wurde noch wütender. "Und warum nicht?" Jetzt drehte er sich doch um und kam ganz nah. Er sprach wie zu einem kleinen Kind "Du hast ja keine Ahnung." Das war zuviel, und ich tat etwas, was ich bisher noch nie getan hatte. "Dann pass mal auf" Ich zog eilig meine Jacke aus, strich die Ärmel hoch und hielt ihm meine Arme hin. Nackt und rot wie der Rücken eines ausgepeitschten Sklaven. Er blieb tatsächlich stehen. Und dann, ganz langsam zog er seine Kapuze ab. Ich sah zuerst die Augen, wie ein sterbendes Tier, er sah mich direkt an. Darum bemerkte ich erst gar nicht, was mit seinem Gesicht war. Eine Seite war rot - eine riesige Brandnarbe, die sich in Strahlen über seine Wange zog. Wie ein Stern.

Der Zug fuhr an uns vorbei und wir sagten kein Wort. Der Junge mit der Narbe und ich. Es war einer der Augenblicke, die einfach da sind, ohne lang oder kurz zu sein. Aber irgendwann hörten wir ein Auto langsam die Brückenauffahrt hochkommen. Ein Streifenwagen. Ich hob meine Jacke vom Boden auf und wir verzogen uns beide unter die Brücke. Der Wagen hielt über uns und jemand stieg aus. Dann sahen wir den Strahl einer Taschenlampe über die Gleise leuchten. Wir drückten uns an die Pfeilerwände. Ich hab später erfahren, dass Kommissarin Vito jemanden geschickt hatte. Weil die erste Nacht nach einem Versuch die gefährlichste ist. War ja nicht ganz falsch. Schließlich fuhr der Wagen weiter und wir stiegen hoch auf die Straße. Im Licht der Straßenlampe sah ich ihn besser, sah sein Gesicht, die Narbe. Er hatte helle Haare, nicht kurz, nicht lang, aber wuschelig. Er war größer als ich gedacht hatte, aber vor allem sah er aus wie ein trauriger Dämon, mit dieser Narbe, die Farbe war fast wie dunkles Feuer. Und ein dunkler Schatten in den Augen der auch bei Licht nicht verschwand. Ich konnte nicht wegsehen. "Was ist mit dir passiert?" Er schüttelte den Kopf. Ok, es ging mich wirklich nichts an. Ich fragte ihn auch nicht mehr, warum er mich am Tag vorher gerettet hatte. Es war nicht mehr wichtig, mir reichte es, diese Nacht nicht alleine zu sein. Wir drehten uns einfach um und gingen die Straße Richtung Stadt. Ich dachte nicht darüber nach, wohin, und so landeten wir plötzlich vor dem Fortuna Gymnasium. "Hier geh ich zur Schule." Er nickte anerkennend. "Sieht aus wie ein Schloss." Mit fremden Augen sah das sicher sehr arrogant aus. Schnell erklärte ich: "Oh, nicht mein Ort. Hier nennen sie mich nur den Vampir." Er nickte "Wie heißt du sonst?" "Lucy, und du?" "Juri", sagte er mit einem schwachen Grinsen. Ich mochte den Namen. Aber noch mehr mochte ich, wenn er lächelte. Dann war er sogar hübsch, zumindest von einer Seite. "Was ist so witzig?" fragte ich ihn. "Naja, Vampir ist cooler." "Das ist überhaupt nicht witzig" beschwerte ich mich, aber meine Mundwinkel gingen hoch. Und dann lachte ich. Und er auch.

Manchmal lacht man nur, weil man einfach schon zu viel geweint hat.

Er hatte mich schweigend nach Hause begleitet. Warum wollten mich immer alle nach Hause bringen? Hier war doch niemand. Dad war noch auf der Nachtschicht. "Hier wohne ich." Er nickte für sich, sagte aber nichts dazu. Ich stand mit ihm vor der Tür und wollte einfach nicht reingehen. Drinnen wartete doch nur mein Abschiedsbrief auf dem Küchentisch, schon wieder. Plötzlich überkam mich der Drang, zu reden, so viel es geht. Nur, damit er noch ein bisschen bleibt. Ich erzählte ihm von meinem Spiel: "Manchmal steh ich nachts auf und geh hier die Straße rauf und runter. Und stelle mir vor, ich wäre der Engel des letzten Tages. Ich lege Kieselsteine auf einige Türschwellen. Dort, wo Menschen sich nach Erlösung sehnen. Jeder Stein sagt: Erzähl mir deine Geschichte und ich schenke dir die Freiheit. Und am Ende der Straße dreh ich mich um und gehe zurück, und aus jedem Haus mit einem Stein kommen diejenigen, die frei sein wollen, und folgen mir. Ich kann sie nicht sehen, aber ich höre sie. Und dann führe ich sie zu mir und höre mir ihre Geschichte an, bevor sie gehen. Von ihrer Liebe. Oder ihre Sünden. Ihre letzten Wünsche. Und dann lasse ich sie frei und schau ihnen vom Fenster aus nach, wie sie davonfliegen. Das ist nur ein Spiel. Aber vielleicht gibt es ja so einen Engel." Er blickte zu Boden "Für mich nicht." "Warum nicht?" "Weil es zu traurig ist. Sogar für einen Engel." Ich war sprachlos. Wusste nicht, was ich sagen sollte. Er zog sich die Kapuze über, wollte weg. Ich redete hastig weiter: "Wo ist denn deine Türschwelle? Falls mich ein Engel fragt." "Ich habe keine, ich schlafe im Park." "Wieso das denn?" Er zuckte nur die Schultern. "Ok, egal. Sehn wir uns wieder?" Er schüttelte den Kopf. "Keine gute Idee." "Warum nicht?" Er sah mich wieder mit diesem toten Blick an. "Ich bringe den Menschen nur Unglück." Ich konnte nichts sagen, bis er die Straße runter und um die Ecke war. Dann murmelte ich leise: "Mir nicht."

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