Tag Drei - Die Beichte in der Nacht
Es war noch schlimmer geworden, die Wölfe erwarteten mich jetzt schon am Schultor. Letzte Nacht hatte ich überlebt, aber das hier? Veronique hatte mir ja Rache angedroht, wegen der Haarsträhne. Sie waren zu viert, jeder hatte ein T-Shirt an, mit einem Vampirgebiss drauf, durchgestrichen mit nem Verbotszeichen. Sie mussten es noch gestern Nachmittag gedruckt haben. Das galt mir, verdammt. Ich stand hinter Büschen und biss mir auf die Lippen - so kam ich niemals rein. Ich konnte doch nicht schon wieder schwänzen? "Lucy?" rief jemand, und ich sah über die Straße. Da stand Kommissarin Vito und winkte mir, kam zu mir rüber. Ich war total verwirrt. Hatte sie ihr Wort gebrochen und kam, um mich abzuholen? "Ich muss zu Deinem Direktor." Ich stammelte: "Wegen mir?" Sie lächelte. "Nein, Lucy. Ehrlich gesagt wusste ich nicht mal, dass du hier zur Schule gehst. Wir machen eine Amoklauf-Übung, an allen Schulen. Kannst du mir sein Büro zeigen?" Ich sah zum Eingang und zu ihr. Hakte mich bei ihr unter und grinste. "Na klar." Dann stolzierten wir einfach an Vera & Co vorbei, hinter meinem Rücken zeigte ich den Wölfen meinen Mittelfinger.
So gut hatte ich mich seit Monaten nicht mehr gefühlt. "Was für ein Glück, dass ich dich getroffen habe!" meinte Vito, "Aber sowas von!" lachte ich. "Gehts dir also besser?" Ich konnte nur nicken, ich war zu happy um zu sprechen. Dann brachte ich doch ein "Ja, Danke" heraus und sie nahm mich kurz in den Arm. Das war wie Strom, meine Batterien luden sich in sekundenschnelle auf 100%. Das rettet meinen Tag, ich war ein glücklicher Wal. Nichts kam an mich ran, Andi nicht, Vera nicht, die Lehrer nicht. Aber wer hoch fliegt, fällt oft tief. Nach der Schule ging ich sofort in die Fußgängerzone, aber Gobo war noch nicht da. Also machte ich es mir auf einer Bank bequem, und knabberte ein Surimi, das ist mein Lieblingssnack: Krabbenfleisch-Sticks, wenigstens etwas, das nach dem Meer schmeckt. Ich sah den Tauben zu. Plötzlich piepte mein Handy. Noch eine nette Botschaft von Vito? Aber das war es nicht. Es war von meinen Folterknechten, Vera & Co. Sie hatten ein Bild geschickt, und zwar öffentlich. Auf dem Chatroom der Schule. Ich sah es und bekam keine Luft mehr. Denn das war eine Bombe, und jetzt ging sie hoch.
Ich war verdammt. Ich war einfach eine verdammte Seele, wie konnte es anders sein? Vitos nette Worte, die kurze Umarmung - alles weg. Wenn auch nur ein kleines Marienkäferglück vorbeigekrabbelt kam, sofort trat ein Stiefel drauf und zermalmte alles. Dieses furchtbare Mobbing-Bild war sogar noch schlimmer.
Es war eine Photoshop-Collage. Mein Kopf, mit zerzausten Haaren von der Klopperei gestern, da kam das Foto wohl her. Aber Augen und Mund entsetzlich verzerrt wie ein Vampirmonster. Riesige Fangzähne. Diese Fratze war auf einen nackten Oberkörper geklebt, von einer dünnen Frau ohne Brüste - wo die sein müssten, waren Sticker mit Fragezeichen drauf. Einer meiner wunden Punkte, ich war nicht so bestückt, ganz sicher nicht wie Vera. Meine Arme hatten übelste Schnitte - klar, das hatten ja inzwischen alle mitbekommen! Meine Füße standen in einem Sarg, als wäre ich grad daraus auferstanden. Und fett in Rot dazu der Spruch: "Vampy, einzige Vampirfrau ohne Möpse!" Aber das Allerschlimmste kam erst noch: Unter dem Bild waren schon hunderte von Kommentaren: "Geil - Suck me Baby" und "Iiih, was für eine Schlampe." und so weiter. Die ganze Schule konnte das Bild so sehen - und hatte es wohl schon. Mein Gehirn schaltete komplett ab und ich kam taumelnd auf die Beine, packte meine Tasche und rannte los. Ich kam an Gobo vorbei, der mir verdutzt hinterher blickte. Egal, ich rannte und rannte, durch die Straßen immer weiter, beinahe wäre ich überfahren worden. "Willst du dich umbringen oder was?" schrie mir der Fahrer hinterher. Na klar, was sonst? Ich rannte sinnlos weiter, kam schließlich völlig außer Puste zum Stehen. Ich lehnte meinen Rücken an einen Zaun. Sank langsam daran herunter. Schluchzte. Denn jetzt erkannte ich den Ort wieder: Ein Brückenzaun. Ich sah durch die Gitter: Unter mir liefen Gleise entlang. Meine Füße hatten von ganz alleine den richtigen Weg gewählt, aber ich hatte nicht mal mehr Kraft, da runter zu gehen. Ich schloss nur noch die Augen. Vielleicht starb ich ja von ganz alleine? Ich saß dort stundenlang auf dem Asphalt und fror - und schließlich kam die Nacht!
Der Himmel in der Nacht ist voller Engel und die Erde voller Dämonen - die im Dunkeln wohnen. Und genau durch dieses Dunkel streunte ich, genau genommen durch den Stadtpark. Immer schön im Schatten, denn Dämonen gab es hier so einige. Ein Penner war mir nachgelaufen, als ich ihn gefragt hatte, wo Juri schläft. "Ich bin Juri, bleib doch hier!" hatte er gegrinst. Ich verschwand so schnell ich konnte, meine Klamotten waren schwarz, ein Glück - und der Typ war zu besoffen. Aber dort konnte ich nicht bleiben, denn eine Nutte kam mit ihrem Freier ins Unterholz gestöckelt und die legten sofort los, das volle Programm - es war einfach nur ekelhaft. Ich schlich mich weg, so leise es ging. Schließlich sah ich im Schatten der nächsten Laterne eine Silhouette, die sich nicht regte - konnte ein Busch sein, konnte ein Mensch sein. Es war so gruselig, dass ich von da an alle Laternen vermied. Ich war auf der Suche nach ihm, dem Narbenjungen. Der einzige, der wusste, wie es ist, wenn man sterben will. Ein feiges kleines Mädchen, zu feige für die Gleise, selbst heute, und zu feige, ins Leben zurückzukehren. Ich tanzte im Niemandsland auf einer Klingenspitze und meine Füße taten so weh, meine Seele war eine einzige Wunde. Wo würde einer hier wohl übernachten? Klarer Fall, dort wo es Bäume gab - so kam ich schließlich an das kleine Wäldchen im hinteren Teil des Parks - und mit meinem Handylicht fand ich sogar eine Öffnung. Ich muss eine Stunde durch das Unterholz geirrt sein, bis ich auf einen Trampelpfad kam. Und am Ende des Pfades ein Licht. Ein Feuer, winzig klein. Das musste er sein, ich wusste es einfach. Ich sah ein Zelt und vor dem Zelt saß ein Junge mit Kapuze und ich war so erleichtert, dass ich "ENDLICH!" rief. Da sprang er auf, zog blitzschnell ein Messer und hielt es mir an die Kehle. "Ich hab kein Dope!" flüsterte er. "Aber..ich will auch keines!" stotterte ich. Er trat einen Schritt zurück, zog die Kapuze ab, seine Feuernarbe leuchtete im Licht. "Du?" Ich nickte nur. Er drehte sich weg. "Hau wieder ab!" Ich schüttelte den Kopf. "Warum nicht?" - Ich schrie: "WEIL ICH DANN ÜBER DIE GLEISE MUSS!" - dann sackten mir die Beine weg und ich schluchzte drauflos.
Ich saß im Wald in seinem versteckten Lager mit einer Decke um die Schultern und konnte immer noch nicht aufhören zu weinen. Er hockte neben mir und sah besorgt drein, aber nicht nur meinetwegen . "Kannst du vielleicht bisschen leiser? Das zieht Leute an!" Ich hatte fast vergessen, welchen Typen ich auf dem Herweg durch den Park ausgewichen war und versuchte mich zu beruhigen. Dann bekam ich einen Tee in einer Blechtasse. Die heiße Flüssigkeit tat gut. Hier zu sein tat gut. Einfach nur ein bisschen hier sitzen. Aber so einfach sind die Dinge ja nie. Er fragte schließlich: "Also, was ist passiert?" Ich zeigte ihm die Vampir Fotomontage, es beeindruckte ihn nicht. "Kindisch. Du warst nicht deswegen auf den Gleisen, oder?" Ich fühlte mich unwohl, so als müsste ich was beweisen. "Warum hast du mich überhaupt da runtergeholt?" fragte ich. Er grinste ein bisschen. "Nicht ablenken! Es ist nicht wegen der Schule, oder?" Sofort stiegen die Bilder der letzten Tage in mir hoch. "Letztens hat mich eine sogar verprügelt. Veronique, die Klassen-Queen. Das ist ein Scheiß von einem Kack von einem Furz-Kack-Scheiß von einer Schule! Ich bin dort nur Abschaum!" Er schüttelte den Kopf über meine Ausdrucksweise und lehnte sich zurück an einen Baumstamm. "Es ist nicht die Schule!" Ich war still, denn natürlich hatte er recht. "Weißt du was Kleine.." - "Bin nicht klein!" - "Doch, bist du. Vierzehn, oder?" "Bald fünfzehn!" "Von mir aus. Mit Fünfzehn, da sehen die Dinge manchmal übel aus, aber das kommt dir nur so vor. Weil du die richtig schlimmen Dinge noch gar nicht kennst. Aber sieh dich nur mal um: Deine Eltern, die Polizei, Freunde, wenn man noch so jung ist, bekommt man doch immer Hilfe." Er scheint das zu glauben. Aber ich wusste es besser. "Nein." Er schwieg, aber in der Stille wartete noch eine Frage und ich schluckte und schließlich stellte er sie: "Deine Eltern?" Ich schwieg. "Dein Vater?" Ich schwieg. Und wartete auf die letzte Frage. Aber sie kam nicht. Er war mehr als fair, er hatte es gefunden aber er ließ mir die Wahl. Ich holte tief Luft und dann fing ich an, von meiner Mutter zu erzählen. Und der Eiter brach aus mir hervor wie aus einer Wunde.
"Meine Mum hat sich umgebracht, vor einem Jahr." Ich holte tief Luft: "und ich hab sie gefunden." Juri nahm mich in den Arm und ich fing sofort wieder an zu schluchzen, aber diesmal gab ich mir Mühe, leise zu seine. So saßen wir eine Weile an seinem kleinem Feuer im Wald. Und dann erzählte ich im Schutz der Nacht, wie alles anfing. Als meine Mutter sich veränderte. Stiller wurde, schwächer, mir immer mehr durchgehen ließ. Ich fing an mich zu benehmen wie ein Musterkind, einfach weil sie mir eine Heidenangst einjagte. Irgendwann hörte sie einfach auf zu lachen, von heute auf morgen. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Dann sagte mein Dad zu mir: "Deine Mutter ist krank, sie hat Depressionen." Da war ich zehn. Sie ging zu einer Therapie, die nicht half. Bekam Medikamente, die nicht halfen. Ich übernahm immer mehr im Haushalt, was auch nicht half, aber wenigstens war die Wohnung sauber. Sie hatte keine Kraft mehr dafür. Mein Dad flüchtete sich auf Arbeit. Das Haus wurde immer dunkler. Da spürte ich zum ersten Mal den Kraken, aber ich hatte kein Wort dafür.
"Wenn du da bist, gehts mir besser", sagte meine Mum. Also schlief ich in ihrem Zimmer, manchmal. Hatte keinen Kopf mehr für Freunde und Schule. Ich wurde einsam. Es war unheimlich, als würde ein Geist bei uns wohnen zusätzlich, oder ein Vampir, der alle Freude aus dem Haus saugte. Irgendwann zog ich los und kaufte neue Kleider, schwarz wie aus einer Gruft. Bunt war nicht mehr drin, ich wollte so aussehen, wie ich mich fühlte. Dann kam Mum in eine teure Klinik, und Dad musste einen Teil bezahlen, er machte Überstunden dafür. Ich war ganz allein zuhause. Es war, als wäre die Zeit stehen geblieben, ich war wie ein Zombi. Alles lief automatisch. Als Mum dann nach Monaten endlich wiederkam, war sie fast wieder die Alte. Sie kam durch die Tür rein und strahlte und umarmte uns. Wir feierten wie Könige, ich tanzte den ganzen Tag herum. Dachte, jetzt wird alles gut. Wir planten einen Urlaub am Meer, endlich mal wieder. Ich freute mich drauf wie ein Kaninchen auf die Karotte. Aber das war zu früh gefreut. Denn eines Abends war Mum plötzlich verschwunden.
Ich erzählte und erzählte, diese Nacht schien nie zu enden. Juri sagte kein Wort, hörte nur zu. Von Zeit zu Zeit legte er etwas Feuerholz nach, aber nicht zu viel, um nicht entdeckt zu werden. Ich kam zum dunkelsten Teil meiner Geschichte: Als meine Mum plötzlich verschwunden war, suchten wir die ganze Nacht, und schließlich fand die Polizei sie im Morgengrauen verwirrt auf einer verlassenen Landstraße. Sie hatte einen schweren depressiven Rückfall gehabt. War kaum ansprechbar, als sie nach Hause gebracht wurde, wie eine Hülle ohne Inhalt. Alle meine Träume zerbrachen und es war schlimmer als je zuvor, viel schlimmer. Jetzt fing sie an, sich sogar vor mir zu fürchten. "Geh weg" wimmerte sie, wenn ich nachts an ihrem Bett stand. Als wäre ich ein ekelhaftes Insekt. Eines Tages fand ich unter ihrem Kopfkissen eine Plastiktüte voller Schlaftabletten. Ich durfte Dad nichts davon sagen, sie bettelte darum und ich versprach's. Als ich ihr einmal zusah, wie sie ausnahmsweise das Brot schnitt, und wie sie dabei das Messer ansah, versteckte ich am selben Abend noch alle scharfen Gegenstände aus der Küche. Sie sagte nichts dazu. Da war ich zwölf. Zu dem Zeitpunkt wurde es auch in der Schule immer unerträglicher, ich war ja schon ausgestoßen, aber jetzt witterten die Haie das Blut, und ich konnte mich nicht mehr wehren, und da begann das Mobbing. Den Vampirnamen bekam ich damals, aber ich brauchte eigentlich kein MakeUp mehr für meinen Gothic-Look, die Augenringe waren echt. Immerhin stand ich drei- bis viermal pro Nacht auf, um nachzusehen, ob meine Mum noch lebte. Wenn ich das Haus morgens verließ, hatte ich Angst vor dem Heimkommen, ich rief jede Pause an, und rannte nach der Schule heim. Und dann kam, was kommen musste, ich hatte eigentlich nur noch drauf gewartet. Eines Nachmittags kam ich durch die Tür, und ich hörte die Stille im Haus wie einen Schrei, ich wurde taub und zitterte. Machte die vier Schritte zur Küche. Und da lag sie dann. Das Blut lief bis zur Türschwelle. -- Ich brach ab, und Juri schwieg. Aber etwas blieb noch zu erzählen, die Sünde. Der Grund, warum ich verdammt war. Die musste er noch hören.
Meine Sünde war die Erleichterung. Dass sie endlich tot war. Dass all die Leiden nun endlich vorüber sein würden. Die Unsicherheit jeden Tag. Aber die Hölle lachte mich aus: Eine Tochter, die beim Tod der Mutter keine Tränen mehr vergießt? Die ist auf ewig verflucht. Verdammt, der Toten zu folgen wie ein Schiffbrüchiger dem Strudel des sinkenden Schiffes. "Es ist doch schon länger her." sagte Juri. "Ja, aber es wurde nicht besser. Nur immer schlimmer." - "Hm. Und warum gerade jetzt?" Die Antwort war leicht "Morgen ist ihr Todestag. Ich wollte es vorher tun." Er nickte, es war einleuchtend für ihn. Darum war ich hier bei ihm. Endlich jemand, der das verstehen konnte. "Du weißt, dass du nichts dafür kannst?" Er fragte es nicht so leer und platt wie alle anderen zuvor. "Das kann man hundertmal wissen, das nutzt ja nichts." sagte ich. Er blieb lange still. Dann sagte er wie zu sich selber: "Nein." In seinen Augen war wieder der Ausdruck von den Bahngleisen, ein sterbendes Tier. Ich hatte es gesehen und nur mich darin gesehen. Doch nun war etwas anders. Ich hatte mich komplett leer geredet, alles war raus, was nur raus konnte. Und plötzlich war da Platz, und in der Leere entstand ein Gefühl, und aus dem Gefühl eine Frage. "Was ist dir passiert? Warst du deswegen auf den Gleisen?" Ich zeigte auf die Narbe, und fühlte, dass er sein eigenes Monster hatte. Zum ersten Mal hatte ich Mitleid mit jemand anderem außer mir. Er drehte sein Gesicht zu mir, der rote Stern seiner Narbe leuchtete im Feuerschein. Er lächelte. "Das hier? So eitel bin ich nicht!" Ich ließ nicht locker. "Was dann?" Aber der Ausdruck verschwand, er verschloss sich wieder und schüttelte den Kopf: "Ich finde, eine traurige Geschichte reicht für so eine Nacht." Er gab mir seinen Schlafsack und ich machte es mir bequem. Ich war todmüde, merkte das erst jetzt. Aber als ich schon fast weg war, stand er auf und ging zum Pfad. Ich war sofort wieder wach: "Wo gehst du hin?" - "Nicht weit." Ich glaubte ihm kein Wort und war in einer Sekunde auf den Beinen. "Wenn du zu den Gleisen gehst, dann geh ich auch!" rief ich. Und da muss etwas bei ihm gerissen sein, denn er kam auf mich zu und packte mich an den Armen.
Ich schrie auf wegen meiner Wunden und er ließ mich sofort los - nicht wie mein Dad - aber er zischte mich an: "Du gehst NICHT zum Bahndamm!" Ich griff demonstrativ meine Tasche und hing sie über, hob das Kinn. "Eine Nacht hab ich noch!" "Nein, auf gar keinen Fall! Du gehst da nicht hin." - "Warum nicht?" - "Weil...du einfach nicht darfst." - "Ach, und DU darfst, ja?" So standen wir voreinander. Aber ich war diesmal keinen einzigen Schritt zurückgewichen. Anders als die Nacht zuvor auf den Gleisen. Ich hatte ihm alles gesagt, mein Geheimnis, er trug es jetzt - er dürfte mich nicht zurücklassen. Dazu hatte er einfach kein Recht. Ich konnte sehen, wie er mit sich rang. Und dann sah er mich plötzlich an und in seinen Augen öffnete sich ein ganz klein wenig das Tor zu seinem Inneren. Und JETZT machte ich doch einen Schritt zurück. Denn dort drinnen war alles pechschwarz. Wie ein Tunnel ins nirgendwo. Das Tor ging wieder zu, aber es war jetzt eingebrannt in meinem Kopf. Dann sprach er ganz ruhig: "Hör mir jetzt gut zu: Du versprichst mir, dass du da nicht hingehst." Er zögerte. "Bitte! Und ich...ich verspreche Dir, ich geh da auch nicht hin. Für eine Woche, ok?"
Ich hatte einen Kloß im Hals. Denn eben hatte ich etwas verstanden: Er verlangte eine Menge, aber sein Preis war noch viel höher. Was immer da in ihm schlummerte, es war ungeheuerlich, unerträglich. Und doch wollte er es eine Woche länger tragen, mir zuliebe. Ich holte tief Luft und nickte . "Eine Woche." Es dauerte eine Weile, dann lächelt er schwach und legt mir kurz die Hand auf die Schulter. Wie ein Bruder. Ich bekam feuchte Augen, mir wars egal.
Dann löschte er das Feuer und wandte sich zum Pfad. "Ich wollte nur 'ne Runde drehen, falls irgendwelche Idioten unterwegs sind." -"Geh einfach zu meiner Schule. Da wimmelts nur so!" - "Du solltest auf meine Schule gehen. Da gehts nicht so zu." Ich legte mich wieder hin und murmelte schläfrig. "Wo warst du denn?" Ich hörte es kaum mehr, hatte mich in den dicken Schlafsack eingekuschelt. "Im Albert Schweitzer, am Stadtrand." Vielleicht sollte ich da eines Tages wirklich hin, dachte ich noch. Und wusste nicht, dass es nur noch Stunden dauern würde.
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