Tag Acht - Der längste Tag

Wind zerzauste mir die Haare - ich hatte heute kein Haarspray genommen, seit dem Überfall war der Geruch für mich unerträglich. Der Tag begann mit grauen Wolken und so würde es wohl bleiben, aber ich war bereit: Ich hatte meine Wut wie einen Patronengurt übergestreift, heute war ich ein Orca. Mit einem gebrochenen Herzen, aber spitzen Zähnen, ich hatte noch eine Mission zu erfüllen. Das hielt mich aufrecht. Nur merkwürdigerweise fehlte diesmal mein Empfangskommitee. Am Schultor blieb alles ruhig. Auch auf dem Hof behandelten mich die aus meiner Klasse wie Luft. Vermutlich steckte ihnen noch die Begegnung mit Juri in den Knochen. Wie mir ja auch. Oder sie hatten einfach Schiss, noch mal zur Polizei zu müssen. Ich genoss die Ruhe - dabei war es nur die Ruhe vor dem Sturm. Dann, auf dem Gang zum Treppenhaus, rief mich jemand von hinten. "Hey Lucy!" Marlon, auch das noch! Auf den hatte ich nun überhaupt kein Bock, nach seinem Rückzieher am Hintereingang, als ich fertig gemacht worden war. Jedenfalls beinahe, wenn Juri nicht gewesen wäre. Ich bog wortlos ab, aber er kam mir nach. "Lucy, warte doch mal." - "Hau ab." Ich ging bewusst Richtung Lehrerzimmer, um ihn loszuwerden. "Das ist nicht fair, Lucy. Warte doch. Du weißt nicht, was gestern war!" Ich ging schneller, aber er überholt mich und stellt sich mir in den Weg. "Und du weißt nichts über diesen Typen!" Das war zuviel und ich öffnete die Tore zur Hölle: "Was für eine VERDAMMTE KACKE!" Er wich hastig einen Schritt zurück.

"Du feiger Schlappschwanz! Ich weiß nix? Oh doch, ich weiß zum Beispiel, dass Du gestern Däumchen gedreht hast. War's lustig, die Vorstellung am Hintertor, ja?" - "Nein, Lucy, lass mich doch.." Ich unterbrach ihn: "Ich weiß ALLES von Juri, stell dir vor! Er ist wenigstens kein Feigling." Bei Juris Namen bekam Marlon wieder dieses Glitzern im Auge. Ich setzte noch einen drauf und schubste ihn provozierend. "Ein Feigling wie du!" - "Hör auf!", zischte er. - "Na los, du Schlappschwanz. Willst du mir auch ein Messer an die Kehle halten, ja?" Schüler drehten sich nach uns um. "Sei sofort still!" Er war kreidebleich, aber ich konnte nicht mehr aufhören. "Du hast mir gar nichts zu sagen. Fälscht die eigenen Noten und macht auf groß. Lass mich bloß in Ruhe!" Marlons Lippen wurden schmal und er richtet drohend einen Finger auf mich: "Wehe, du erzählst irgendjemandem was, ich schwör dir..." Er flüsterte heiser, aber in dem Augenblick kam Lehrer Michel von hinten, wir hatten ihn nicht kommen sehen. "Lucy? Was ist denn jetzt schon wieder?" Er blickte von einem zum anderen. "Naja, das klären wir später. Ähm - Marlon, kommst du mal bitte mit?" Ich war verdutzt. Wieso denn Marlon und nicht ich? Aber dann fiel mir ein, dass wir uns ja schon mal hier getroffen hatten, und er auch zum Direktor musst. Er hatte ja auch Probleme mit der Schule. Und heute würden sie über ihn hereinbrechen wie das Unwetter draußen, dass sich gerade ankündigte - aber das erfuhr ich erst später. Ich hätte sonst anders geredet , hätte mehr verstanden. Jetzt jedenfalls ging er ganz nah an mir vorbei und zwischte zwischen den Zähnen hervor: "Du weißt NICHT alles von Juri! Ich war auf seiner Schule!"

Ich saß in der zweiten Pause. Die Wolken waren noch dunkler geworden, aber trotzdem spielten einige fröhlich Kaninchenball. Das Spiel hatte Andi eingeführt, er war auch mittendrin dabei. Der Ball war ein kleiner Scherzartikel, ziemlich makaber, ein Ball mit zwei Kaninchenohren, und wenn man ihn trat, dann quiekte er aus eingebauten Lautsprechern. Schräger Humor, wer sich sowas ausgedacht hatte. Ich saß auf der Treppe und sah zu, meine Lieblingsbeschäftigung. Man lernt viel mehr über Menschen, wenn man einfach mal hinschaut. Heute verstand ich, warum Vera mich in Ruhe ließ, sie hatte andere Sorgen. Sie blickte nämlich auch unentwegt zu Andi hin - aber er nicht zu ihr. Sieh an! Er hatte ihr die feige Flucht also auch nicht verziehen - sie war nämlich vorgestern abgehauen, als Rektor Koblenz kam, und Andi die Erklärungen überlassen. Das fand der wohl nicht so toll. Ich konnte ihn verstehen. Endlich piepte mein Handy, Kara schrieb wegen Juri. 'Wie - er ist weg?' - Ich schrieb zurück: 'Ich glaub, wir haben es total verbockt! Alle beide.' Ich konnte es kaum tippen, es schien so endgültig, wenn man es aufschrieb - Ihre Antwort kam sofort: 'Au Backe! Wie wär's heut nachmittag bei mir? Marshmallows mampfen und über Jungs aufregen?' Ich musste lächeln. Daran, dass ich jetzt eine Freundin hatte, musste ich mich wirklich erst gewöhnen. Allein die Aussicht auf den Nachmittag nahm mir etwas von dem Druck. Ach liebe Kara!

Da landete das Kaninchen in meinem Schoß, ich erschrak. Andi kam zu mir - ein kleiner Augenblick der Unsicherheit, ich hatte meine Wut sofort griffbereit - Orca-Modus. Aber dann sagte er nur: "Sorry." und ich warf ihm das Quälmich-Tier wortlos wieder zu. Ok, Waffenstillstand also, das war mir recht. 'Bin dabei!' tippte ich an Kara zurück. Oh ja, ich hätte echt was zu erzählen! Und ich musste über einige Dinge nachdenken, besonders über Marlons letzten Satz. Dass er auf Juris Schule war, und ihn kannte. Aber WAS wusste er, das ich nicht wusste? Ich sah auf, als ein Polizist am Eingang erschien. Den kannte ich, Wachtmeister Tönges, das war doch Marlons Papa, gings da vielleicht um ihn? Oder um mich? Ich wollte mich schon verdrücken, aber er sah nicht rechts und links und lief an mir vorbei ins Gebäude. Vera sah zu mir und formte mit dem Mund die Worte: "Was ist los?" Aha, auch hier war ich nicht mehr ein Freak, ich wurde gefragt. Aber ich zuckte nur die Schultern. Wir waren alle ratlos, dabei rauschte die Lawine schon um uns herum, Stein um Stein, und diese Pause war nur die letzte Ruhe vor dem Sturm.  

Ich dachte immer noch über Marlons letzten Satz nach. Was wusste er von Juri, das ich nicht wusste? Vielleicht sollte ich nochmal mit ihm sprechen? Obwohl ich eigentlich immer noch sauer war. Ich wusste auch viel zu wenig von ihm selber. Er hatte mir ja tatsächlich geholfen, mit dem Hintereingang. Nur nicht dann, als es drauf angekommen war. Ich nahm mir das trotzdem vor, gleich morgen...aber dazu sollte es nie mehr kommen, denn heute war der letzte Tag meiner Geschichte. Und der längste!

Eine junge Lehrerin mit asiatischen Augen und nettem Lächeln kam statt Lehrer Michel in die Klasse. "Ich bin Referendarin Cho, Euer Mathe-Lehrer hat eine wichtige Sitzung, und so..lernen wir uns kennen." Sie teilte gleich ein paar Arbeitsblätter aus. Darauf war ein Labyrinth gezeichnet und ganz unten saßen da zwei Ameisen drin. In der Mitte aber hockte ein fettes Monster mit sechs Beinen und mächtigen Greifzangen. Oben gab es einen Ausgang. Das Labyrinth war kompliziert. So etwas hatten wir noch nie in Mathe bekommen. "Das ist ein altes Rätsel aus China: Die beiden Ameisen sind in das Loch des Ameisenlöwen gestürzt. Er hat seine Falle direkt unter ihrer Ameisenstraße gegraben. Jetzt sitzt er da und wartet auf sein Mittagessen. Die Ameisen müssen dringend einen Weg hinaus finden, um ihr Volk zu warnen. Wenn sie es nicht schaffen, werden viele andere sterben. Aber wenn eine Ameise ihm zu nahe kommt, wird er sie packen und verspeisen. Sucht nach einer Lösung!" 

Wir fingen alle an, mit Bleistift Linien zu zeichnen - es musste doch einen geheimen Weg an ihm vorbei geben? Irgendwo um ihn herum. Ich fand nur keinen. Nach und nach fingen die anderen an, ebenfalls zu murmeln - ich war also nicht die Einzige. Vera sprach es als Erste aus, wie immer: "Sind sie sicher, dass da kein Fehler ist? Da gibt es doch gar keine Lösung." Frau Cho hob nur vage die Hand. "Vielleicht findest halt DU keine!", lästerte Anna - ich hatte noch nie erlebt, dass jemand einen Witz auf Veras Kosten gemacht hätte - oder dass Vera sich nicht gewehrt hätte. Wow, ihr Tron wackelte also! Tja, wer ganz oben sitzt, fällt auch tief. Jeder konnte in unserer Klasse Alphatier werden - oder Opfer. Wir waren alle gefangen, wie die beiden Ameisen. Und plötzlich hatte ich eine Lösung für das Labyrinth, obwohl es natürlich Unsinn war: "Eine muss sich opfern!" Es wurde still in der Klasse. Lehrerin Cho sah mich an und ich spürte: Sie sah eine Menge. Ich wurde rot, gleich würden alle lachen. Wie immer. Aber heute war nichts mehr wie immer. Und Frau Cho klatschte in die Hände: "Bravo!"

"Eine Ameise muss sterben!" hatte ich behauptet. "Sehr gut, Lucy. Warum ist das so?", fragte die junge Vertretungslehrerin. "Na, während der Ameisenlöwe die eine verspeist, kann die andere an ihm vorbei und so ihr Volk warnen." - "Aber das ist doch total bescheuert!", regte sich Annika auf. "Das hat doch nichts mit Mathe zu tun?" Frau Cho lächelt freundlich. "Ich gebe gar kein Mathe, sondern Philosophie." Jetzt schaltete sich Vera noch mal ein: "Was sollen wir denn daraus lernen, bitte? Dass manche Leute sich umbringen lassen sollen?" - "Da fallen mir gleich ein paar ein!" Das war Andi, er hatte zu seiner früheren Form zurückgefunden. "Polizisten, die setzen doch auch ihr Leben auf's Spiel.", überlegt jemand. "Und Soldaten!" Die Diskussion ging jetzt hin und her. Du liebe Güte! Frau Cho hatte in wenigen Minuten geschafft, was andere Lehrer selbst nach Wochen nicht gelungen war - zum ersten Mal war es spannend, jedenfalls für die anderen. Sie erklärte, dass Ameisen so etwas wirklich tun, genau wie Bienen - sich für ihr Volk opfern. Ich hatte mich schon wieder ausgeklinkt, denn ich hatte den Tod ja schon kennengelernt, der Schrecken war fort. Während die anderen darüber stritten, wann man sein Leben einsetzen sollte - und wofür - konnte ich an nichts anderes mehr denken als an die zweite Ameise. Wie es der wohl gehen musste? Nachdem ihr Freund für sie gestorben war. Auf einmal stand der Alptraum wieder vor mir: Der Krake unter mir im Dunkeln und der weiße Wal, der oben im Licht auf mich gewartet hatte. In der Nacht war ich zu geschockt gewesen, um es ganz zu begreifen. Aber jetzt wurde mir klar: Er hatte da nicht nur auf mich gewartet. Und er hatte auch nicht den Kraken übersehen. Er hatte ihn abgelenkt, um mich zu retten. Ich bekam eine Gänsehaut und wusste nur eines: ICH wollte in meinem ganzen Leben auf jeden Fall eines NIEMALS sein: Die zweite Ameise. Das erklärt vielleicht ein wenig die Dinge, die ich heute noch tun sollte. "Alles in Ordnung?" Ich fuhr aus meinen Gedanken auf, Lehrerin Cho sah zu mir. "Ähm ja, geht schon. Darf ich vielleicht ein Fenster öffnen?" Sie nickte und ich ging zur Seite. Brauchte einfach Luft, irgendetwas machte mich ganz kribbelig. Unter mir lag der leere Schulhof, bei den dichten Wolken war der Boden richtig dunkelgrau. Darum erkannte ich nicht gleich den einzelnen Jungen, der da stand. Und den ich selbst von hier oben wiedererkannte: Das war doch Marlon? Er hatte eine lange Sporttasche dabei und holte gerade etwas daraus hervor. Und dann wurde mir eiskalt. Das konnte doch nicht sein? Ich sah genauer hin, aber es war eindeutig. Marlon hielt da ein Gewehr in den Händen. Und sah zu mir hoch.

"Lucy, was ist denn?" Frau Cho kam durch die Klasse zu mir. Ich dreht mich langsam um.

"Da unten...da ist einer mit 'nem Gewehr.", stotterte ich. Sofort sprang Andi auf und sah ebenfalls nach draußen. "Den kenn ich - den kenn ich...der heißt Marlon. Vom Jahrgang drüber." Andi hob die Arme: "SCHEIßE, DER MACHT 'N AMOKLAUF!" Einige Schüler sprangen auf, während andere zur Tür eilten. Frau Cho wollte sie aufhalten: "Halt, halt - ihr dürft nicht..."

In dem Moment wurde alles wie Sirup, fast wie damals an den Gleisen. Denn Marlon schwenkte das Gewehr zu mir hoch. Ich sah, dass er mich sah, aber ich konnte mich nicht rühren, nicht mal atmen. Die Zeit blieb fast stehen. Bis der Schuss fiel und alles explodierte. Das Oberlicht über mir ging in tausend Stücke und das Glas regnete auf uns alle herab. Er hatte tatsächlich auf mich geschossen! Ab dann war nur alles noch rote Panik um mich herum. Alle kreischten aus Leibeskräften. Ich duckte mich zu Boden und schützte meinen Kopf mit den Armen. Offenbar war mir nichts passiert. Jeder versuchte, wild zu fliehen, sie rempelten sich gegenseitig an, warfen Stühle und Tische um, einige fielen hin, schnitten sich an den Glasscherben, der Boden, die Tische, überall waren jetzt Blutspritzer. Ich war unter dem Fenster an die Wand gepresst, und sah alles wie durch eine Glasscheibe im Zoo. Irgendwann waren alle draußen, Frau Cho ihnen hinterher. Ich richtete mich vorsichtig auf und spickelte über den Fensterrand. Der Pausenhof war jetzt leer, also war Marlon wohl im Gebäude. Wie bescheuert musste man sein, auf die Gänge zu fliehen? Selbst ich hatte mal gehört, dass in den Klassenräumen der sicherste Ort war. Aber nicht, wenn man alleine war und keinen Schlüssel hatte. Also lief ich den anderen hinterher auf den Gang. Draußen fiel ein weiterer Schuss - eindeutig im Gebäude. Und ich sah meine Mitschüler am Treppenhaus stehenbleiben, denn der Schuss war von unten gekommen. Frau Cho hatte sie schon eingeholt, sie war erstaunlich ruhig. "Schhhh - beruhigt euch. Wir brauchen einen sicheren Ort." Jetzt kam ich dazu: "Frau Cho? Das Archiv - das hat Türen aus Metall." Sie nickte. "Ja gut, geh du vor." Die anderen folgten mir, ich führt sie durch die Gänge zurück und bis zum Aufgang in den Speicherbereich. Als wir vor den Metalltüren ankamen, zögern einige und begannen zu flüstern. Klar, von hier gibt es keinen Ausweg mehr. Vera war völlig aufgelöst und stotterte. "W..was sollen wir bloß machen?" Ich drehte mich genervt um und zischt: "Vor allem die Klappe halten!" Sie sah mich groß an. Aber Andi stand neben ihr und nickte. "Sie hat recht." 

Was für ein Tag. Oben war unten. Himmel war Hölle. Und Lucy hatte plötzlich das Sagen. Ich dachte nicht groß drüber nach. Aber als ich ihnen die Tür zu meinem letzten Rückzugsort öffnete, fühlte ich doch sowas wie Bedauern. Hier würde ich nie wieder hingehen können. Ein dummer Gedanke, und es war sowieso egal. Mein längster Tag hatte begonnen. Aber es würde auch mein letzter an dieser Schule sein. Denn was später hier geschehen sollte, hinterließ für mich Geister in den Gängen - Geister, die meinen Namen rufen würden, sollte ich es je wagen, zurückzukehren. 

  "Achtung, Achtung! Eine wichtige Durchsage. Wir haben eine Notsituation: In den Gängen unserer Schule befindet sich eine Person mit einer Schusswaffe. Ich wiederhole, in den Gängen befindet sich eine Person mit einer Schusswaffe. Alle Lehrer haben umgehend ihre Räume abzuschließen. Bleibt unbedingt in den Räumen, und geht von Fenstern und Türen weg. Die Polizei wird bald hier sein. Dies ist keine Übung. Alle gehen in ihre Klassen und schließen die Türen ab." Direktor Konstanz Stimme zitterte, sogar aus dem knarzigen Lautsprecher konnten wir es heraushören. Und wir hörten weitere Schüsse, zum Glück noch relativ weit weg, irgendwo im Erdgeschoss vermutlich. Das alles war bitterer Ernst geworden. Und natürlich passiert, bevor sie diese Amoklauf-Übung machen konnten, von der alle geredet hatten. Niemand hatte eine Ahnung, was jetzt richtig oder falsch war. Fast niemand: Als alle ihre Handys herausnahmen, um ihre Eltern anzurufen, schüttelte Frau Cho den Kopf: "STOP! Man kann Euch hören. Ihr müsst flüstern, oder texten." Es wurde ruhig auf dem Speicher. Die Stunde der Wahrheit. Einige weinten, auch einige der Jungen. Besonders Vera schien sich gar nicht beruhigen zu wollen. "Schhht, es wird alles gut. Die Polizei ist sicher gleich da.", Frau Cho gab sich alle Mühe mit ihr. Ich saß auf meiner Matte unter dem ovalen Fenster und dachte an meinen Dad. Aber ich konnte mich nicht durchringen, ihm zu schreiben. So wie ich ihm auch den Abschiedsbrief vor einer Woche nicht geben konnte. Ich müsste ihm ja alles erklären, auch das mit Juri. Er würde es früh genug erfahren, und helfen konnte er ja doch nicht. Da fiel mir jemand ein, eine Person kannte ich, die gewissen Möglichkeiten hatte. Also simste ich Kommissarin Vito an. Sie meldete sich sofort. "Lucy, Ich bin schon da, am Standbild auf dem Hof." Ich stand auf, völlig perplex. Wie konnte sie so schnell gekommen sein? Ich sah vorsichtig durch das Fenster hinab. Hinter der Grafensäule waren ihre dunklen Haare zu sehen. Jetzt rief sie mich an, und fragte: "Wo bist du?" - "Ich bin ganz oben, das runde Fenster." Sie hob den Kopf und winkte mir, das war tatsächlich Vito da unten. Ich war so dermaßen beruhigt, einfach nur durch ihre Nähe. Dann ging sie wieder in Deckung und ich sah neben ihr etwas Dunkles auf dem grauen Boden - eine große Blutlache. NeinneinNEIN! "Lucy, du musst mir helfen!"  

  "Mein Kollege ist angeschossen. Ich muss ihn zurück zum Ausgang bringen. Schnell!" Mir fiel ein Stein vom Herzen. Nicht sie! Sie war unverletzt. Jetzt sah ich auch ein Stück von einem Bein hinter dem Steinsockel. Sie waren zu zweit gekommen. 

"Aber...was machen sie da?" - "Das ist jetzt bitter, ich war wegen der Amoklauf-Übung hier! Lucy, kannst du Videochat einschalten?" - "Klar" - Ihr ernstes Gesicht tauchte auf meinem Bildschirm auf. "Halte es einfach schräg an die Scheibe, so dass ich den Gebäudeflügel links sehen kann, aber bleib unbedingt in Deckung! NUR das Handy hinhalten." Auch das tat ich. "Jetzt langsam schwenken!" Ich drehte es vorsichtig. "Gut, da ist niemand an den Fenstern. Danke." Ich sah am verwackelten Bild, dass sie loslief. Und konnte nicht anders, blickte aus dem Fenster, ganz vorsichtig. Die Sekunden verstrichen, und sie lief so langsam, weil sie ihren Kollegen stützte. Verdammt, lauf schneller. Dann hörte ich mehrere Schüsse. Sie blieb nicht stehen. Und am Hall konnte ich erkennen, dass es hier im Gebäude gewesen war, irgendwo an den Treppen. Sie war nicht unter Beschuss, aber ich war trotzdem fertig mit den Nerven. Schließlich meldete sie sich wieder: "Lucy, das vergess ich dir nie. Sieh mal." Sie drehte das Bild. Ich konnte viele Polizeiwagen erkennen, und dann sogar einen Scharfschützen auf einer Mauer, der sein Gewehr postierte. Es sah aus wie im Krieg. Alle hatten Waffen und Schutzwesten. 

"Es ist bald vorbei, wir müssen nur erst rausfinden, wer bei euch eingedrungen ist, und wie viele." "Oh das weiß ich, das ist nur einer, Marlon." "WAS? Marlon Tönges? Bist du sicher?" - "Und wie! Der hat auf mich geschossen." - Es blieb ein paar Sekunden still, sie schien total geschockt, also machte ich einen Witz. "Aber der ist ne Niete, hat voll vorbeigeschossen!" - Jetzt kam sie ganz nah an die Kamera. "Lucy. Hör gut zu. Marlon ist Landesmeister im Schützenverein. Ich kenn seinen Vater. Marlon schießt besser als wir alle. Du hast wahnsinniges Glück gehabt. Bleibt bitte mucksmäuschenstill, das ist euer bester Schutz. Ist jemand verletzt?" - "Nichts Schlimmes, paar Schnitte von Glasscherben." - "Gut. Das ist gut. Ich tu alles, um euch zu retten! Du bist sehr sehr tapfer." Sie legte auf und ich drehte mich um. Alle standen im Kreis um mich, mit SOLCHEN Augen. "Ähm, das war Kommissarin Vito. Polizei ist da - Hunderte, heftig viel, und Waffen ohne Ende. Sie sagt, es ist bald vorbei." Dass ich eine Kommissarin persönlich kannte, hat wohl den meisten Eindruck gemacht. "Er darf uns nur nicht finden. Einfach nur leise sein!" In dem Augenblick bekam Vera ihren Nervenzusammenbruch, schrie laut auf "ICH MUSS HIER RAUS. Lasst mich raus" Sie trat den Stuhl unter der Türklinke weg und riss die Tür auf. Andi war am schnellsten, packte sie und hielt ihr den Mund zu - leider zu spät. Wir hörten ihren Schrei durch alle Gänge hallen. Es musste in der ganzen Schule zu hören gewesen sein. Von Jedem!"  

Andi und zwei Jungen mussten Vera festhalten, die sich wie in einem Todeskampf wand. Dabei war es nur die pure Ohnmacht, hier gefangen zu sein, die sie gepackt hatte. Es gab mir einen Stich. Ich konnte sie verstehen. Wenn ich sie vor kurzem noch gehasst hatte, für das, was sie mir hinter der Schule angetan hatte - und Andi auch - so war da jetzt irgendwie gar nichts mehr. Ich wollte einfach kein Leiden mehr sehen. Nicht mal ihres. Frau Cho kam und brachte Anna und Annika mit - sie hatte sehr schnell verstanden, wer hier Freunde waren, und trug ihnen auf, Vera fest in den Arm zu nehmen. Das wirkte. Mir gab das meinen zweiten Stich - denn ich hatte niemanden. Selbst hier oben war ich im Grunde allein, immer noch. Da piepte mein Handy. Kara schrieb. "Wo steckst du? Die Marshmallows werden kalt." - Ach Kara, Herzchen, wenn du wüsstest. Ich schrieb: "Das glaubst du jetzt nicht, aber hier ist ein Amoklauf in der Schule." - "Gute Ausrede, muss ich mir merken, hihi." - "Kein Witz. Schalt einfach den Fernseher ein." - Ich ließ ihr Zeit, das würde vermutlich der Schock des Jahrhunderts für sie werden, wir könnten darüber noch 20 Jahre lang quasseln. Eine schöne Vorstellung, sofern ich das hier überlebte. Veras Schrei vorhin war vielleicht unser Todesurteil, wenn Marlon das gehört hatte.

Und dann erstarrten alle im Raum - denn jemand klopfte von außen. Und versuchte, die Klinke zu drücken, aber der Stuhl blockierte. Frau Cho hielt einen Finger an den Mund. In der Stille wurde jedes Geräusch zu einem Schreckmoment. Es war so still wie in einer Wüste - und da hörte ich es: Ganz leise von draußen: Da wimmerte jemand. Keiner rührte sich. Also stand ich auf, es geschah automatisch, und ging zur Tür - sah nochmal zu Frau Cho. Die sah mich nur an, ohne Nicken oder Kopfschütteln. Ich sollte selber entscheiden. Später erklärte sie mir, ich hätte sie bis dahin ja auch gut geführt und diesen Unterschlupf gefunden. Sie wusste einfach, ich würde das Richtige tun. Und ich entschied, zu öffnen. Draußen waren zwei Mädchen, ganz jung, eines mit Kopftuch, die andere mit Wuschelhaaren, vielleicht aus der Sechsten. Die hatten doch eigentlich sonst im Erdgeschoss Unterricht? Beide mit völlig verheulten Augen. Ich winkte sie rein und sie huschten unter meinem Arm hindurch in Sicherheit. Frau Cho nahm sie in Empfang, drückte sie und fragte: "Wollt ihr erzählen, was mit Euch passiert ist?"

Sie konnten kaum sprechen, aber die Wuschelige presste dann doch zwischen ein paar Schluchzern hervor: "Er hat sie umgebracht, ganz bestimmt." Meine Mitschüler sahen sich erschrocken an. Es dauerte eine Weile, bis die Mädchen ihre Geschichte erzählen konnten: Als die ersten Schüsse fielen, waren sie gerade auf dem Rückweg zu ihrer Klasse gewesen, zu fünft. Dann war Marlon mit dem Gewehr aufgetaucht und hatte auf sie geschossen. Und wie irre gelacht dabei. Alle waren wie wild auseinander gerannt. Die beiden zu den Treppen, aber die anderen hatten den Gang zu den Toiletten genommen. Denen ist Marlon hinterher und dann gab es weitere Schüsse. Sie selber sind so weit nach oben geflohen, wie sie nur konnten. Aber alle Klassenzimmer waren abgeschlossen. Niemand hatte ihnen geöffnet. Bis sie zum Speicher kamen. An der Stelle fingen sie wieder an zu weinen:

"Die anderen sind einfach falsch gelaufen. Die sind bestimmt alle tot." Lehrerin Cho ging mit ihnen in den hinteren Bereich, um sie zu beruhigen. Die Geschichte hatte uns alle sehr mitgenommen. Aber mich hatte es vor allem nachdenklich gemacht. Etwas stimmte nicht: Marlon war Meisterschütze - Kommissarin Vito wusste das bestimmt am besten. Wieso aber erschoss er niemanden? Hatte er Skrupel? Nein - ein Junge, der eiskalt mit einer Klinge vor dem Direktorenzimmer eine Couch aufschlitzte , dem traute ich alles zu. Was war es dann? Schoss er absichtlich daneben? Mir fiel ein: Andi hatte doch behauptet, er würde ihn kennen. Ich ging zu ihm rüber: "Andi, ich muss dich was fragen." - "Ähm, wenn du das hinter der Schule meinst.." - "Nein, erzähl mir von Marlon!" Er sah zur Seite und meinte nach kurzem Zögern: "Besser nicht!"

"Woher kennst du Marlon überhaupt?" Andi zögerte immer noch, aber die letzte Stunde hatte alles auf den Kopf gestellt, er konnte mir nicht in die Augen sehen. "Wir haben mal zusammen gespielt, im selben Clan." Ich sah ihn verständnislos an. "Im selben Team - ich mach Call of Duty. Aber der Marlon ist komisch. Spielt gut, aber manchmal...der tickt manchmal aus. Nicht nur im Spiel. Ich kenn da eine Geschichte - aus seiner Klasse, da hat er mit einem Stress gehabt. Oder mit ein paar." - "Kommt mir bekannt vor." Das brachte Andi kurz aus dem Konzept, aber ich winkte ab. "Ähm, also, der hat gewartet, nach der Schule, und als alle raus kamen, und es jeder mitkriegen konnte - außer den Lehrern - da ist er zu dem Typen hin. Hat ihm einfach so eine Rasierklinge übers Gesicht gezogen. Hat extra gewartet. Der andere hat geblutet wie ein Schwein, die Backe war offen. Haben sie mir erzählt. Dann war wohl Ruhe. Naja, ich sags nur ungern, aber der hat einen Schaden." 

Ich überlegte. Marlon hatte hinter der Schule ein Messer mit einem Kraken als Knauf dabei gehabt. Das hatte eine Bedeutung, so ein Messer, das war zum Eindruck machen. Und die Couch vor dem Rektorzimmer - damit wollte er mich beeindrucken. Hatte auch ziemlich gut geklappt. Und jetzt? Nach unserem Streit? Er hatte mich vom Hof aus erkannt und unglaublich schnell mit dem Gewehr gezielt. Ohne zu Zögern - aber dann...es hatte vielleicht einen Atemzug gedauert, da war noch etwas gewesen, eine kleine Bewegung. Der Lauf war ganz schwach ein Stück hoch gegangen, zum Oberlicht. Und dann kapierte ich und holte tief Luft. Es war ihm zu wenig Show gewesen. Er wollte es richtig zelebrieren, aus der Nähe - am besten mit vielen Zuschauern, so heftig war es: Er hatte absichtlich vorbei geschossen. Zu weit weg, um mich zittern zu sehen. Das wollte er sich wohl nicht entgehen lassen.

Ich ging zu den beiden kleinen Mädchen und hockte mich vor sie hin: "Der Junge, der auf Euch geschossen hat...ich kenn den. Der wollte euch nicht erschießen." Beide machten große Augen. "Woher weißt du das?" - "Weil der euch getroffen hätte. Euren Freundinnen geht's bestimmt gut, die sind ihm total egal. Der will jemand anderen umbringen." Die Mädchen brauchten ein paar Sekunden, um das zu verdauen. Die mit dem Kopftuch hatte sich zuerst gefasst und fragte: "Wen denn?" - "Mich."

"Hast du denn keine Angst zu sterben?" Das Mädchen mit den Wuschelhaaren sah mich groß an, weil ich so ruhig war. Ich zuckte die Schultern. Den Black Doctor kannte ich halt inzwischen gut genug. Er hatte schon meiner Mum geholfen. Und beinahe auch mir. Ich hatte keine Angst vor ihm. Ich hatte nur Angst, zu früh zu sterben.  Ich war die einzige, die Juri die Botschaft seiner Mutter überbringen konnte. Das musste ich noch tun. Warum hatte er denn kein Handy, verdammt? Ich rief noch einmal bei Kommissarin Vito an. “Lucy? Ein Problem?” - Ha, sie hatte mich abgespeichert. “Ja, ich bins, ähm vielleicht, ich hab was rausgefunden. Der Marlon, also es sieht so aus, dass er es auf mich abgesehen hat.” - “Woher weißt du das. Ist er in Eurer Nähe?” - “Nein glaub nicht, aber..” in dem Augenblick hörte ich jemanden brüllen, sehr weit weg, aber eindeutig in der Schule. Es wurde mucksmäuschenstill auf dem Speicher, so dass ich beim zweiten Mal verstehen konnte, was die Stimme rief: “MARLON!” tönte es von unten. Immer wieder. “MAAAARLON DU FEIGE RATTE!” Und diese Stimme kannte ich. “Frau Vito, oh Gott, ist Juri hier? Ist das Juri?” Sie zögerte. Ich sah genau in die Kamera: “Sagen sie die Wahrheit! Vito, ich war auch ehrlich, immer, bitte, ist er?” - “Ja Lucy, er ist reingeschlüpft, als ich vorhin meinen Kollegen weggeschleppt habe. Lucy, mach keinen Unsinn!” - Ich war aufgesprungen, Stuhl weg, Tür auf, “Sorry” an alle gerufen, durch die Tür und raus Richtung Treppenhaus. Nicht die zweite Ameise werden, bitte nicht!! Oh Gott, lass das nicht zu! Ich wusste, was Juri versuchte. Er hatte das kapiert, dass Marlon hinter mir her war, natürlich. Er war ja nicht blöd. Und kannte Marlon von früher. Hatte seinen Spruch hinter der Schule mitbekommen. Marlon hatte vor Eifersucht geglüht - viel zu spät hatte ich das verstanden. Und jetzt wollte Juri ihn ablenken. Einen Typen, der Meisterschütze war. Es gab nur eines: ICH musste Juri vorher finden, und mit ihm abhauen. Schneller sein als Marlon. Ich rannte wie verrückt, sprang die Treppen in Riesensätzen herunter, als plötzlich eine andere Stimme zu hören war: “Lucy?” Oh Gott nein - mein Dad. Am Handy, das war noch an. Ich blieb stehen und sah sein Gesicht auf dem Bildschirm. Vito musste ihn in der Nähe gehabt haben.

"Lucy, Kind, was tust du? Geh in Sicherheit, schnell." Er sah furchtbar aus - ich hatte ihn nie so gesehen. So voller Angst. Angst um seine Tochter - ach Dad, lieber Daddy. "Ich kann nicht, Dad." Mir kullerten die Tränen raus wie Saft aus ner Obstpresse. "Lucy, wenn Du...wenn Du weiter läufst, kannst Du sterben." - "Nein, Dad! Wenn ich Juri im Stich lasse - das ist schlimmer als sterben. Verstehst Du? Er hat mir das Leben gerettet." - "Aber Lucy..!" - "Bitte Papa, ich muss das tun. Wenn ich da draußen wär' - und du könntest mich retten...Du würdest auch sofort kommen, völlig egal wie gefährlich, oder?" Dad hob die Arme. Er hatte Handschellen. "Ach Kleine! Ich war schon unterwegs...Aber sie haben mich aufgehalten." - "Ich muss das tun!" Er schloss kurz die Augen. Und flüsterte: "Ok, Kleine, ok. Pass...pass bitte auf Dich auf. Ich hab dich lieb."

"Mach ich, Dad. Ich dich auch!" - Ich hatte zu meinem Dad gefunden. So spät, so spät - aber nicht ZU spät. Jetzt durfte ich auch Juri nicht zu spät finden. Die Worte seiner Mutter mussten noch zu ihm. Danach war egal. Ich rannte um eine Ecke, den Hauptgang lang, an zig Klassenzimmern vorbei, ich hörte ihn Rufen, und bog zur Mittelkreuzung ab - wo alle vier Gänge sich trafen. Und da sah ich ihn stehen, endlich!!! Ich rief laut: "JURIIIII!" Er drehte sich zu mir um - und dann fiel ein Schuss. 

Juri taumelte zurück. Sein Klappmesser fiel klackernd zu Boden. Ich bin noch nie so schnell gerannt. Hab noch nie so laut geschrien. Noch ein Schuss. Ich sah Juri in die Knie gehen. Alles war wie in einem Tunnel, mein Kopf hatte sich verabschiedet. Ich jagte aus dem Gang und dann war ich bei ihm. Vor ihm. Breitete die Arme aus, um ihn zu verdecken. Sah in den anderen Gang - aber das war nicht Marlon, der da geschossen hatte. Das war ein Polizist. Ich erkannte ihn, das war doch der von der ersten Nacht! Der ja auch Marlons Vater war, dieser Tönges. "Weg von dem Kerl, Mädchen.", schrie er ,eine Pistole im Anschlag. "Das ist ein Amokläufer!" - "SIE IDIOT!" brüllte ich. "Marlon ist der Amokläufer! MARLON!" Der Polizist schüttelte den Kopf, machte einen Schritt auf mich zu. "Was redest du? Weg, geh zur Seite!"

Hinter mir versuchte Juri, wieder auf die Beine zu kommen. Aber eine Kugel steckt in seinem Oberschenkel, er knickt weg. "BULLSHIT! Es ist Marlon! MARLON HAT AUF MICH GESCHOSSEN." - "Was?" Der Polizist ließ die Waffe sinken und kam noch näher. Da hörten wir alle eine leise Stimme. "Sie hat recht, Dad!" Und da stand Marlon, hinter seinem Vater - Sein Gewehr hatte er umgeschnallt, in der Hand hielt er jetzt eine kleine Pistole. "Dein Sohn ist ein Killer!" - "Marlon?", stotterte sein Dad. "Nein - ich glaub's nicht." Ich nutzte den Augenblick, um Juri hinter die Ecke zum nächsten Gang zu ziehen, außer Reichweite. Kauerte mich neben ihn, sah auf sein blutendes Bein und tastet mit der Hand nach der Wunde an der Schulter. Er trug unter dem offenen Hemd kein T-Shirt. Das Blut floß ihm über die nackte Haut. "Hallo Kleine", flüstert er. "Hallo Großer!" ich strich ihm über die Wange. Er lächelte schwach. "Großer, dummer Junge! Ich muss dir noch was sagen von deiner Mum. Jetzt sofort!" Er blickte mich traurig an. Dann lehnte er den Kopf an die Wand und schloss die Augen. "Ok." Also beugte ich mich ganz nah zu ihm. Meine Lippen an sein Ohr. Und dann sagte ich es ihm. 

Ich flüsterte Juri die Botschaft seiner Mutter ins Ohr, endlich: "Also, ich soll dir sagen: Juri, mein Junge, mein lieber Junge. Ich werde dir immer und alles verzeihen. Immer und alles. Wenn du nur zu mir zurück kommst. Bitte." Juri schluckte. "Das hat sie wirklich gesagt?" - "Ja. Wort für Wort." - "Ach Lucy." Er strich mir mit dem Handrücken über die Wange. Noch etwas musste ich erledigen. Ich beugte mich vor und küsste ihn endlich auf seine Narbe. Nur ein kleiner Kuss - aber vielleicht unser letzter. Juri ließ es zu. Dann vernahm ich wieder die Stimmen. Marlons Dad jammerte: "Aber warum denn? Marlon? Ist es wegen der Noten? Du hättest doch nicht lügen müssen." Da brach Marlon in ein irres Lachen aus. "NICHT? Hahaha, das ist echt witzig! Ausgerechnet DU erzählst mir was vom Lügen? DU VERDAMMTER HEUCHLER! Jetzt weiß wenigstens jeder, was ich bin! Ein Killer!" - "Sei still!" - "Killer, Killer, Killer!" Sein Vater wimmerte. "Nein!" Dann wurde es ruhig - und nach einer Weile hörte ich Marlons Stimme ganz leise: "Ich träum jede Nacht davon!" - "Sei still!" - "JEDE Nacht, Dad. Von der Abi-Feier. Von der Autofahrt. Von dem Augenblick, als ich den Max mit gebrochenem Genick gesehen habe. Direkt neben mir!"

Juri öffnete die Augen weit und sah mich an. Und ich begriff - und begriff es doch nur halb: Die Nacht von Juris Unfall - bei dem sein Bruder Max gestorben war. Marlon hatte auch im Auto gesessen? Nicht nur Max? Ja klar, das passte, Marlon war auch auf dem Albert-Schweitzer-Gymnasium gewesen. Daher kannten sie sich. Aber was hatte sein Dad mit dem Unfall zu tun? Der wiederholte immer nur: "Sei doch still!" - "Jede Nacht, Dad! Wie du die Autotür aufgerissen hast. Wie du mich vom Fahrersitz gezogen hast."

"SEI STILL!" - "Und wie du dann IHN auf meinen Platz gesetzt hast. Weil der so besoffen war." - "Marlon!!!" Polizist Tönges war fast nicht mehr zu verstehen, so sehr krächzte er. "Aber der Killer war ICH!". Mein Kopf setzte kurz aus.

Nein.

Nein.

Das konnte doch nicht sein, dachte ich.

Juri packte meine Hand. Er zitterte. "Oh Gott. Oh Gott!" Sein Atem ging keuchend: "Ich war es nicht. Lucy, oh Gott." Er lachte und schluchzte gleichzeitig. "Ich war es nicht!" - "Ja, ich hör's, ich hör's. Oh Juri!" - "Mein Gott, es ist so ...so unbeschreiblich!" - Er war unschuldig. All die Qualen, die Nacht, als er sich umbringen wollte deswegen. Und mich getroffen hatte - all das, diese unglaubliche Lüge hatte es ihm eingebrockt. Und jetzt erfuhr er die Wahrheit: Marlon, minderjährig und besoffen, hatte sich an's Steuer gesetzt. Er war gefahren in dieser Nacht. Hatte den Unfall verursacht. Juris Bruder getötet. Juri war unschuldig. Unschuldig!!! Ich fuhr ihm durch die Haare, über sein Gesicht, drückt seine Hand und konnte mich gar nicht satt sehen, so sehr strahlten seine Augen. Und da wusste ich, dass wir frei waren, alle beide, endlich. Wusste, dass wir jetzt gehen konnten, wenn es denn so sein sollte. Es war nicht mehr wichtig. Alles war gut. 

"Ich hab das nur für dich gemacht, Junge.", jammerte Marlons Vater, aber der hatte nur Spott: "Ach hör doch auf, Dad! Das war nur für dich selbst! Ein Polizist, der darf doch nicht SO einen Sohn haben. Was für eine Enttäuschung für dich! Ein Killer. Ich führ's dir gerne gleich mal vor. Wenns dir nicht passt, erschieß mich doch!" Ich hörte hinter der Ecke seine Schritte näherkommen. "Lucy-y-y-y." säuselte er. "Ich hab ein Geschenk für dich! Hatte ich doch versprochen." Ich sah, wie Juri aufstehen wollte, aber sein Bein und seine Schulter mussten höllisch weh tun. "Ich geh zuerst.", presste er hervor. Oh Mann, er wollte Marlon ablenken. Damit ich vielleicht entkommen konnte. Aber das war natürlich Unsinn. Also stand ich auf und reichte ihm die Hand. "Nein! Weißt du nicht mehr? Wenn du gehst, geh ich auch." Er sah mich an, den Blick vergess ich nie wieder, und dann nickte er und ich zog ihn hoch. Wir gingen um die Ecke, wir waren uns ohne Worte einig, dass wir nicht warten wollten. Ich hatte keine Angst. Solange ich Juris Hand hielt, war mir der Rest egal. Marlon war stehengeblieben. Er sah uns an und schüttelte zornig den Kopf. Juri sagte ruhig: "DU warst der Killer, nicht ich! Du hast ihn umgebracht!" Marlon seufzt und warf theatralisch den Kopf zurück. "ENDLICH kapiert das mal jemand!" Dann zog er etwas aus der Tasche. Das Krakenmesser - eigentlich ein Dolch. Er hielt ihn an der schmalen Klinge, wie man den Stil einer Rose hält. Ich sah die gelben Augen der Krake funkeln. Aber es hatte für mich keinen Schrecken mehr - ich war ja jetzt bei dem weißen Wal in Sicherheit. Der Alptraum war zu Ende. "DAS war dein Geschenk? Die Überraschung, die du mir versprochen hattest?" Marlon nickte. Also streckt ich den Arm aus. "Dann gib her." Das hatte er nicht erwartet. Er blinzelte, dann ließ er langsam die Hand sinken und gab mir den Dolch. "Du hast es nicht gewollt.", murmelte er. Für einen kurzen Augenblick klang er noch einmal wie der Junge, der mir hinter der Schule die Pforte geöffnet hatte. 

Ich sah mir den Dolch genau an, den Knauf, die verschlungenen Arme. Ich hatte keinen Augenblick vergessen, wie diese Klinge an Juris Kehle gelegen hatte. Und dass Marlons andere Hand immer noch eine Pistole hielt. Ich blickte ihm direkt in die Augen und gab ihm das Messer wieder zurück. "Ja, stimmt. Und ich will's auch jetzt nicht." Er verzog das Gesicht und hob ruckartig die Pistole hoch, sein Arm pendelte zwischen uns beiden hin und her. "Das ist nicht fair!" würgte er heraus. Ich schlang meine Arme um Juri, legte meinen Kopf an seine Schulter und wartete darauf, dass es vorbei war. Er umfasst mich ebenfalls und hielt mich ganz fest. Marlon keuchte und wurde immer lauter.

"Warum? Warum nur? Das ist nicht fair. FAHRT ZUR HÖLLE!" Ich presste mich eng an Juri. Dann kracht der Schuss. 

Ich wartete in Juris Armen.Es war wieder genau wie auf den Gleisen, am Tag Null, als ich das Lied des sterbenden Wales gehört hatte. Auf den Zug gewartet hatte. Auf den letzten Schlag und dann auf das Nichts. Damit endlich alles vorbei wäre. Ich hatte einen Schuss gehört - und nichts gespürt. Merkwürdig - die Sekunden dehnten sich, und ich hörte schon wieder einen Wal. Ein langer, klagender Laut, dumpf, wie unter Wasser. Ich schlug die Augen auf. Sah direkt in Juris Augen. Alles war verschwommen. Waren wir tot? Alle beide? War der Himmel ein Meer? Mit weißen Walen als Engeln? Aber Jury blickte zur Seite. Dort war etwas. Ein Gang. Da lag jemand. Am Boden. Und vor ihm kniete jemand anderes. Er hatte den Klageruf aufgestoßen. Es hatte nichts Menschliches, es klang so verzweifelt wie ein Dämon, der den Himmel für immer verloren hat. Dann kam ich wieder zu mir selbst. Da kniete Marlons Vater. Die Waffe hielt er noch in der Hand. Vor ihm auf dem Boden lag Marlon, reglos. Sein Kopf in einer riesigen Blutlache. Sein Dad hatte ihn erschossen. Er hatte seinen eigenen Sohn erschossen. Damit der nicht uns erschießt. Es war zuviel. Es war sein Schmerz, nicht meiner. Ich wollte kein Leiden mehr sehen, also legte ich Juris Arm um meine Schulter und zog ihn mit mir. Langsam, Schritt für Schritt, er war ja verletzt. Zur Treppe. Stufe für Stufe. Weiter unten kamen uns schwerbewaffnete Polizisten in Kampfanzügen entgegen, sie eilten vorbei nach oben. Dann schossen hunderte von Schülern an uns vorbei, wie kleine Fische, riefen laut durcheinander und strömten zum Ausgang. Wir ließen uns Zeit. Gemächlich wie zwei Wale glitten wir durch das Gewühle, nach und nach wurden es weniger, die letzten Jungen und Mädchen rannten nach unten zu ihren Eltern. Wir hatten Zeit. Juri und ich, ich und Juri, wir hatten die Lawine überlebt. Wir hatten alle Zeit der Welt! Schließlich kamen wir ins Erdgeschoss und durch die Tür. Draußen schien die Sonne, gleißend hell. Der ganze Schulhof war voller Umarmungen, die Polizei stand ein wenig hilflos herum, es gab keine Bedrohung mehr. Dann sah ich mitten in dem Trubel eine Dame. Die zu uns gelaufen kam, die Augen nur auf Juri gerichtet, und ich erkannte sie: Seine Mum. Sie flog die Treppe herauf aber dann blieb sie vor uns doch stehen - Zwei Jahre hatten sie sich nicht gesehen. "Junge, ach Junge!" - "Mum.", Juri weinte. "Mum, ich war's nicht." - "Ich weiß, mein Junge." - "Nicht da drin! Das mit Max, ich war's nicht!" - Ich erklärte ihr in wenigen Worten, was Marlon da oben im Gang gestanden hatte. Sie fing an zu weinen und dann nahm sie mich und Juri gleichzeitig in die Arme und küsste mich immer wieder. "Danke Lucy, Danke danke danke." Jemand räusperte sich. Da war mein Dad, er trug immer noch Handschellen. Hob beide Hände hoch, ich schlupfte drunter durch und er nahm mich fest in den Arm. Kommissarin Vito kam ebenfalls angelaufen. "Er war zu schnell, er war einfach weg.", rief sie lachend und schloss seine Handschellen auf, aber Dad hielt mich noch weiter fest. Dann sah er zu Juri. Der wirkte trotz seiner Wunden auf einmal ziemlich verlegen. "Ich bin Lucys Vater, und..ich bin nicht so gut mit Worten." - "Geht mir grad ähnlich." meinte Juri. Dad sah ihm ein paar Sekunden in die Augen, dann legte er ihm die Hand auf die Schulter. "Ich habe schon gehört - du hast Lucy das Leben gerettet. Das..ich vergesse dir das nie, mein Junge. Nie!" Ich grinste. So viele Worte, das war für meinen Dad echt eine Leistung. "Und jetzt besorg ich Dir einen Arzt." - Juris Mutter hatte sich auf die Seitenmauer der Treppe gesetzt. Dabei sah sie gar nicht so müde aus. Dann verstand ich. Sie wollte Juri und mir noch einen letzten Augenblick geben - bevor er ins Krankenhaus musste. Ach, was für eine tolle Frau. "Lucy?", sagte Juri. "Hm?"

"Ich war kurz davor, die Stadt zu verlassen, weißt du? Aber dann hat Gobo mich aufgehalten, hat gesagt, ich soll mich wenigstens von Dir verabschieden. Nur deswegen war ich heute an der Schule, als das alles losging." Mir wurde kurz ein bisschen flau. Was wurde das jetzt? Wollte er nach all dem immer noch weg? Dafür gab's doch nun keinen Grund mehr. Oder dachte er immer noch, ich wäre zu jung? Er grinste: "Tja, und dann bin ich hiergeblieben, für einen Kuss." Ich merkte, wie ich rot wurde. "Ach, das war doch nur ein ganz kleiner!" Ich dachte an den Augenblick oben auf dem Gang, als ich seine Narbe geküsst hatte. "Den meine ich nicht!". Er grinste noch mehr. Und dann beugt er sich zu mir herunter.

ENDE  

...ach nein, es gibt noch einen Epilog  :-)

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