Epilog

 "Was soll das denn sein? Ein Epilog, ist das 'ne Krankheit?", fragte ich Kara. Wir saßen an unserem Lieblingsplatz in der Bibliothek im Albert-Schweitzer-Gymi. Wie bei unserem Kennenlernen. Ich hatte wirklich die Schule gewechselt, hatte seit dem Amoklauf am Fortuna mein Leben komplett umgekrempelt. Keine Schnitte mehr. Und wegen der schlimmen Träume und Depri-Phasen hatte ich sogar eine Therapie begonnen. Es half wirklich - vielleicht, weil ich das selber so wollte. Juri sollte keine traurige Freundin haben. Kara kaute auf ihrem Stift. "Ich glaub, ein Epilog kommt nach dem Abspann - so ne Szene, die dann später spielt." - "Ja, aber ich mein, in einem Buch?" Ich hielt meine Deutsch Hausaufgabe hoch, ein dicker Schinken von Goethe. Kara grinste: "Ich glaub bei Goethe hatten die noch keine Filme." - "Ha ha, sehr witzig. Ich dachte, vom Fortuna hierher, dann ist alles wie ein Klacks. Die haben dort immer so getan - als wären hier alle noch im Kindergarten." - "Tja, tut mir leid, dich zu enttäuschen. In Wirklichkeit sind wir hier total anspruchsvoll." Sie grinste. "Wir nehmen nur Helden mit cooler Schminke!" Ich tappte ihr auf den Arm - für sie war ich sowas wie ein Idol geworden, total übertrieben, fand ich. Ich hatte nicht drum gebeten, aber es gab später noch TV-Interviews mit Juri und mir und so Schnickschnack. Ich war froh, als auch dieser Rummel endlich vorbei war, und hab mich bald bei solchen Terminen lieber gedrückt. Aber bei einer Sache, da musste ich dann doch hin: Marlons Beerdigung. Nein, niemand hatte mich da unter Druck gesetzt. Außer ich mich selber. Ich wollte am Grab stehen, um zu wissen, ob es vorbei war. Wirklich vorbei. Manchmal muss man das einfach sehen. Ich wollte ihm entgegentreten, ein letztes Mal - so wie auf dem Gang in der Schule. Als der Tag kam, bat ich Juri, draußen vor der Friedhofsmauer bei seiner Mum zu bleiben. Denn sie wollte auf keinen Fall mit rein. Sie mochte ja ihrem Sohn alles verzeihen - aber nicht dem Jungen, der ihr das erste Kind und beinahe auch das zweite geraubt hatte. Juri war hin und hergerissen. "Kara ist ja bei mir", beruhigte ich ihn. Ich hakte mich bei meiner Freundin unter, und wir gingen zu den anderen Trauernden. Marlons Dad und seine Mum traten getrennt an den Sarg. Gesichter wie aus Beton. Grau und tot. Ich konnte sie nicht lange anschauen. Ein paar Klassenkameraden, ein paar Menschen, die ich nicht kannte, ich rückte immer weiter nach vorne, und mein Herz pochte. Dann war ich an der Reihe. Ich drückte Kara den Arm, und ging dann die letzten Schritte zum Grab ohne sie. Das wollte ich alleine tun. Ein längliches Loch im Boden. Ganz unten der Sarg. Es roch nach feuchter Erde. Ich stand nur da und horchte. Mir wurde warm, aber das war nicht ich - ein Sonnenstrahl war durchgekommen und ich sah es in den Wolken schimmern. Und dann überfiel mich ein Tagtraum: Ich sah etwas wie schwarze Flügel vor den dunklen Wolken auf der einen Seite - eine Gestalt, die einen Jungen trug...meine Gedanken schwirrten zurück. Marlons letzte Worte. Wie unfair alles war. Ja, das war es. Ich hatte ja gedachte, unser Streit hätte ihn ausflippen lassen. Und dass er eifersüchtig gewesen war. War er mit Sicherheit auch, aber das war wohl nur ein kleiner Ast auf dem Scheiterhaufen seiner Seele gewesen. Da war noch so viel mehr: Die Lüge seines Dads..die furchtbare Schuld an Max' Tod. Und an dem Tag hatten sie ja Marlon ins Rektorenzimmer geholt. Ich hab dann hinterher erfahren, dass seine Notenfälscherei rausgekommen war. Er war aus der Schule geflogen und sein Dad war gekommen, direkt vom Dienst. Um ihn abzuholen. Darum war der auch oben bei uns im Gang aufgetaucht - noch vor den Einsatzkräften. Karma? Zufall? Wer kann das schon sagen...vor allem unendlich traurig. Ich schloss kurz die Augen, als ich noch einmal diesen endlosen Moment in der Erinnerung durchlebte. Ich schüttelte mich und sah jetzt zur anderen Seite, ins Sonnenlicht. Und dort kam es mir vor, als flögen zwei Wale, ein großer weißer und ein kleiner dunkler, eng beieinander ins Licht. Ich weinte schon wieder. Denn das war kein Traum. Juri war draußen. Wenn ich jetzt durch das Friedhofstor gehen würde, dann lag dort ein Leben. Ein richtiges Leben mit all seinen Freuden und Leiden. Nicht mehr dieses schwarze Loch. Ich atmete tief ein und wieder aus. Der Krake war tot. Jetzt endlich war ich sicher und lächelte. Ich drehte mich um, nahm meine Freundin am Arm, ging zu meinem Schatz, zu seiner Mum, wir fuhren zusammen los - zu meinem Dad nach Hause, fuhren allem Leid davon. Das Leben konnte beginnen. Endlich.  

Danke an Lili von @croquis_cat (Instagram) für die wunderbaren Zeichnungen. Sie wird mal eine große Künstlerin, bin sicher :-)

Danke an Michael von @@little.indian.411(Instagram) für das ausgiebige Korrigieren und Verbessern.  Ohne ihn wäre das lange nicht so sauber und flüssig geworden. DAAAANKE - ja, ich weiß, Micha, das schreibt man nur mit einem 'A'  , hähä :-D

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top