Sara

Name: Sara Linde
Alter: 20
Eingewiesen wegen: vermutlich ein leichtes Trauma - sichtbar durch Albträume, verschließt sich
Code:661a
Einweisung in eine psychiatrische Klinik ohne ernsthafte psychische Störung aufgrund Gerichtsurteil zum Fall "VA01"

Code 661a: Alle Teilnehmer - auch die psychisch weniger Betroffenen - müssen zum Schutz der Allgemeinheit für mindestens 3 Jahre mit nachfolgender Bewährungsüberwachung eingewiesen werden.

Öder hätte ein Tag wie dieser nicht sein können. Der Himmel war grau, an den Bäumen regte sich kein Blatt - die Welt schien stillzustehen und sie saß mittendrinnen und musste sich vorwärtsbewegen.
Die Vormittagstherapien waren vorbei, das fade Mittagessen längst in ihrem Magen und nun hatte sie den ganzen Nachmittag bis zur nächsten Therapie, da die Stunde mit Jakob ausgefallen war.
Das Leben der Psychiatrie war eintönig und das konnten auch die vollen Tagespläne und übermotivierten Mitarbeiter nicht ändern.
Sara hasste es, wie eine psychisch Kranke behandelt zu werden.
Sie wusste, im Vergleich zu anderen ehemaligen Teilnehmern ging es ihr gut.
Alex' Tod hatte sie hart getroffen und ihr einmal mehr vor Augen geführt, wie überraschend stark ihr eigener Verstand und Lebenswille doch eigentlich war.
Sie hatte ihn während des gesamten Projektes gut beobachtet, so wie alle anderen Teilnehmer auch - eine Eigenschaft, die ihr auch in der Klinik nachgesagt wurde.
"Eine gute Beobachtungsgabe".
So zumindest hatte es auf dem Notizpad von Jakob gestanden, als sie es kopfüber entziffert hatte.
Alex war stets ein ruhiger, besonnener Mann, aber von tiefer Trauer und Verzweiflung getrieben.
Vermutlich war Valos nur der Kick gewesen, der ihn letztendlich über die Dachkante befördert hatte, an der er schon sein Leben lang stand, ohne es zu bemerken.
Aber Sara wusste auch, dass es ihm jetzt besser ging. Vielleicht war der eigene Suizid sein Happy End gewesen, dass Happy End, das sie alle verdient hätten.
Nun riss sich die junge Frau aus ihren eigenen Gedanken, stand auf und griff zur Gieskanne.
Sie hatte von ihrem Ex-Freund eine Orchidee geschickt bekommen, eine sehr schön sogar, und der Erhalt und das Wachstum dieser Pflanze war alles, was sie an trüben Tagen wie diesen glücklich machte. Sie war das einzige Geschenk von Menschen aus ihrem alten Leben, so betitelte sie nun ihre Zeit vor Valos.
Nachdem sie auch die Blätter und Stiele der Pflanze mit Wasser betupft hatte, war ihre Tagesaufgabe auch schon wieder vorüber und die Langeweile schien sie wieder einzuholen.
Sie hatte noch keine Ahnung, dass dies der spannendste Tag ihres neuen Lebens werden würde.
Im Moment aber, warf sie sich auf das weiche Bett und starrte an die Decke. Die Bücher, die hier zugelassen waren, teilten die Eigenschaft eintönig und vorhersehbar zu sein, die Menschen um sie herum leideten und wollten ihre Umwelt mitleiden sehen - es gab schlichtweg nichts für Sara zu tun in diesem grauen Haus fernab der Gesellschaft.
Sie hatte sich von anderen Patienten abgeschottet, schwieg viel und nahm nur zu ihrem Psychater Kontakt auf. Von der Depression der Kranken wollte sie nicht angesteckt werden, sie sah sich nicht als krank.
Stattdessen schrieb sie seitenweise Briefe an Journalisten und Nachrichtensender über das, was ihr und den anderen geschehen war, aber auch, wenn Jakob ihr versicherte die Texte weiterzuleiten, wusste sie, dass die Briefe die Psychiatrie nicht verließen.
Kein Kontakt zur Außenwelt, auch nicht zu den anderen Teilnehmern.
Sara fühlte sich weggesperrt.
Und gerade, als sie das dachte, klopfte es.
Verwirrt setzte sie sich auf, es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass es am Fenster und nicht an der Tür geklopft hatte.
Ihr Zimmer lag im Erdgeschoss, so hatte sie den Blick über weite Wiesen und Hügel und einen kleinen Wald, der nicht weit vom Haus begann.
Jetzt aber, da sie zum Fenster blickte, hatte sie nicht die Aussicht auf reglose Bäume, sondern auf eine Gestalt in Motorradausrüstung.
Etwas unsicher stand sie auf, trat auf das Fenster zu und öffnete es.
Das ging, denn Suizid war aus dem Erdgeschoss nicht möglich und abhauen war auf Grund der Geländeumzäunung eh unmöglich.
Kaum also, dass das Fenster weit offen stand und die kalte Luft unter ihre Strickjacke kroch, kletterte der Motorradfahrer ins Zimmer.
Sara wusste nicht, was sie sich dabei gedacht hatte einem Fremden das Fenster zu öffnen, aber als dieser nun den Helm abzog, erkannte sie statt einem fremden einen vertrauten Anblick.
Und der öde Therapietag wurde zum besten Tag, seit sie vor fünf Jahren Sven kennengelernt hatte.
Noch nie hatte Sara so etwas schönes gesehen.
Blaue Augen, wie das Eis der längst geschmolzenen Pole, blondes Haar, wie Sonnenstrahlen und hohe Wangenknochen, eine Nase mit einem kleinen Knubbel in der Mitte, als wäre sie schon einmal gebrochen gewesen.
Nie hatte Robin schöner ausgesehen, als hier, in der grauen Realität der Psychiatrie.
Das Haar hing ihm verwuschelt in die verschwitzte Stirn, die rissigen Lippen waren leicht geöffnet und seine Wangen gerötet.
Sara konnte es nicht glauben, wusste nicht, ob sie träumte oder letztendlich doch geisteskrank geworden war.
"Hey." Er war außer Atem.
Das nächste was Sara wusste, war, dass sie ihn umarmen wollte.
Aber als sich ihre Arme um seinen Hals legten und seine Hände ihre Taille umschlangen, wusste sie, dass sie schon lange sehr viel mehr gewollt hatte.
Seine Lippen waren trocken, aber es war trotzdem das schönste und realste Gefühl, dass Sara seit langem spürte.
Er roch nach Schweiß und Leder, schmeckte nach Salz.
Der Kuss war kurz, viel zu kurz.
Als Robin sich von ihr löste, standen in seinen Augen Verwirrung, aber auch unerwartetes Glück.
Sara wich von ihm zurück, legte sich die Hand auf den Mund, als könnte sie nicht glauben, was geschehen war.
Schließlich holte die kalte Luft, die durch das weit geöffnete Fenster strömte, sie in die Gegenwart zurück.
"Was machst du hier?", keuchte sie schließlich, als Robin keine Anstalten machte etwas zu sagen.
Er schien sich selbst erst einmal erinnern zu müssen, warum er hier war.
"Ich....wir...Ich wollte dich fragen, ob du...mit uns abhauen willst?"
Sara starrte ihn einen Moment an, begriff nicht ganz.
"...Wir?", stotterte sie schließlich.
"Maxi, ich und du...wenn du willst."
Plötzlich schien er wieder auf Trab zu sein, er drehte sich kurz um.
"Du solltest dich beeilen mit deiner Entscheidung, wir haben nicht viel Zeit, wir konnten den Stromzaun lahmlegen, aber dass fällt deinen Sicherheitsleuten bestimmt bald auf und -" Weiter kam er nicht.
"Ja!", keuchte Sara mit erstickter Stimme.
"Natürlich komme ich mit!" Robin sah kurz noch verwirrter aus, als hätte er nicht mit so einer schnellen und positiven Antwort gerechnet.
"Äh...gut."
Er zerrte einen große, schwarze Sporttasche von seinem Rücken und warf ihn ihr vor die Füße.
"Dann pack so schnell ein wie du kannst...und nur das nötigste."
Sara fuhr auf dem Absatz herum, ging in ihr kleines Badezimmer wie betäubt, ihre Füße trugen sie von selbst, denn ihr Verstand kam so schnell nicht mit.
Robin ging zu dem kleinen Schrank, riss ihn auf und zerrte ihre Kleidung heraus. Es war nicht sehr viel, Sara brauchte kaum etwas innerhalb der Klinik.
Ein paar Kosmetiksachen landeten in der Tasche, Kleidung, ein winziger Geldbeutel, ein Notizbuch und drei Stifte...und eine Orchidee.
Robin sah sie verwirrt an.
"Du willst eine Blume mitnehmen?"
Beide hielten kurz inne und sie sah ihn flehentlich an.
Er zuckte mit den Schultern. "Ich hab nichts dagegen."
Er kniete sich hin, schloss die Tasche und warf sie sich über den Rücken.
Wieder folgte Saras Körper automatisch - ihr Verstand brauchte zu lange - als Robin ihr aus dem geöffneten Fenster half.
Seine Hand griff nach ihrer, ihre Finger verschränkten sich und Robin rannte los.
Sara blieb keine Wahl, als Schritt zu halten.
Ihre Füße trommelten auf den erdigen Boden, der Wind fuhr ihr kalt unter die Kleidung, ihre Lungen brüllten nach Luft, Robin zerrte sie fast schon schmerzhaft vorwärts.
Endlich erreichten sie den hohen Zaun, der normalerweise unter Strom stand.
Jetzt summte er nicht, stattdessen klaffte ein Loch in den Maschen.
Robin schob sie durch, ihre Shirt blieb an einem Drahtstück hängen und riss bis zur Schulter auf.
Sara war das egal, Robin auch. Er stolperte hinter ihr den kleinen Hang hinunter auf die breite Straße.
Sara musste sich erst die braunen Strähnen aus dem Gesicht streichen, um die zwei Motorräder zu erkennen, die auf der leeren Straße standen.
Etwas weiter entfernt stand ein schwarzer, kleiner Van.
Sara kam keuchend zum Stehen und nahm sich einen Moment um sich umzusehen. Aus dem Van beugte sich ein vermummter Mann und sah zu ihnen herüber.
Robin trat neben sie und reckte den Daumen hoch.
Die Vantür schloss sich und das Auto fuhr ohne weiter Umschweife los.
Sara sah ihm etwas verwirrt hinterher, sie verstand nicht, was hier vor sich ging.
Dann erblickte sie eine weitere Gestalt, die dort stand, wo das Auto eben noch war.
Beim Näherkommen, erkannte Sara einen weiteren in Leder gekleideten Motorradfahrer, dessen Helm ein verspiegeltes Visier hatte.
Sein Träger war groß, breit gebaut und hatte den kräftigen Gang einer Raubkatze.
Auf der Lederjacke erkannte Sara nun auch ein Symbol, knapp über der Stelle des Herzens.
Ein zähnefletschender Tiger.
Maximilian machte keine Anstalten sie zu begrüßen, schwang sich nur auf sein Bike und ließ den Motor knurrend zum Leben erwachen.
Robin packte Sara erneut an der Hand und zog sie zu dem zweiten Gefährt. Wortlos half er ihr in eine viel zu große Lederjacke und stülpte ihr einen Helm über den Kopf.
Dieser war eng, stank nach Benzin und war viel zu schwer.
Robin hob ihr Kinn an, aber sie konnte durch sein ebenfalls verspiegeltes Visier keine Augen erkennen.
"Gut festhalten, verstanden?"
Der Helm war zum Nicken zu schwer, also hob sie nur ihren Daumen.
Robin schwang sich ohne ein weiteres Wort auf das Motorrad, Sara folgte etwas uneleganter und schlang ihre Arme um Robins Taille.
Schon erwachte die Maschine unter ihnen zum Leben, Robin stieß sich vom Boden ab und das Gefährt schoss los. Maxi fuhr neben ihnen her und Sara versuchte über Robins Schulter auf die Straße zu blicken.
Sie presste sich eng an ihn, wollte bei der Geschwindigkeit bloß nicht herunterfallen.
Langsam holten ihr Verstand und ihr Gewissen sie wieder ein.
So schnell war alles gegangen, eben noch hatte Robin in ihrem Zimmer gestanden, jetzt saß sie schon hinter ihm auf einem Motorrad, die Psychiatrie im Rücken.
Sie konnte es nicht begreifen, wusste auch nicht, wieso sie sich dafür entschieden hatte und wieso so schnell.
Dennoch, als der Wind an ihren braunen Haaren riss, Maxis Bike neben ihr einem Tiger gleich siegreich brüllte, wusste sie, dass sie sich richtig entschieden hatte.
Keine Reue.
Nur die Freiheit, die lang ersehnte Freiheit und mit ihr die Realität.

Die Fahrt dauerte ewig.
Immer wieder sah Sara Ortsschilder und sie hatte das Gefühl, dass diese immer abgeranzter und älter wurden.
Kliniken waren immer im Sektor Delta platziert, dem Fluchtweg nach schätzte Sara, dass sie durch die beiden Sektoren Epsilon und Omega fuhren. Nur selten sah sie in der Ferne größere Ansammlungen von Gebäuden, ihr Weg führte eher an riesigen Lager- und Produktionshallen entlang.
Sara war nur selten in den letzten beiden Sektoren gewesen, sie war in Gamma aufgewachsen, hatte es dort verhältnismäßig noch gut gehabt.
Jetzt konnte sie die Wahrheit sehen; ihr Glück und Wohlergehen kam daher, dass in anderen Sektoren Menschen unter den übelsten Bedingungen arbeiteten und lebten.
Kamen Maxi und Robin von hier?
Und wo wollten sie hin?
Was war ihr Ziel?
Sara konnte nur inständig hoffen, dass es überhaupt ein Ziel gab.
Sie schätzte die beiden jungen Männer nicht als dumm ein, eher als impulsiv...was nicht weniger gefährlich war.

Es war schon dunkel, als sie das erste Mal hielten.
Sie waren wohl am Rande von Sektor Omega angekommen, denn hier waren die Straßen eng und ungepflastert, die Gebäude standen halb verfallen aneinander gepresst und nur billige Neonröhren beleuchteten die Düsterheit des Viertels. Sara war so müde und erschöpft, dass sie fast von Robins Motorrad fiel und Maxi sie an der Hüfte packen und hochziehen musste.
Mit letzter Kraft zerrte sie sich den Helm vom Kopf, atmete die kalte, stinkende Nachtluft der verrotteten Straße ein.
Maxi zerrte sie in ein kleines Haus, sie folgte ihm stolpernd und viel zu müde um sich umzusehen.
Durch Türen und Vorhänge, Treppen hinab, Gänge entlang...
Irgendwann erreichten sie einen kleinen Raum, vollgestellt mit überraschend modernen technischen Geräten.
Sie hörte Stimmen, Maxi sprach, jemand Fremdes sprach...sie war so müde.
Dann war Robin da, führte sie zu einer kleinen, fleckigen und durchgelegenen Couch.
Bevor er sie liegen lassen konnte, klammerte sie sich an ihm fest, zog ihn näher zu sich.
"Wo sind wir? Was machen wir hier?", murmelte sie.
Robin strich ihr über das braune Haar
"Für heute Nacht in Sicherheit. Schlaf jetzt, ich erkläre dir morgen alles, versprochen."
Und sie war zu müde um zu widersprechen, schloss die Augen und ließ sich von der Erschöpfung übermannen.
Das letzte, woran sie dachte, war Robins Gesicht, als er heute morgen in ihrem Zimmer gestanden war.
Wie einfältig sie war, einfach zwei eigentlich fremden Männern zu folgen und jetzt nicht zu wissen, wo sie war, wo sie hin wollten...
Sie konnte sich jetzt nur noch an eine einzige Hoffnung klammern; dass ihr Vertrauen in Robin und Maxi die richtige Entscheidung war.

Thank you, for knocking me down,
'Cause these scars have just made me stronger and your words, they don't matter now, so thank you, thank you, for knocking me down.
(Thank you)

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