Samuel
Name: Samuel Hartwick
Alter: 19
Eingewiesen wegen:
Trauma, (leichte Erschreckbarkeit, heftige Albträume)
"Wenn du auf dem höchsten Berg der Welt ständest und die Möglichkeit hättest...würdest du springen?"
Samuel legte den Kopf schief und dachte einen Moment nach.
"Nein."
Franka nickte.
"Wieso nicht?"
Samuel verschränkte die Hände ineinander.
"Ich glaube...ich hätte Angst vor dem Aufprall."
Franka nickte wieder. Sie sah ihn aus ihren großen, grünen, wachsamen Augen an.
"Nach allem was du erlebt hast?"
Samuel nickte und musste lächeln.
"Ja. Vielleicht gerade deswegen. Nochmal fallen...das nächste Mal könnte ich nicht wieder aufstehen."
Franka lachte leise und auf ihrer Wange bildeten sich Grübchen.
"Du bist ein sehr kluger Junge, Samuel."
Er mochte die Art wie sie seinen Namen aussprach.
Weich, fließend.
"Bin ich das? Überraschend."
Franka beugte sich vor und strich sich eine braune Strähne aus der Stirn.
"Wenn du ein Messer hättest...würdest du jemanden töten?"
Ihr Gegenüber schüttelte den Kopf.
"Ich würde diejenigen beschützen, die Schutz brauchen...oder die, die ich getötet habe."
Franka schwieg einen Moment. Samuel musterte sie schweigend.
In seinen Gesprächen mit ihr fand er Heilung, mehr als mit Leos.
Sein Psychiater war gut, aber er hatte nicht die selbe Art wie Franka.
Leo war aber auch der Meinung, dass Franka viel zu schonungslos und heftig mit einem Traumatiker wie ihm umging.
Samuel nicht, er war zufrieden mit ihr.
"Aber wenn du der Einzige wärst, der ein Messer hätte, dann wärst du auch der, mit der größten Macht."
Samuel überlegte einen Moment und zupfte an seinem Pulli herum.
"Macht ist in den falschen Händen eine schreckliche Waffe. Sie sollte gar nicht als Waffe eingesetzt werden, sondern als Schild."
Franka lachte wieder leise.
"Wo hast du diese poetische Weise her? Liest du mehr?"
Samuel nickte.
"Was liest du?"
"Das verrate ich dir nicht."
"Warum nicht?"
"Damit du nicht weißt was ich sagen werde."
Franka schmunzelte.
"Du bist ein besonderer Mann."
"Nur einer von vielen."
"Und dennoch besonders."
Die Tür wurde geöffnet und Franka drehte sich um.
Leo stand ihm Türrahmen.
"Tut mir Leid euch zu unterbrechen, aber es wird Zeit zu gehen. Ihr seht euch am Freitag wieder."
Samuel erhob sich und nickte Franka zu, ehe er Leo folgte.
Die Zeit verging immer so schnell, aber er wollte Leo nicht verärgern, indem er mehr Zeit mit ihr verbrachte, als ihm.
Leo brachte ihn nur auf sein Zimmer und versprach nach dem Essen wiederzukommen.
Eine Stunde später brachte Maria, eine Krankenschwester, Jackson vorbei.
Der kleine weiße Hunde diente ebenfalls als "Therapiemittel".
Samuel nannten ihn nie Jackson, sondern immer Ghost.
Wegen dem schneeweißen Fell und seiner Art, die ihn so an sich selbst erinnerte.
Ghost kam auf ihn zu und legte sich in seinen Schoß und Samuel begann, durch das weiße, flauschige Fell zu streichen.
Ghost sah aus braunen, warmen Augen zu ihm auf und fiepte leise.
Stunden später kam Leo zu ihm, aber Ghost musste nicht gehen.
Leo schlug die Beine übereinander und lächelte Samuel leicht an.
Dem jungen Mann schoss sehr plötzlich eine Frage durch den Kopf, eine Frage, welche ihn in den Tiefphasen seines Traumas nie hätte erreichen können.
"Leo...wie geht es den anderen?"
Er musste nicht ausprechen wen er damit meinte, es war ihm ins Gesicht geschrieben.
Leos Reaktion war nicht erfreulich.
Der Psychiater zog die Augenbrauen zusammen und schürzte die Lippen.
Samuel wurde kalt ohne das Leo irgendwas gesagt hatte.
Etwas stimmte nicht.
"Ich möchte ehrlich zu dir sein Samuel, denn du bist ehrlich zu mir. Nun...es ist so.
Alexander ist...nicht mehr am Leben."
Eine eiskalte Hand schloss sich um Samuels Herz und Lunge, drückte zu und drückte ihm das Leben ab.
"Wie?", krächzte er.
Die Hand hatte er in Ghost's langes Fell gekrallt, aber die Wärme des Tieres schien ihn nicht mehr zu erreichen.
Leo seufzte leise. Es fiel ihm sichtlich schwer die Wahrheit zu sagen.
"Suizid. Er ist gesprungen."
Samuel atmete aus, fast ein Seufzer.
Er nickte nur.
"Bitte...geh."
Leo wollte protestierend antworten, schloss dann aber doch den Mund und verließ langsam den Raum. In der Tür drehte er sich um.
"Aber nur kurz. Ich bin gleich wieder da."
Samuel lehnte sich gegen das Bett und starrte in den Spiegel an der Wand gegenüber.
Alex ist tot.
Samuel konnte, nein, wollte es nicht glauben.
Der zurückhaltende, höfliche Alex hatte Suizid begangen.
Erst als er sich an die nassen Wangen griff, bemerkte er, dass er weinte.
Nicht Alex.
Warum weinte er um Alex?
Dieser Junge hatte ihm nur halb so viel wie zum Beispiel Ari bedeutet, er kannte ihn nicht einmal. Nicht wirklich.
Aber er kannte die wahre Todesursache.
Alexander war ein Mörder und ein Ermordeter, ein Jäger und ein Gejagter.
Zweimal sterben ist zu viel...dreimal Töten auch.
Samuel atmete zitternd aus.
Diese Last, das schreiende Gewissen...Alex hatte es nicht ertragen. Er war nicht stark genug gewesen...wer hätte das gedacht?
Samuel lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen.
Eine tiefe Unruhe erfasste ihn, dennoch blieb er still sitzen.
Als er die Augen wieder öffnete war Ghost weg und es musste bereits Abend sein.
Samuel erhob sich und machte sich auf den Weg in den Speisesaal. Er war immer noch sehr ruhig, fast gelassen.
Schweigend setzte er sich Leo gegenüber, schweigend ignorierte er dessen Fragen und schweigend aß er die Gulaschsuppe.
Zurück in seinem Zimmer zerriss er eine schwarze Socke und band sich die eine Hälfte um das Handgelenk.
Den Rest der Woche über sprach er wenig oder gar nicht.
Ghost war der einzige, der ihn jetzt noch zum Lächeln brachte.
Samuel träumte schlimme Träume von Alex, wachte schweißgebadet und geschockt auf.
Am Freitag hatte er tiefe Augenringe.
Er trug das schwarze Band immer noch um das Handgelenk. Leo brachte ihn zu Franka.
Die junge Frau musterte ihn nur kurz, dann nahm sie ihm fast zärtlich das Band ab.
Sie legte es auf den Tisch und strich kurz darüber.
"Samuel.", sagte sie und ihre Stimmte holte ihn in die Gegenwart.
Er sah zu ihr auf.
"Franka." Seine Stimme klang schrecklich rau.
Sie lehnte sich zurück und lächelte.
"Heute möchte ich mit dir über die sieben Todsünden sprechen."
Samuel sah sie überrascht an.
Er hatte nicht damit gerechnet, vor allem nicht damit, dass Franka nicht auf Alex einging.
"Okay.", sagte er deshalb nur.
Franka lehnte sich zurück.
"Was weißt du darüber?"
Samuel schüttelte den Kopf.
Franka lächelte schmallippig.
"Gut, fangen wir also von vorne an."
Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Notizen und lehnte sich zurück.
"Superbia, Avaritia, Luxuria, Ira, Gula, Invidia, Acedia."
Samuel starrte sie verständnislos an.
"Wie bitte?"
Franka schmunzelte.
"Hochmut, Geiz, Wollust, Jähzorn, Völlerei, Neid und Faulheit. Kommt dir das bekannt vor?"
Samuel nickte langsam.
"Welche kommen dir am bekanntesten vor?", hakte sie nach.
"Jähzorn, Geiz, Neid und Faulheit."
Vier. Vier von sieben Todsünden.
War er ein so gottloser Mensch?
Franka lächelte schwach.
"Es ist schwer, ohne eine dieser Todsünden zu leben. Jeder kennt es. Es sind böse Gefühle, unvermeidbar."
Samuel musste an Alex denken. Was traf auf den jungen Mann zu?
Er konnte es nicht wissen, er hatte Alex nie gekannt.
Nicht wirklich.
Aber er wusste, dass Malin Jähzorn empfunden hatte, als sie ihn totgeschlagen hatte.
Samuel schauderte.
Die Erinnerung daran war schrecklich.
Schrecklicher noch, als das Messer in seiner Brust oder zwischen seinen Augen.
Er erinnerte sich an Luis Blick, an Ovids Blick und an Malins Blick.
Felix hatte er nicht sehen können, als dieser ihm das Messer durch das Herz bohrte, doch er hatte Luis Entsetzen sehen können.
"Samuel?"
Er schrak aus seinen Gedanken.
"Ja?"
"Woran denkst du?"
"Jähzorn."
War es echte Trauer gewesen, als Ari ihn totgeschlagen gefunden hatte?
Malin mit blutigen Fäusten über ihm?
"Was denkst du, ist die schlimmste der sieben Sünden?"
Samuel ging sie im Kopf alle durch.
"Wollust."
Franka nickte nur, sie fragte nicht nach.
"Du bist sehr mit Alex beschäftigt nicht wahr?"
Samuel nickte.
"Möchtest du über ihn reden?"
Es gab nichts zu bereden.
Er hatte Alex nicht gekannt.
Nur als Toten und als Mörder.
"Nein. Ich kann nichts über ihn sagen."
Franka lächelte.
"Aber ich. Eigentlich darf ich dir das nicht sagen."
Sie erhob sich und setzte sich neben ihn.
Samuel sah sie erwartungsvoll an.
"Der Psychiater von ihm, ich kenne ihn. Eigentlich ein Patientengeheimnis, aber ich denke, es tut dir vielleicht gut es zu hören. Er erzählte von den Geschehnissen auf dem Dach."
Samuel schluckte und nickte.
"Alex beteuerte, dass niemand Schuld sei. Nicht die Gruppe, niemand. Und dass es seine eigene Entscheidung wäre."
Samuel atmete zitternd aus.
"Was waren seine letzten Worte?"
Franka griff nach seiner Hand.
"Vielleicht ist es besser so."
Samuel musste unwillkürlich lächeln. Er erhob sich und trat ans Fenster.
In der Spiegelung konnte er sich selber sehen.
"Weist du...vielleicht kannte ich Alex doch besser."
Franka schwieg, aber Samuel wusste, dass sie aufmerksam lauschte.
"Ich wusste wie er getötet hat, wie er starb. Das klingt komisch...aber es sagt viel über einen Menschen aus."
Franka seufzte leise.
"Du gehörst zu den dreizehn einzigen Menschen der Welt, die wissen wie es ist zu sterben und danach weiterzuleben."
Samuel nickte bitter.
"Franka...sterben ist...seltsam.
Man sieht nicht sein ganzes Leben an sich vorbeiziehen oder so, manchmal hat man nicht mal Zeit für letzte Worte. Ich wurde erstochen und das letzte was ich dachte war: So ist das also.
Es ist schrecklich ermordet zu werden."
Es macht schwach.
Und plötzlich begriff Samuel.
Er sollte nicht schwach sein. Nicht er.
Er wollte stark sein, für sich und für Alex.
Was diese Welt wirklich braucht ist eine Revolution.
Eine Revolution gegen die Herrschaft der Technik, gegen Rassismus und Ausgrenzung, gegen Monotonie und Hass.
Gerade er machte sich darüber Gedanken, er der sich gerade als schwach empfunden hatte.
Als Leo kam und ihn abholte, stand Samuel immer noch am Fenster.
In seinem Zimmer war er wieder den Albträumen ausgesetzt, den Stimmen die wirr in seinem Kopf umherschrien.
Er kannte nicht alle Stimmen, doch manchmal erinnerte er sich.
Maxi erzählte Sara vom Regen, Ari und Alex unterhielten sich und Helene schrie, als er auf sie einstach.
Erstaunlich wie schnell er sich geändert hatte.
Valos hatte ihn verändert.
Der unsichtbare Junge war auf einmal zu einem erwachsenen Mörder geworden.
Am nächsten Morgen hatte er wieder eine Sitzung mit Leo.
"Wie geht es dir?"
Samuel hasste die Frage. Jeden Tag, jedes Mal dasselbe, bei jedem Patienten.
Samuel schwieg demonstrativ.
"Hattest du gestern Nacht wieder Albträume?"
"Ja."
Leo legte den Kopf schief.
"Wovon hast du geträumt?"
Samuel schluckte.
"Malin. Sie hat dauernd auf mich eingeschlagen, aber ich bin einfach nicht gestorben. Es war schrecklich."
Gefühlt die ganze Nacht lang hatte er um den Tod gekämpft, aber er starb nicht. Er hatte schreckliche Schmerzen, aber Ari hatte nur Malin ermuntert, während sie ihn immer weiter entstellt hatte.
"Bist du aufgewacht?"
Samuel nickte.
"Sollen wir stärkere Schlafmittel holen?"
Ja!
Aber das würde nur beweisen wie schwach er war.
Er hatte ein Trauma, ja, aber er konnte sich nicht ständig bemitleiden und vor sich hin dämmern, während alle ihm versuchten zu helfen und er es nicht zuließ.
"Nein. Keine Schlafmittel."
Und ganz leise fügte er noch hinzu: "Ich bin nicht schwach."
Ein Trauma war keine Entschuldigung, dass er sein Leben nicht weiterleben konnte.
Es war seines und er würde es sich von dem blöden Trauma versauen lassen. Und noch weniger von Valos.
Er wollte nicht wie Alex enden, das hatte keiner von ihnen verdient.
Alex' Schwäche, so hatte Samuel das Gefühl, machte ihn selber nur stärker, nur mutiger. Er wollte nicht in einer Klinik fernab der Welt versauern.
Das sollte nicht sein Schicksal sein.
Samuel wollte heilen, gesund werden und zurück kehren, nicht als Geist, nicht als Mörder oder Opfer, sondern als Mensch.
Es würde ein langer, schwerer Weg werden, aber er war bereit.
Und sollte es eine Revolution geben, würde er zu den ersten gehören die kämpfen.
I raise my flag, and dye my clothes
It's a revolution, I suppose
We're painted red to fit right in
(Radioactive)
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