Runde 3, Tag 6
Tim hatte das Gefühl, dass es immer schlimmer wurde. Noch hatte er Luis nichts davon erzählt. Sein Bewusstsein schwankte zwischen Valos und der realen Welt. Er hatte keine Kontrolle mehr über seinen virtuellen Körper und hoffte stark, dass diese Schwankung nicht in einem Kampf auftreten würde. Dann hätte er große Probleme und von denen brauchte er nicht mehr.
Sie folgten inzwischen etwas widerwillig der Nadel des Kompasses, welche nun schon sehr oft ihre Richtung geändert hatte. Die Wolken vom Meer hatten sie inzwischen erreicht und hingen düster und bedrohlich über ihnen.
Luis hatte keine gute Laune, mit einem grimmigen Ausdruck sah er auf den Kompass und latschte in die Richtung der Nadel.
Tim folgte ihm, die Hände in den Hosentaschen vergraben.
Keine Weile später begann es zu nieseln. Tims Haare hingen im klatschnass ins Gesicht und Luis sah aus als könnte er gleich auf alles und jeden losgehen.
"Ich hab genug von Regen. Von unechtem Regen.", knurrte er.
Tim stimmte ihm zu und sah kurz über seine Schulter auf den Kompass. Sie waren dem Wald schon sehr viel näher gekommen.
Über ihnen rumpelte es, dann wurde der Regen heftiger. Immerhin war er nicht eiskalt.
"Wir gehen jetzt in den Wald, scheiß auf den Kompass. Da ist es vielleicht trockener."
Tim nickte zustimmend, in T-Shirt und kurzen Hosen war der Regen echt unangenehm.
Kurz darauf erreichten sie den Wald, doch die Tropfen wurden nur etwas vermindert.
Eine Weile liefen sie in keine bestimmte Richtung, lauschten dem Prasseln des Regens auf den Blättern und ärgerten sich über die Nässe.
"Wenn sie uns schon hierzu zwingen, könnten sie es wenigstens schön gestalten.", beschwerte Luis sich. Tim verdrehte die Augen.
"Dann wäre es aber viel zu freundlich dafür, dass wir Testobjekte sind." Sein Partner schnaubte und schüttelte verächtlich den Kopf, woraufhin Tropfen von seinen Haaren in alle Richtungen flogen.
Er antwortete nicht.
Tim fragte sich, ob die Spielemacher das ganze tatsächlich noch als Test sahen und Ergebnisse und Verbesserungen daraus zogen, oder ob es nur noch der Vergnügung von wahnsinnigen Psychoten diente.
Vielleicht war das ganze auch nur ein Projekt, dass an das Militär weitergegeben wurde um die Soldaten vorzubereiten. Das wäre sogar eine logische Erklärung, immerhin waren Schmerz und Blut hier am realistischsten.
Tim erzählte Luis von seiner Überlegungen und dieser runzelte die Stirn.
"Kann gut sein. Internationaler Handel weil die kriegführenden Nationen nicht das Geld oder die Wissenschaftler auftreiben können. Wie es auch sein mag, das hilft uns nicht hier jemals herauszukommen."
Tim hatte sich die ganze Zeit schon darauf vorbereitet sich damit abfinden zu müssen, dass es kein danach und kein Ende dieses Projektes für sie gab.
Niemand würde ihre Schreie hören, ihre Versuche auszubrechen würden misslingen, kurz; sie waren gefangen. Und so ziemlich tot.
Was sollte sie schon groß erwarten?
Die Welt strebte auf ihren Untergang zu, doch alle schlossen die Augen davor.
Rettung.
Es war ihre Hoffnung, doch Hoffnung starb mit dem Verstand.
Luis seufzte und Tim warf ihm einen kurzen Blick zu. In der ersten Runde war der junge Mann verunsichert, in der zweiten nachdenklich und in der dritten missmutig.
Wenigstens sterben wir gemeinsam.
Ein Haufen Erwachsener die sich alle nicht kannten, aber sich dennoch getötet hatten.
Was ein trauriges Ende.
Tim wurde langsam kalt, der Regen nervte ihn und es war recht dunkel.
Plötzlich stolperte Luis und er konnte sich einen leisen Schrei nicht unterdrücken.
Tim sah zu ihm und erstarrte ebenfalls.
Luis war über eine Person gestolpert.
Im Dunkeln kaum vom Boden zu unterscheiden, lag dort Ovid unter einigen Blättern und starrte mit offenen Augen in die Unendlichkeit.
Seine Hände und sein Hemd waren voller Blut und doch ging kein Gestank von ihm aus.
Luis und Tim sahen den jungen Mann einen Moment an.
Er war erstochen worden, ganz offensichtlich.
"Der Kompass leitet uns vielleicht direkt zu seinen Mördern.", murmelte Luis und klang sehr, sehr besorgt.
Auch Tim wurde mulmig. Rasch wandte er sich von der Leiche ab, ihm war der Anblick zu widerwärtig.
"Sie könnten im Dunkeln auf uns lauern.", sagte Luis besorgt und sah sich um.
Tim fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht.
"Und wenn schon, bei der Leiche bleibe ich nicht."
Die beiden gingen dicht nebeneinander weiter, sahen sich immer wieder um und lauschten auf verdächtige Geräusche.
Nur das Heulen des Windes, das Rauschen des Regens und das Grollen des Himmels störte die nächtliche Ruhe.
Und da nahm Luis ihn zum ersten Mal bewusst wahr, kaum ein Hauch, untergehend wie die Sonne. Der Geruch von Regen.
Er war sich so sicher, dass ein Lächeln auf sein Gesicht schlich.
Sara hatte Unrecht gehabt, man konnte ihn auch während des Regens wahrnehmen.
Und gleichzeitig hatte sie recht gehabt; der Geruch von Regen musste der schönste Geruch von allen sein.
Er täuschte sich. Illusion. Er verlor sich in Valos. Es war nur virtuell.
Und trotzdem ließ sich Luis nicht die Wahrheit nehmen, dass er existierte.
Ari war alleine. Malin hatte ihm seinen Teampartner genommen und war geflohen. Ari wusste nicht einmal, ob es erlaubt gewesen wäre mit ihr zu teamen. Und er wusste auch nicht ob er das wollte. Sie hatte ihn verwirrt und alleingelassen mit einem Chaos an Gefühlsausbrüchen, welches seinen Kopf dauerhaft beschäftigte.
Samuel war tot, er war alleine gegen die restlichen Gegner, Malin hatte ihn geküsst und er war ziemlich planlos in dieser Welt unterwegs.
Er konnte es noch nicht richtig fassen, dass Malin Luis in der ersten Runde getötet hatte.
Es war nicht Felix gewesen, wie Ari fälschlicherweise gedacht hatte, sondern die hübsche, zurückhaltende Malin.
Waren aus ihnen allen Monster geworden? Hatte selbst der unschuldigste Mensch Blut an den Händen? Sara vielleicht?
Ari vergrub die Hände in den Hosentaschen.
Man konnte seine Hände mit und von vielen Dingen säubern, aber nicht von Blut und Schuld.
Sie würden auch bis in die Ewigkeit an Haut und Seele haften.
Unschuld gab es in dieser Welt nicht mehr, nicht in Valos und nicht auf der Erde.
Ari musste an das Gespräch mit Helene aus der zweiten Runde denken. Ob die junge Frau noch lebte? Und wen sie wohl als Teampartner hatte?
Ari musste sich eingestehen, dass er nur an sie dachte, um seine Gedanken von den wesentlich dunkleren und schlimmeren Themen fernzuhalten.
Er kickte gegen einen kleinen Stein und dieser flog ein paar Meter und verschwand im Boden. Ari zog nur eine Augenbraue hoch und ging weiter.
Er hatte die virtuelle Welt satt, wollte wieder in die Reale zurück.
Nach Hause...
Dabei war er sich nicht nicht einmal sicher ob er ein Zuhause hatte. Amerika oder Deutschland? Besaß er unwichtiger Mensch einen rechtmäßigen Platz in dieser grausamen Welt?
Gab es einen Ort an dem er vor den hässlichen Wahnvorstellungen fliehen konnte?
Er wünschte sich es zu wissen, wenigstens einmal etwas mit Sicherheit zu wissen.
Ari wusste ja nicht mal, ob er hier lebend raus kam, ob Malin ihn liebte oder wann er sterben würde. Sein ganzes Leben war eine reine Ungewissheit, doch ausgerechnet jetzt fiel ihm das auf.
Ein plötzliches, abartiges Knurren ließ ihn zusammenfahren. Er schnellte herum und sah entsetzte auf die Bestien hinter ihm.
Es waren keine Wölfe wie er im ersten Moment dachte, es waren Mutationen. Groß mit langen Beinen, zotteligem Fell und Stacheln auf dem Rücken. Die Zähne waren so grausam und lang, dass die Viecher ihr Maul nicht schließen konnten.
"Scheiße.", sagte Ari.
Dann drehte er sich um und rannte los. Die Mutanten setzten ihm nach, jaulten auf einer schreckliche Art und Weise von allen Seiten und setzten ihm sabbernd und keuchend hinter her.
Was für eine verfluchte Idee der Spielemacher.
Wenn sie sich nicht gegenseitig töteten...kümmert euch lieber um das Gewinnen, wenn ihr nicht einen äußert schmerzhaften Tod erleiden wollt.
Hatte er sich so wenig gekümmert? Er hatte doch Felix umgebracht! Wurde er jetzt gejagt?
Er hatte Malin fliehen lassen...
Ari rannte so schnell er konnte, doch es würde nicht reichen.
Die Bestien hatten ihn eingekesselt, es gab nur den Weg nach vorne.
Sie gaben widerwärtige und gruselige Geräusche von sich, lachten manchmal wie Hyänen und rasselten wie Schlangen.
Äste peitschten Ari ins Gesicht, rissen ihm schmerzhaft die Haut auf. Ranken krallten sich in seine Hose und Beine und seine Lunge schien fast zu zerspringen.
Es gab kein Entkommen, Ari wusste das.
Und sein Verdacht bestätigte sich, als eine der Bestien plötzlich von vorne auf ihn zu schoss.
Das gewaltige Maul so weit geöffnet wie möglich sprang das Biest vom Boden ab und segelte auf den jungen Mann zu.
Ari schrie, er konnte nicht mehr bremsen.
Und in dem Moment als der Kiefer sich um Aris Hals schloss und der junge Mann wusste das er starb, ging ein gewaltiger Ruck durch die gesamte Welt und seinen Körper. Es war kein Schmerz den er fühlte...was war es?
Es wurde dunkel und alles zog und zerrte.
Im nächsten Moment wachte Ari auf.
Jemand hatte ihm die Brille und die Kopfhörer abgenommen.
Vor ihm standen zwei SEK-Polizisten, ein Arzt und drei Männer in Alltagskleidung.
Ari zitterte am ganzen Körper.
Der Arzt stand dicht bei ihm und schien etwas mit einem technischen Gerät zu messen.
Einer der zivilen Männer trat zu ihm.
"Ari, nicht wahr?"
Der junge Mann nickte schwach.
"Ich bin Lorenz. Wir sind hier um dir zu helfen. Das Projekt wurde gestoppt, deine Mitspieler werden versorgt und das VA-01 Team festgenommen.", sprach er rasch und ruhig um Ari zu versichern, dass die Männer nicht zu dem Projektteam gehörten.
Eine unfassbare Welle der Erleichterung überspülte den jungen Mann.
Sie waren gerettet, er lebte!
"Mit seinem KBN-System ist alles in Ordnung, er hat nur einen Schock."
Ari versuchte ruhig zu atmen.
"KBN?"
"Körper-Blut-Nervensystem. Dein physisches Wohlbefinden."
Ari nickte nur, immerhin etwas.
Der zweite Zivilgekleidete reichte ihm seine Hose und der Arzt und die beiden SEK-Polizisten verließen den Raum.
Kurz darauf folgte Ari mit den drei Männern.
Draußen war viel los. Überall standen schwer bewaffnete Polizisten, die den Spielemachern Handschellen anlegten. Es wurde viel geredet und gerufen.
An den Computern saßen nun Männer und Frauen mit der Aufschrift Deutsche-Sicherheits-Hackergruppe auf ihren Jacken.
Ari ließ seinen Blick durch den Raum schweifen.
Der Professor wurde von mehreren Männern umringt und unterhielt sich mit ihnen. Alex und Samuel waren nicht weit von ihm entfernt.
Alex wurde von einem der Helfer gestützt und Samuel lächelte zu ihm herüber, als er Aris Blick bemerkte.
"Wir klären noch schnell etwas, dann könnt ihr nach draußen zu den Autos.", sagte Lorenz.
Ari schluckte.
"Sind wir...frei?"
Lorenz seufzte leise.
"So einfach ist das nicht Ari. Ich erzähl es dir, wenn ich gleich wieder da bin."
Und er entfernte sich.
Ari blieb mit den beiden anderen Männer und einem Haufen Security zurück. Er zitterte.
Ihm war unwohl, so alleine und unwissend. War das hier die nächste Falle?
Einer der beiden Männer sprach ihn an.
"Darf ich deinen ganzen Namen erfahren? Nur für die Personalien."
Seine Personalien waren genau wie die jeden Einwohners im DE-Web abgespeichert, doch der Kerl brauchte seinen ganzen Namen um darauf zurückzugreifen.
"Ari Narron." Der Mann runzelte die Stirn.
"Nur Ari? Oder Arian?"
"Nur Ari."
Er war wie betäubt, als er das sagte, viel zu überfordert mit der Situation, dass es beendet war.
Das Morden und Töten hatte ein Ende.
Er konnte Helene weinen sehen, aber sie sah nicht traurig aus. Sie war erleichtert, genau wie Samuel dessen Augen nass glänzten.
Sie hatten es begriffen, sie alle.
Sara legte sich eine Hand auf den Mund und schluchzte leise.
Tim stand ebenfalls betäubt wie ungläubig im Geschehen und Yannik griff an seine Ohren.
Alle schienen erleichtert oder gar glücklich, nicht jedoch Maxi.
Mit großen Schritten durchquerte er den Raum, stieß mehrere Polizisten zur Seite und erreichte schließlich den Professor. Ohne zu zögern packte er dessen Kopf und stieß ihn gegen die Wand.
Sofort wurde der junge Mann von den Polizisten ergriffen und zurückgezerrt, doch es war nicht sinnlos.
Blut floss dem Professor aus Nase und Mund, er spuckte einen Zahn aus.
Ari musste unwillkürlich grinsen. Verdient.
Danach schien es wie ein Traum was geschah.
Ari beobachtete das Treiben, die Tränen und die Abführung des Teams. Kurz darauf wurde auch er in ein Auto gebracht, erinnerte sich kaum wie er sich anschnallte und sie losfuhren. Er sah keinen der anderen 13 mehr, sah nur noch die Landschaft die an ihm vorbeizog. Wälder, Städte, Tunnel...anhalten, Männer kamen, weiterfahren.
Irgendwo wurde er befragt, irgendwo verhört, irgendwo untersucht, es war egal.
Denn während der ganzen Zeit, und er wusste nicht wie lange das war, schwebte nur ein Gedanke in seinem Kopf:
Du bist frei.
Und als er wieder zu Bewusstsein kam, brach sein Verstand, seine Realität zusammen, wie eine alte Ruine.
Letztendlich war er gebrochen, gescheitert.
Er war Opfer.
Er war Mörder.
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