Runde 2, Tag 9

Als Helene aufwachte war es nicht hell. Und doch war es früher Morgen. Dunkle Wolken hingen am Himmel und Regen prasselte herab. Die Berge waren nicht mehr zu sehen und das, obwohl sie so nah waren. Ari lag neben ihr, er hatte sich klein gemacht und hielt in der Hand ein Messer. Er schlief noch, doch sogar im Schlaf sah er angespannt aus. Helene stand so lautlos wie möglich auf und trat ans Fenster. Ein leises Rumpeln ertönte unter dem Rauschen des Regens. Es gewitterte und nirgendwo war ein Ende der düsteren Wolkendecke zu sehen.
Als sie sich umdrehte war Ari wach. Er lag noch auf dem Bett, das Messer in der Hand, aber er sah sie aus seinen braunen Augen wachsam an.
"Und jetzt?", fragte sie leise. Ari wusste es selber nicht. Die Runde würde nicht enden, bevor entweder die Opfer oder die Mörder gewonnen hatten. Also warteten sie auf ihren Tod, oder töteten die anderen. Helene und Ari hatten auf keines von beidem Lust.
Dennoch stand der junge Mann auf. "Komm, wir gehen runter." Schweigend folgte die junge Frau ihm, doch ihr Blick war stets überall um sich zu versichern, dass niemand da war.
Unten im Wohnzimmer war es nicht heller, doch Ari schaffte es ein Feuer zu entfachen. Gemeinsam setzten sie sich mit einer Decke an den Kamin und lauschten den Flammen, dem Regen und dem Donnergrollen.
Es schien eine Ewigkeit so zu vergehen, wie sie einfach gemeinsam dort saßen und auf das Verstreichen der Zeit warteten. Ihre Gedanken bewegten sich dabei viel mehr, als ihre Körper.
Ari musste an die Toten denken. Wie sah die Lage da draußen aus? Und warum zum Teufel hatte Robin den Feueralarm ausgelöst? Was würden die Regeln in Runde 3 sein? Ari hasste den Professor. Der Mann quälte sie alle und es gab Leute, die ihm dabei auch noch halfen!
So etwas Unwürdiges hatte er sich nie auch nur vorstellen können, doch nun hatte er es selbst erlebt. Und es war unverzeihlich. Ari hatte bemerkt wie die anderen mit ihrem Verstand an dieser Belastung leideten, daran verzweifelten. Und er selbst spürte es auch, versuchte es nur zu unterdrücken. Aber es war vermutlich eine psychische Krankheit, und solche konnte man nicht vermeiden.
Was würde er hiernach haben, ein Trauma, Neurose?
Er warf einen kurzen Blick auf Helene. Sie hatte die Knie angezogen, die Augen geschlossen und schien in einer ganz eigenen Welt zu sein. Ob diese wohl besser war als Valos oder die Erde?
"Helene?" Sie öffnete die Augen, wandte sich ihm aber nicht zu.
"Ari?" Der Klang ihrer Stimme beruhigte ihn, versicherte ihm, dass er nicht alleine war.
"Warum hast du niemanden mehr?" Helene schluckte und schloss wieder die Augen.
"Ich hatte einen kleinen Bruder und zwei liebende Eltern. Mein Vater ist im Krieg gefallen, meine Mutter hat meinen Bruder mit einer tödlichen Krankheit angesteckt, als sie aus Asien zurück kam. Ich war derzeit bei meiner Tante väterlicherseits und wurde dadurch nicht angesteckt. Aber..." Sie holte tief Luft und ihre Schultern bebten.
"Ich durfte bei Tante und Onkel leben..." Wieder holte sie tief Luft. "Mein Onkel...war ein Pädophiler. Er hat sich an mir und meiner Tante vergriffen."
Sie vergrub rasch wieder das Gesicht unter den Armen.
Ari konnte sie nur anstarren. Er hatte schon viele harte Sachen aus der heutigen und auch damaligen Zeit erfahren, allerdings noch nie so etwas Würdeloses. Unwillkürlich legte er ihr eine Hand auf die Schulter.
"Ich...das tut mir schrecklich Leid." Helene nickte nur schwach. "Und du dachtest...hier fändest du einen Neuanfang?"
Wieder nickte Helene.
"Aber ich fand das Ende. Vielleicht ist das gut so." Ihre Stimme klang erstickt.
Ari schluckte. Das Ende...
War das hier das Ende? Für sie alle?
Plötzlich fuhr er durch ein Geräusch hinter sich zusammen, auch die junge Frau schreckte auf. Beide fuhren herum, konnten noch gar nicht begreifen was passiert war, als die drei Mörder auch schon zuschlugen.
Ja, das war das Ende.
Ovid traf Ari mit dem stumpfen Ende des Beils an der Schläfe und der junge Mann verdrehte die Augen und kippte zur Seite.
Helene schrie und trat Paul gegen den Oberschenkel, doch dieser knurrte nur vor Schmerz und zog ihr dann mit einer Holzlatte eines über.
Es war die selbe, die Maxis Tod eingeleitet hatte.
Kurz darauf lagen die beiden reglos auf dem Boden.
Paul rieb sich den Oberschenkel.
"Gut. Helene bringen wir in den Schuppen, Ari gefesselt in das Badezimmer. Und schließt die Zimmertür ab wenn das möglich ist." Ovid nickte und packte Ari unter den Armen.
Alex nahm dessen Füße und stöhnte vor Schmerz auf, als seine gebrochenen Finger belastet wurden. Gemeinsam trugen sie ihn die Treppe hinauf und legten ihn ins Mädchenbadezimmer. Alex löste das Seil aus seinem Gürtel und reichte es Ovid. Dieser band mit ein paar geschickten Griffen Aris Hände auf dessen Rücken zusammen und mit dessen Gürtel auch die Beine.
Draußen auf dem Gang holte Ovid einen Stuhl aus einem angrenzenden Zimmer und blockierte so die Klinke.
Das ganze geschah ohne, daß die beiden ein Wort wechseln mussten. Rasch liefen sie zu Paul ins Wohnzimmer und Ovid packte ein weiteres Mal mit an um die junge Frau in den Schuppen zu verfrachten. Dieser war nur vom Haus aus zugänglich, nicht von außen.
Drinnen war es dunkel und sie legten Helene auf den kalten Steinboden, ehe sie die Tür schlossen und sich auf den Weg in den Keller machten.
"Wir haben sie getrennt. Und jetzt?" Paul grinste nur zufrieden.
"Jetzt spielen wir eine Runde Katz und Maus mit ihnen."

Ovid und Paul schlichen im Haus herum, doch Alex hatte sich in sein ursprüngliches Zimmer gelegt, die Decke bis zur Hüfte gezogen und die Hand an den Körper gepresst. Der Schmerz pulsierte durch seine Finger und Alex fühlte sich müde und erschöpft. Das ganze Töten und Morden schadete ihm, genau so wie die körperliche Anstrengung, die trotz eines virtuellen Spiels ziemlich hoch war. Alex seufzte und betrachtete die Decke. Von draußen hörte er nur das Rauschen des Regens und manchmal auch das Ächzen des Hauses, als wäre es uralt. Dabei war es nicht mal ein reales Haus.
Alex hätte darüber fast gelacht, doch er unterließ es der Schmerzen wegen. Dann hörte er Schritte auf dem Gang, nur ganz leise. Er hielt die Luft an, denn er wusste nicht, dass es nur Ovid war.
Dieser war eben beim Mädchenbadezimmer gewesen, hatte aber nichts auffälliges gesehen oder gehört. Nun sah er in allen Zimmer nach, doch auch dort war keine Spur von Ari und Helene zu sehen, sie schienen sich noch nicht befreit zu haben. Nur einmal traf er auf Alex, lächelte ihn aber nur an ohne ein Wort zu tauschen. Der junge Mann konnte seine rechte Hand nicht mehr gebrauchen, dumm nur, dass er ausgerechnet Rechtshänder war. Im Grunde stellte das die Mörder wieder mit den Opfer in Gleichzahl. Solange aber Ari und Helene nichts davon wussten, hatte ihre Illusion noch Wirkung. Ovid ging schließlich wieder in den Keller um dort auf Paul zu warten. Er setzte sich auf eine Decke und betrachtete das Messer vor ihm. Felix hatte ja Recht gehabt, er war selber zu einem Monster geworden. Und irgendwo hasste ein Teil von ihm sein Handeln. Aber Ovid hatte keine Wahl. Oder redete er sich das nur ein? Und wenn schon, er würde keine andere Wahl finden.
"Monster...", murmelte er und erinnerte sich ganz genau was Felix mit seinem eigenen Blut auf den Spiegel geschrieben hatte und wie sehr Maxi sich darüber erschrocken hatte. Er hatte es auf dem Bildschirm gesehen, nachdem er ausgeschieden war.
Er rollte sich ganz klein zusammen und schloss die Augen um die Zeit des Wartens schneller verinnen zu lassen. Doch nun war er alleine, gefangen mit seinen Gedanken und seinem Gewissen. Er wusste, dass es Alex nicht anders ging, doch das war kein Trost.

Als Helene aufwachte war es dunkel und kalt. Zitternd setzte sie sich auf. Ihr Schädel tat heftig weh und für einen Moment wurde ihr schwindelig - was in der Dunkelheit kaum einen Unterschied machte. "Ari?", wimmerte sie leise und tastete neben sich. Doch da war nur kalter, staubiger Steinboden. Dumpf hörte sie das Regenprasseln. Vorsichtig stand sie auf und stieß sich dabei den Kopf an der niedrigen Deck. Rote Funken explodierten vor ihren Augen und sie sank mit einem Stöhnen wieder auf die Knie.
Heftig atmend wartete sie, bis ihr Kopf sich etwas beruhigt hatte. Dann krabbelte sie auf allen vieren zur Tür und suchte die Klinke.
Endlich stolperte sie in einen winzigen Gang, welcher zum Wohnzimmer führte. Unter dem Türschlitz drang etwas Licht hervor. Vorsichtig lugte sie durch das Schlüsselloch, doch es war niemand zu sehen. Die Tür gab ein Quietschen von sich, als Helene sie öffnete. Die junge Frau erstarrte, doch immer noch regte sich nichts im Haus.
Rasch glitt sie ins Wohnzimmer und schloss die Tür hinter sich.
Das Feuer im Kamin war schon weit heruntergebrannt und nur noch die Glut strahlte etwas Wärme aus. Ari war nirgendwo zu sehen. Am liebsten wäre sie ihn suchen gegangen, aber sie wusste ganz genau, dass dies der Plan der drei Mörder war. Möglichst lautlos durchquerte sie den Raum und kauerte sich in den Schatten unter die Treppe. Keinen Moment zu spät, denn schon hörte sie leise Schritte. Aus dem Gang zur Haustür kam Paul, sah umher. Das Messer steckte in seinem Gürtel. Helene beobachtete ihn zitternd, wie er die Decke vor dem Feuer aufhob und sie auf einen der Sessel legte. Dann wandte er sich zum Fenster und das war der Moment in dem sie einen Entschluss fasste. Ihre Hand kribbelte, doch keinen Moment später hielt sie das kühle Messer fest umklammert.
Sie schob sich aus dem Schatten der Treppe und flitzte möglichst lautlos auf Paul zu. Dann rannte sie in ihn rein, die Klinge voran. Paul stöhnte auf, als das Messer sich in seinen Rücken bohrte. Die beiden stürzten auf die Couch und Paul riss seinen Ellenbogen zurück. Er traf Helene an der Nase und sie ließ erschrocken von ihm ab. Paul drehte sich mit einem Stöhnen zu ihr herum, drückte sie in das Kissen. Helene schlug ihm in den Bauch und riss sein Messer aus dem Gürtel nur um es ihm gleich darauf wieder in den Bauch zu rammen.
"Du bist ein schrecklicher und wahnsinniger Mensch!", kreischte sie und spuckte ihm ins Gesicht. Paul krallte sich in ihren Schultern fest, immer noch über ihr. Sein Blut floss über Helenes Hände, heiß und klebrig. Paul hob seine eine Hand und drückte sie ihr auf den Hals, doch Helene schlug ein weiteres Mal gegen das Messer in seinem Bauch. Paul stöhnte und sackte auf ihr zusammen. Er wurde schwer und Helene schnappt verzweifelt Luft. Der Messerknauf drückte sich ihr in den Magen und mit aller Kraft schob sie Paul von sich. Seine Leiche kam mit einem dumpfen Schlag neben dem Sofa auf und Helene setzte sich rasch hin. Ihr Atem ging hastig und langsam ließ der Adrenalinschub nach. Ihr plötzlicher Hass auf Paul und seine Grausamkeiten und den Blutdurst ließen nach.
In ihr blieb nur noch das Gefühl der Leere zurück.
Sie hatte einen Menschen getötet.
Die Erkenntnis war schlimmer als jeder Schmerz.
Sie hatte es wirklich getan...
Doch da ertönten auch schon wieder Schritte und Helene wurde bewusst das sie jetzt sterben würde. Das ganze Haus musste ihren und Pauls Kampf gehört haben. Der Mord war umsonst gewesen, so unnötig...
Und plötzlich stand Ovid neben der Kellertreppe.
Er sah zu ihr und zu Paul, dann kam er langsam auf sie zu.
Diesmal weinte Helene nicht.
Sie ließ Ovid einfach kommen und er legte ihr einen Arm um die Schulter, ehe er ihr das Messer ins Herz rammte.
"Du wirst es verstehen.", murmelte er, als sie gegen ihn sank.

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