Runde 2, Tag 6
Ari saß im Wohnzimmer und sah aus dem Fenster. Missmutig erinnerte er sich an den gestrigen Tag, an welchem plötzlich das Krächzen eines Rabens ertönt war...doch es handelt sich bei dem "Fund" nicht um einen Mörder, sondern um die tote Malin. Ari bewunderte Tim dafür, dass dieser sie den ganzen Weg zum Haus zurück trug, auch wenn der Blondschopf sich die Schuld an Malins Tod gab.
Ari schwieg noch über die Existenz der steinernen Treppe, da er sich selbst nicht sicher war. Der Rabenruf war erschollen, ehe er die Felsen erreicht hatte. Eigentlich bedauerlich, denn statt einem der Mörder, war wieder einer von ihnen gestorben.
Tim konnte sich nicht mehr erinnern, wer Malins Mörder war. Gestern hatte Sara seine Wunde versorgt und Ari hatte ihn auf dem Weg ins Zimmer gestützt. Heute hatte er Tim noch gar nicht gesehen.
Der junge Mann legte sich auf das Sofa und schloss die Augen.
Déjà vus die ihn einholten. Schon einmal hatte er Menschen verloren ohne etwas tun zu können. Familie. Nur das dies hier nicht seine Familie war...und trotzdem sah er sie verschwinden, sah die hässlichen Messerwunden. Und ob er es zugeben wollte oder nicht, er spürte wie tief in ihm sein Verstand daran zerbarst. Tote...so viele. Und er war ein Mörder. Wie hatte er so tief sinken können? Er fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und seufzte leise.
"Müde?" Er setzte sich auf und sah zu Helene die an der Treppe stand. "Nur erschöpft.", murmelte er und lehnte sich zurück. Die junge Frau nickte knapp. "Ich glaube nicht, dass es besser wird." Ari verschränkte die kräftigen Arme.
"Es wird niemals besser werden. Nicht nach drei Runden, nicht nach Jahren von Therapie." Helene legte leicht den Kopf schief und ihr braunes Haar fiel zur Seite. "Welche Therapie?"
Ari verstand was sie damit sagen wollte. Es wird keine Therapie geben, denn es wird kein Ende von VA01 geben. Schon schmerzhaft das zu begreifen. Doch körperliche und geistige Schmerzen schienen eine fester Teil des verfluchten Projektes zu sein. Und auch ihres zukünftigen Lebens.
Warum Mörder? Man konnte auf jegliche andere Weisen die Sinne eines Avatars testen...war die Welt so grausam geworden? Hatten die Spielemacher eventuell Spaß an dem Leiden der Vierzehn? Ari stand auf und drehte Helene den Rücken zu um aus dem Fenster zu sehen. Konnten sie seine Gedanken hören?
"Ist ein bisschen wie die Tribute von Panem oder?" Ari runzelte die Stirn. "Wie was?" Er hörte wie Helene die Stufen der Treppe erklomm. "Egal."
Dann war er wieder alleine. Schon wieder alleine. Ari hatte das Leben und die Welt in der sie lebten nie verabscheut. Er verabscheute nur die Menschen, welche den Planeten bevölkerten. Und auch wenn er dazu gehörte. Aber was konnte man mit seinem Hass gegen die Gesellschaft und die Menschheit nur tun? Ihn verbergen. Nur wer sich selbst hasst, weiß was Hass wirklich bedeutet. Und Ari wusste es.
"Du willst was tun?", fragte Ovid entsetzt. Paul legte verärgert den Kopf schief. "Ich möchte mit all den wichtigsten Sachen hinunter in den Kaninchenbau. Was war daran so unverständlich?"
Alex vergrub das Gesicht in den Händen, so waren seine Züge verborgen. "Du bringst uns damit in Gefahr und eine Falle gleichzeitig!" Paul verdrehte die Augen. "Ovid, dass eine hat mit dem anderem große Ähnlichkeit okay?" Jetzt sah Alex doch auf. "Die sind in der Überzahl. Der Lockenkopf hat recht, wenn wir da runter gehen sind wir so gut wie tot." Ovid warf ihm des Spitznamens wegen einen bösen Blick zu. Dann wandte er sich wieder an Paul.
"Nenne mir Gründe warum wir deinem Vorschlag folgen sollten." Der Blondschopf lehnte sich gegen das Geländer und verschränkte die Arme.
"Sie wissen in etwa wo unsere Hütte ist. Außerdem ist es da unten leichter sie zu töten, als wenn wir jeden Tag gefühlte 50 Kilometer zurücklegen müssen. Und so bald sie wissen, dass wir bei ihnen sind, wird es für die sechs ganz schnell zum Horrorfilm." Alex zog eine Augenbraue hoch. "Das ist dir wohl der wichtigste Punkt." Paul grinste. "Und ob."
Ovid seufzte. "Und wenn du gehst und wir hier bleiben?" Sein Gegenüber verdrehte die Augen. "Dann wisst ihr nicht ob ich noch lebe. Zu dritt haben wir mehr Chancen. Kommt schon, was haben wir zu verlieren?"
Alex starrte ihn fassungslos an. "Unser Leben?!" Paul winkte ab. "Ach scheiß drauf. Ein Fick auf dieses Computerleben."
Alex lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. "Scheint dir ja nicht viel ausgemacht zu haben erwürgt zu werden."
Seine Worte hatten Wirkung; Paul wurde rot vor Zorn und ballte die Hände zu Fäusten.
"Denkst du etwa ich hätte vergessen wie sich das anfühlt? Robin wird dafür bezahlen."
Alex schüttelte den Kopf.
"Es ist nicht Robins Schuld! Sondern die der Spielemacher."
Paul schnaubte verächtlich.
"Die kann ich lustigerweise aber nicht abstechen."
Ovid trat zwischen die beiden und hob die Hände.
"Beruhigt euch. Ihr schweift vom Thema ab." Paul entspannte sich tatsächlich etwas, nur Alex blieb versteift.
"Wenn wir uns spalten haben wir noch weniger Chancen. Und ich muss nicht nochmal sterben."
Alex fuhr auf.
"Aber die anderen schon?" Ovid sah ihn aus seinen braunen, fast schon schwarzen Augen an. "Können wir die Runde anders beenden?"
Und für sich dachte er noch: Das egoistischste, was ein Mensch tun kann, ist versuchen am Leben zu bleiben.
Alex setzte sich langsam und Ovid konnte ihm ansehen, dass der junge Mann begriff.
Was hatten sie schon für eine Wahl? Keine...die Entscheidungen wurden für sie getroffen. Als Alex seine beiden Mittäter wieder ansah, stand eine Frage in seinen Augen die er auch gleich aussprach.
"Was passiert, wenn wir bis zu Tag 10 nicht alle getötet haben?"
Paul sah plötzlich sehr finster drein.
"Das habe ich interessanter Weise erfahren, als wir in unsere Zimmer geführt wurden. Nach der ersten Runde. Der Professor hat sich mit drei Kollegen unterhalten und ich habe ein bisschen davon aufgeschnappt."
Ovid setzte sich in einen Stuhl und sah nun auch interessiert zu Paul. Der junge Mann schien plötzlich sehr verletzlich und nervös.
"Entweder lassen sie unsere Körper im momentanen Zustand und erhöhen die Narkose so weit, bis wir daran sterben. Wie bei zu vielen Schlaftabletten. Dann wird unser Bewusstsein in dieser Welt leben, aber Stück für Stück unfähiger, solange bis wir ohnmächtig werden und unter der Nadel sterben."
Alex war schrecklich blass geworden. Bei Ovid war das schwerer zu sagen.
"Und weiter?" Paul holte tief Luft.
"Oder sie lassen die Narkose so wie sie jetzt ist, setzten aber die Nahrung ab. Das Wasser nicht, nur die Nahrung. Töten wir die anderen nicht rechtzeitig, stirbt unser Körper. Der Schmerz des Hungers ist ab einer bestimmten Zeit so stark, dass es das Narkosemittel nicht 'verstecken' kann und wir den Schmerz auch in Valos spüren."
Ovids Blick hatte sich nun auch verdunkelt.
"Sollten wir uns also weigern die anderen zu töten, sterben wir und die Spielemacher müssen sich keine Gedanken mehr machen wie sie uns los werden, ohne das die Außenwelt es mitbekommt."
Alex zitterte leicht und biss sich auf die Lippe.
Das war das menschenunwürdigste Projekt, dass er seit Jahren mitbekommen hatte. Nicht einmal die Medien berichteten von solchen Grausamkeiten.
Paul schien sich wieder gefasst zu haben. "Also...gehen wir runter?"
Ovid nickte schwach und Alex wandte nichts dagegen ein.
Sie hatten keine Wahl. Vielleicht hatten sie die nie wieder.
Es wurde Abend und die Sonne ließ die Spitzen der Berge rot glühen. Sara saß ihm Wohnzimmer und sah aus dem Fenster. Gerade eben hatte sie noch einen kurzen Spaziergang ums Haus gemacht, doch die Abendkühle hatte sie nach drinnen verschlagen. Jetzt beobachtete sie Ari und Helene, die die steile Wiese hinauf liefen. Über ihnen kreisten zwei Vögel in der Abenddämmerung. Auch Maxi war unterwegs, allerdings alleine. Sara konnte ihn auch nicht sehen. Der Tiger schien gerne für sich zu sein. Sara legte ihre Wange auf den weichen Stoff der Couch. Sie musste an Tim und Malin denken. Sie selbst hatte die blonde, junge Frau sehr gemocht. Tim anscheinend auch. Er hatte sie damit überrascht wie niedergeschlagen er nach Malins Tod war, obwohl er wusste, dass sie nur aufgewacht war. Nur...
Sie hasste das Spiel. Es war kein Spiel. Es war der pure Horror, wie ein Film voller Mord und Totschlag und er endete mit psychischen Störungen.
Weil wir niemanden mehr haben.
Was eine scheiß kluge Idee für ein illegales Projekt. Und dabei sollte VA01 Deutschlands größter Erfolg werden. Wenn die Bevölkerung nur wüsste.
Von oben ertönte ein dumpfer Knall. Schien als wäre Robin noch wach. Ein paar weitere lautere Geräusche folgten. Verwirrt sah Sara zur Decke, was ziemlich unnötig war, da sie nicht durchschauen konnte. Sie stand auf und lauschte. Nichts. Gerade als sie sich wieder setzten wollte, ertönte ein Poltern und ein erstickter Schrei. Sara sprang auf und sprintete die Treppe hinauf.
Als sie den ersten Stock erreichte, war kein Laut mehr zu hören. Sie sah in die verschiedenen Zimmer hinein. Tim schlief seelenruhig, sie konnte sehen wie sein kräftiger Brustkorb sich gleichmäßig hob und senkte. Seine Augen waren rot gerändert. Sollte sie ihn wecken, auch wenn ihre Sorge vielleicht unbegründet war? Nein. Sara schloss die Tür und suchte weiter. Dann bemerkte sie am Ende des Ganges eine offene Tür. Außer ihr und Tim war nur noch Robin im Haus.
Ihr Puls beschleunigte sich, genau wie ihre Schritte. Als sie endlich das Gangende erreichte, rannte sie schon fast. Sie stieß die Tür auf und ihr Herz blieb einen Moment lang stehen.
Robin saß an den Bettpfosten gelehnt auf dem Boden. Aus etlichen Stichwunden rann ihm Blut, färbte sein T-Shirt rot und füllte den Raum mit metallischen Geruch. Als Sara sich wieder gefasst hatte, rannte sie zu ihm und ging vor ihm auf die Knie, legte ihre Hände an seine Wangen. "Robin!" Er sah zu ihr, das Gesicht blass. Entsetzt schüttelte er den Kopf.
"Sara...Nein. Geh weg.", murmelte er schwach und versuchte sie wegzudrücken. Sara schüttelte den Kopf und biss sich auf die Lippe um nicht zu weinen. "Nein...ich bleibe hier, versprochen!" Robin hustete.
"Du verstehst nicht, er ist noch hier."
Kaum hatte er das gesagt, hörte Sara hinter sich eine Tür ins Schloss fallen. Langsam drehte sie sich im. Paul lehnte an der Tür, ein blutiges Messer in der Hand.
"Hey. Ich hab extra auf dich gewartet. Was für ein romantischer Moment. Genieß ihn ruhig, ich habe Zeit."
Sara drehte sich zu Robin.
Der blonde Mann hatte eine rote Wange, als hätte Paul ihn damit gegen Holz geschlagen. Sie nahm Robins Hand.
"Töte ihn.", murmelte er schwach. Sara schniefte. "Ich...Nein. Ich werde niemanden töten."
Robin verschränkte seine Finger mit ihren und seufzte schwach. In seinen Augen stand der Schmerz geschrieben.
Paul lehnte immer noch an der Tür und beobachtete sie.
"Es tut mir Leid." Robin hielt mit Mühe seine Augen offen. Sara schüttelte leicht den Kopf.
"Es muss dir nicht Leid tun." Er nickte nur. "Doch. Ich hab gesagt, dass ich die beschützen werde."
Paul lachte leise.
"Wie süß!" Sara ignorierte ihn.
"Es ist nicht deine Schuld. Maxi wird das in Ordnung bringen." Sie drückte vorsichtig eine Hand auf Robins größte Wunde. Was tat sie hier? Es hatte keinen Sinn.
Plötzlich spürte sie einen brennenden Schmerz, dann einen zweiten. Und erst als sie gegen Robin sank, begriff sie, dass Paul sie erstochen hatte.
Robin legte schwach einen Arm um sie und Sara krallte sich in sein T-Shirt. Ihr Blut vermischte sich mit seinem. Nach einer kurzen Weile merkte sie, wie sein Kopf auf ihre Schulter sank.
Er war tot.
Robin hatte sich erstaunlich lange gehalten. Sara schloss die Augen und weinte.
Weinte sich selbst in den Schlaf.
Als Maxi und Tim sie fanden, war sie schon tot.
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