Runde 2, Tag 2

"Zuerst die Schwachen.", sagte Paul und sah über den Tisch zu Ovid und Alex. Ovid saß mit verschränkten Armen da. "Wer sind denn deiner Meinung nach die Schwachen?" Paul beugte sich vor. "Helene, Luis, Sara, du weißt schon." Alex runzelte die Stirn. "Warum nicht die, die uns gefährlich werden könnten?" Paul zuckte mit den Schultern.
"Damit die Gruppe begreift das auch Maxi, Robin, Felix und Tim nichts gegen uns tun können. Diesmal sind sie die hilflosen Schäfchen." Ovid senkte den Blick. "Wieso bist du so grausam?" Der blonde Mann lachte leise. "Warum nicht?" Alex schwieg, hielt den Blick aber auf Paul gerichtet.
"Und nun? Es ist schon der zweite Tag." Sein Gegenüber seufzte. "Wenn ihr nicht anfangen wollt, gehe ich halt hin." Ovid sah besorgt auf.
"Heute?" "Wann sonst?" Darauf hatten seine beiden Mitmörder keine Antwort und so sahen sie ihm nur stumm hinterher.
Paul erhob sich und verließ den Raum. Er ging in den zweiten, winzigen Stock der Hütte. Hier war ihr Schlafplatz und der Lagerraum ihrer Gegenstände. Dort nahm er seine Klinge und schob sie in die lederne Scheide mit Gürtel, den er im Rucksack gefunden hatte. Er wechselte seine Bergschuhe gegen Turnschuhe, diese waren auf Holzboden leiser. Über sein graues Shirt zog er eine schwarze Jacke. Außerdem band er sich eines der Totenkopftücher vor den Mund um sich gegen den Bergwind zu schützen und setzte anschließend die Kapuze auf. Zur Sicherheit legte er sich noch eines der langen Lederbänder um die Schulter. Er vermutete das diese die Funktion einer Peitsche und gleichzeitig eines Stricks hatte.
Als er sich umdrehte lehnte Ovid in der Tür. Die tiefbraunen Augen verrieten keinerlei Emotionen. "Viel Glück.", sagte der Lockenkopf leise, als Paul an ihm vorbeiging und keiner von beiden wusste, ob das Glück dem Mörder oder den Opfern galt. Paul nickte nur kurz, dann verließ er das Haus und machte sich auf den Weg zur Kletterwand. Paul spürte Alex und Ovids Blicke im Rücken. Wenn er erst den Anfang machte, würden ihm die anderen schon bald folgen.

Ari lag auf der Couch, auf dem Sessel daneben saß Samuel. "Glaubst du sie haben die Wahrheit gesagt, als sie meinten, sie würden uns nie wieder gehen lassen?", fragte Samuel. Er klang besorgt und spielte nervös mit der Figur eines Schäfchens, die er auf der Fensterbank gefunden hatte. Ari verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah zur Decke. "Ich weiß es echt nicht. Vielleicht wollten sie uns nur einschüchtern. Oder sie tun nur so, damit wir besser spielen." Samuel schüttelte den Kopf.
"Das wäre unlogisch. Aber..." Er schwieg und Ari drehte ihm den Kopf zu und blickte ihn erwartungsvoll an. Samuel wirkte ein wenig peinlich berührt. "Stimmt es was Sara gesagt hat? Das wir niemanden mehr haben?" Ari sah wieder zur Decke. Er kaute leicht auf seiner Lippe. "Bei mir schon."
Samuel sah ihn neugierig an und Ari gab seufzend nach. "Wahrheit ist auf dieser Welt ein Fremdwort. Mein Großvater hat bei der CIA gearbeitet und ist später ausgestiegen. Er wollte ein paar der Geheimnisse um die CIA veröffentlichen, er war nicht einverstanden mit ihren Methoden. Sie haben ihn geschnappt und getötet. Allerdings gelang es meinem Großvater die Akten meinem Vater zu geben. Jetzt ist der auch tot. Und die CIA hatte so sehr Angst, dass etwas davon ans Licht kommen könnte, dass sie meine ganze Familie verjagt oder getötet haben. Meine Tante und ich konnten nach Deutschland fliehen, allerdings ist sie an einem Tumor gestorben. Die CIA ist nicht mehr das, was sie einmal war oder sein sollte."       
Samuel nickte. "Klingt wie die Geschichte von Snowden." Ari schnaubte. "Snowden hat die Menschheit beschützen wollen, aber sie hat ihn umgebracht. Seine Geschichte ist vergessen, weil die Geheimdienste es so wollten." Samuel schwieg betroffen. Ari hatte so sehr Recht, dass es beinahe schon schmerzhaft war. "Und du?" 
Der junge Mann schüttelte rasch den Kopf. "Ich...hab eine ziemlich einfache Lebensgeschichte im Gegensatz zu dir." Ari setzte sich auf und beugte sich vor. Samuel sah krampfhaft auf das Schäfchen. "Meine Mutter war Alkoholikerin und mein Vater starb bei einem illegalen Autorennen. Das Jugendamt hat mich mitgenommen, aber ich wollte lieber in ein Waisenhaus als zu einer Pflegefamilie. Das haben die Leute nicht verstanden und mich trotzdem nem Ehepaar überlassen. Ich bin abgehauen und zu nem Kumpel gezogen. Der war allerdings auch in paar illegale Dinge verwickelt und ein Jahr vor der Einladung zu diesem Projekt ist er verschwunden. Kam nicht mehr und es hat auch keiner mehr nach ihm gesucht. Ich hab alleine weitergelebt." Ari sah verwirrt aus."Und...die Miete? Geld zum Überleben? Wie konntest du dich um sein Erbe kümmern ohne erwischt zu werden? Wovon hast du überlebt?" Samuel zuckte mit den Schultern. "Von seinen Wettgewinnen. Ist ne Menge Geld. Mit seinem Erbe hat mir ein Kumpel von dem Kumpel geholfen." Ari zog beide Augenbrauen hoch.
"Krass. Du warst also ein richtiger Streetboy ohne Hilfe in irgendner Großstadt?" Jetzt musste Samuel doch lächeln. "Es ist nicht sehr einfach...aber möglich." Ari grinste. "Und wie war dein Gangstername?" Samuel schmunzelte. "Sie nannten mich Ghost." Unsichtbar, namenlos und schweigsam. Sie nannten mich Ghost, weil ich in Daniels Leben kam und er verschwand.
Plötzlich wurde Ari wieder ernst.
"Welcher Sektor?"
"Epsilon. Und du wahrscheinlich Delta?"
Ari lächelte unglücklich. "Eine Zeitlang. Ich kam zu Valos, als ich noch in Delta lebte. Hiernach...wer weiß, wohin mit uns."
Sie hatten nie zuvor über die Sektoren gesprochen, aus denen sie kamen. Wahrscheinlich, weil sie sich alle schämten im Omega oder Epsilon Bereich zu leben - den schwärzesten Löchern der Großstädte. Alpha und Beta waren hierbei die oberste Liga, darauf folgte Gamma als Bürgersektor, Delta als Neutralzone für alle Kranken, Vebrecher, Waisen und sonstige Hilfsbedürftige aus allen Sektoren. Und am untersten Ende der Nahrungskette die Ghettos und Slums Epsilon und Omega.
Das System diente einer geordneten Gliederung des weltweiten Systems, doch in Wahrheit sortierte es nur die Schwachen und Bösartigen aus.

Luis ging durch das kniehohe, duftende Gras und lauschte den Vögeln. Helene war neben ihm und ließ ihre Fingerspitzen über die grünen Stängel und Blumen gleiten. Der Tag war sonnig, nur vereinzelte Wolken zogen über den Himmel und veränderten mit dem Wind ihre Form. Die Gegend war umwerfend. Es schien, als wollten ihnen die Projektleiter nocheinmal beweisen, dass Valos ihre psychische Gesundheit wert war. Das Gebirge ragte weit hinauf und blickte auf die Welt zu seinen Füßen. Es war ein viel freieres Gefühl, als in dem Horrorwald. Luis schien es ähnlich zu gehen. Die Besorgnis war von seinem Gesicht gewichen und er ging viel aufrechter als in Runde 1. Das Ziel der beiden Wandernden waren die hohen Felsbrocken auf dem ansteigend Hügel. Es war ein weiter Weg dort hin und sehr steil. Sie hatten noch nicht mal die Hälfte geschafft, trotzdem waren beide schon außer Atem. Und doch lohnte es sich. Sie halfen sich gegenseitig auf einen der Steinbrocken und hatten eine weite Sicht über das Licht. Das Haus wirkte klein, die Bäume dahinter winzig, doch dann kam das Gebirge. "Das ist einfach Wahnsinn!", hauchte Helene.
Luis grinste. "Man fühlt sich wie ein Adler." Helene lächelte.
"Einen Tag lang ein Adler sein..." Der junge Mann neben ihr schmunzelte. "Das wäre echt cool. Die Welt von oben sehen." Sie schwiegen eine Weile und genossen die Aussicht von dort.  Und plötzlich wurde Luis bewusst, warum sie das taten. Sie konnten nichts anderes tun...sie warteten auf den Tod durch Alex, Ovids oder Pauls Klinge. Solange die drei nicht in der Nähe waren, konnten sie nichts tun außer angespannt zu warten. Helene bemerkte seinen plötzlichen Stimmungswechsel.                         
"Alles in Ordnung?" Sie zupfte leicht an seinem Pulli. Luis seufzte. Sie waren alleine, zumindest so alleine wie es ging, er konnte also mit Helene sprechen ohne böses zu erwarten.
"Eigentlich sind wir doch wie Kaninchen. Wir sitzen hier in unserem Bau und warten und hoffen, dass die Füchse uns nicht fressen." Helene runzelte die Stirn. "Luis...du hast etwas vergessen. Wir können uns auch wehren." Luis sah sie zweifelnd an. "Sie sind drei und wir sind elf und kennen außerdem die Mörder. Ihre Chancen stehen so schlecht. Du solltest überhaupt nicht an uns zweifeln." Der junge Mann sah sie aus seinen grünen Augen trotzdem besorgt an. "Sie werden sich nicht dumm anstellen." Helene seufzte und sah wieder auf die grüne Wiese zu ihren Füßen. Plötzlich konnte sie ihre Umwelt nicht mehr genießen wie eben. Sie hatte selber Angst und irgendwo sagte ihr eine Stimme, dass Luis recht hatte. Der Tod konnte jederzeit über sie herfallen, jederzeit konnte eine strahlende Klinge auftauchen, die ihren Körper zerstocherte, jederzeit konnte sie ihre eigenen Schreie hören, jederzeit könnte jemand ihre Körper zu Boden drücken und sie hilflos wie ein Käfer auf dem Rücken machen. Jederzeit und überall konnte ein Samuel auf sie lauern. Helene war hilflos, zu oft war sie es schon gewesen und in Valos hatte es sich nicht geändert. Sie holte tief Luft und merkte, wie sehr sie zitterte. Sie warf noch einen kurzen Blick auf Luis, dann kletterte sie den Felsbrocken wieder hinab.            
Still sitzen konnte sie jetzt nicht mehr. Das Gras strich um ihre Beine, der Wind zerzauste ihr die braunen Haare. Nach einer Weile bemerkte sie, dass Luis ihr gefolgt war. Schweigend und ein paar Meter hinter ihr. Sie starrte stumpf gerade aus. Dabei bemerkte sie gerade noch den schwarzen Schemen der um eine der Hausecken bog und verschwand. Vermutlich Ari. 
Es war ihr egal. Das Versagen und die Trauer hatten sie wütend gemacht. Warum musste es immer um Tod und Verderben gehen? Um Krieg, Hass und Perfektion? Warum konnte es nicht einmal um Zusammenhalt, Liebe und Freundschaft gehen? Die Zukunft der Menschen schien nur von Wettbewerben und Qualität bestimmt zu sein. Weshalb wusch der Regen die Sorgen und den Schmutz nicht mehr fort?
Ein plötzlicher, lauter Schrei riss sie aus den Gedanken. Erschrocken drehte sie sich zu Luis um. Der junge Mann sah verwirrt aus und holte rasch zu ihr auf. "Woher kam das?" Helene deutete zitternd auf das Haus, welches nur noch ein paar Meter entfernt war. Luis rannte los und die junge Frau folgte ihm. Das Haus hatte eine lange Front und es dauerte etwas bis sie um die erste Ecke biegen konnten. Nichts. Keuchend rannten sie weiter und kehrten um die nächste Hausecke. Helene stieß einen spitzen Schrei aus. Knapp drei Meter von ihnen entfernt lag jemand am Boden. Luis kam als Erster an und kniete sich sogleich nieder. Yannik lag auf dem Boden. Er starb, dass konnten sie ganz deutlich sehen. Helene kniete nun auch nieder und nahm Yanniks Kopf in ihren Schoß. Der Blutverlust schwächte ihn stark und seine blauen Augen waren voller Schmerz. Luis sah sich rasch um, aber wie zu erwarten war der Mörder weit und breit nicht zu sehen.
"Wer war es Yannik?", fragte Luis eindringlich. Yannik verzog das Gesicht. Seine Lippen formten Worte, aber kein Ton verließ seinen Mund. Trotzdem konnte Luis es erraten. "Natürlich. Wer sonst." Er sah traurig aus und strich Yannik über das blonde Haar. Der junge Mann schloss die Augen und Luis griff nach Yanniks hat, die sich wie die eines Ertrinkenden an einen Rettungsring klammerte der keiner war. Schritte näherten sich, doch als Ari, Samuel und Malin sie erreichten, war Yannik schon tot. Ari senkte den Kopf und biss sich auf die Lippe.                                                  
"Hauptsache wir beenden es bevor es beginnt.", zitierte er Yannik mit einer Stimme voller Sarkasmus und Trauer.

Sie standen alle schweigend im Wohnzimmer. "Wir wollten es beenden. Und trotzdem hat Paul es geschafft."
Luis sah mitgenommen aus. "Wir haben noch acht Tage. Und machtlos sind wir auch nicht.", meinte Maxi. Samuel zuckte nur mit den Schultern. "Was machen sie jetzt wohl mit Yannik?", fragte Helene, meinte damit die reale Welt und klang ernsthaft besorgt. Schweigen. Keiner wusste es. Aber woher auch? "Wir sollten immer minimal zu zweit unterwegs sein.", schlug Tim vor. Er sah kurz in die Runde. Felix hielt sich wie immer abseits. Tim wusste, dass diese Option dem Kater nicht gefallen würde. Aber wem gefiel schon dauerhafte Begleitung? Garantierte das Sicherheit? Sara nickte auf sein Angebot hin leicht. Felix schwieg und verschwand die Treppe hinauf nach oben. Er löste die "Versammlung" auf. Sara ging hinaus in den langen Flur, verließ allerdings nicht das Haus. Nun verstreute sich auch der Rest der Gruppe wieder. Sie waren alle nachdenklich und unruhig. Genau wie die junge Frau. Sie versuchte diese Gefühle zu verdrängen und konzentrierte sich auf das Bild vor ihr. Es zeigte eine Gruppe von jungen Burschen, die es sich im Gras bequem gemacht hatten und den Kühen beim Grasen zuschauten. Plötzlich legte sich von hinten ein Arm um ihre Taille und sie zuckte vor Schreck zusammen. "Angst?", fragte Robin leise an ihrem Ohr. Sara drehte den Kopf leicht in seine Richtung, doch es war zu dunkel um genaue Gesichtszüge zu erkennen. Sie ahnte aber, dass er lächelte. "Ein bisschen. Wieso?" Sein Arm drückte leicht in ihre Seite. "Keine Angst...ich passe auf dich auf wenn du willst." Sara schmunzelte. "Denkst du das ich das nötig habe?" Robin lachte leise und sein Atem strich über ihren Hals. "Oh ja. Nötiger als Maxi auf jeden Fall."

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