Runde 1, Tag 9

Tag 9 und sechs Überlebende. Es konnte nicht gut gehen. Yannik wollte nicht, dass dieses verdammte Spiel verlängert wurde. Er wollte es schnell hinter sich bringen, aber er konnte nicht einfach zu Felix oder einem der anderen gehen und ihn bitten möglichst schnell alle abzuschlachten. Und er selbst wollte niemanden töten. Nicht Sara und auch sonst keinen. Er wartete geduldig darauf wie ein Schaf vor die Schlachtbank gebracht zu werden. Yannik hasste sich dafür. Er wollte nicht sterben...er hatte Angst davor.
Gleichzeitig wollte er aber nicht wie ein Feigling da stehen. Er wurde ständig beobachtet, Angst war etwas, dass er hier nicht zeigen durfte. Plötzlich schob sich eine Hand in seine und er zuckte erschrocken zusammen. Sara stand neben ihm. Das Geraschel der Blätter und das Säuseln des Windes hatten ihre Schritte übertönt. Sanft drückte ihr warme Hand seine kalte. "Du hast viel zu viel Angst. Angst ist ein guter Beschützer, aber nur solange sie dich nicht auffrisst." Yannik starrte in ihre grünen Augen. Woher wusste sie das? "Hast du keine Angst?" Sara lächelte traurig. "Vielleicht ein bisschen." Was für ein gebrochener Mensch.
Im nächsten Moment hasste er sich für diesen Gedanken. Was wusste er schon über sie?
"Der Tod scheidet die Menschen nicht, Yannik. Er bringt sie überhaupt erst zusammen. Weil das ist etwas, dass wir alle müssen. Sterben." Sie lächelte nocheinmal kurz und ließ dann seine Hand los um zu verschwinden. Wie ein Sommerregen. Überraschend und warm. Jetzt war ihm kalt. Seine Hand war leer, sein Kopf war leer. Und sein Herz...war immer schon leer gewesen.
Yannik stand unter der Buche, spürte wie der Wind seine Wange streichelte und sah zum Haus hinüber. Sara war so klug und so schwach. Vielleicht sollte Yannik die anderen bitten, sie nicht grausam zu töten. Das war lächerlich. Also ob einer dieser Abschlachter auf ihn hören würde. Yannik trottete hinüber zu der Schaukel. Sie knarrte leise im Wind. Vielleicht hatte Sara Recht. Er wachte ja nur auf. Er musste nur seinen Mörder suchen und dann würde er aus dieser schrecklichen Runde ausscheiden. Maxi trat aus dem Wald. Yannik bemerkte den Blick dieser scharfen Augen. Er blieb still sitzen und sah zu dem Tiger hinüber. Er regte sich nicht. Es schien eine Ewigkeit zu sein, in der sie sich anstarrten. Nichts an Maxi bewegte sich. Selbst der Wind schien ihn zu meiden und Yannik begann zu überlegen ob sein Gegenüber noch atmete.
Dann endlich bewegte Maxi sich.  Ohne einen weiteren Blick auf Yannik zu verschwenden ging er ins Haus. Und der Junge draußen auf der Schaukel wusste nicht, ob er erleichtert oder enttäuscht sein sollte.

Tim stand am Fenster. Er hatte die Stirn gegen das kühle Glas gelehnt und sah hinaus zum Waldrand. Nur Wald. Nichts anderes. Bäume und der endlose Regen. Er hasste Grau. Die ganze Welt war grau, grau, grau. Deswegen liebte er das Wasser. Es war blau, mal dunkler mal heller. Manchmal türkis und manchmal grün. Und er liebte es sich durch das Wasser zu bewegen. Das Geräusch, der Geruch und dieses wunderbare Gefühl. Im Wasser konnte er abschalten. Sich entspannen. Eine Wohnung musste keine Heimat sein. Auch ein Land nicht. Für Tim war das Wasser sein zu Hause. Trotz der verschmutzten Meere und der Fischleichen in Seen. Von seinen Großeltern hatte Tim wunderbare Geschichten gehört. Von Piraten und Freibeutern und Seemänner die keine Frau lieben konnten, weil die See ihr einziges Weib war. Er verstand diese Liebe. Bedienungslose Liebe und Treue. Das Wasser sprach im Rauschen der Wellen, zornte im Sturm der Brandung und nahm die Männer zu sich, die ihr Weib verraten hatten. Im Wasser konnte man nicht sprechen und diese endlose Ruhe war alle mal besser als der Lärm der Welt. Tim senkte seinen Blick auf die Fensterbank. Dort lag das blanke Messer vor ihm. Robin hatte es geputzt vor seine Zimmertür gelegt. Jetzt wartete es auf sein nächstes Blut. Tim strich mit den Fingerspitzen über die Klinge. Kalt...hart...und tödlich.
Er hob wieder den Blick und betrachtete sein Spiegelbild. Malins Haare waren heller als seine...genau wie ihre Augen. Sie war wunderschön. Und Tim hatte sie getötet. Kaltblütig. Ihre Worte waren ebenfalls wie Klingen, als sie ihn beleidigte. Und trotzdem hatte sie gelächelt, hatte sich in seinem T-Shirt festgekrallt, als könnte sie auch ihr Leben festhalten. Sie konnte nicht. Und Tim würde wieder töten. Felix. Das Blut des Katers würde noch an diesem Tag seine Klinge zieren. Mord war es, was sie hier begangen. Jeder zweite Mensch da draußen war ein Mörder. Und nur ein Drittel von ihnen hatte Waffen benutzt. Worte reichten. Tim wollte nicht morden. Und trotzdem tat er es. Warum? Selbst Malin hatte sie das alle schon gefragt und keiner hatte antworten können. Warum also? Keine Ahnung. Weil...es andere auch taten? Das war keine Ausrede. Kein Fluchtweg.
Aus dem Augenwinkel bemerkte er draußen Bewegungen. Seine Gedanken richteten sich auf Felix, der durch das braune Laub auf die Schaukeln zuschritt. Sein Mantel wehte leicht hinter ihm her. Yannik sah ihm entgegen. Und Tim beobachtete sie. Felix erreichte die Schaukeln. Yannik sah zu ihm auf. Selbst auf die Entfernung konnte Tim erkennen, dass der junge Mann keine Miene verzog. Kein Stück.
Lange Zeit sahen die beiden sich an. Dann stand Yannik von der Schaukel auf und im gleichen Moment zuckte Felix' Klinge vor wie eine beißende Schlange. Ihr Biss war tödlich. Er traf Yannik zwischen den Rippen, dort wo sein Herz saß. Der blonde Mann setzte sich wieder auf die Schaukel. Er lehnte sich leicht gegen die Kette. Müde schloss er die Augen. Felix wartete nicht. Er zog das Messer zurück und Yannik sackte ein Stück in sich zusammen. Dann holte Felix sich den Zettel.
So einfach, so leicht, so...widerstandslos.

Sara
Felix war ein Stück weit erleichtert. Sie würde sich genau wie Yannik nicht wehren. Felix steckte den Zettel ein und drehte sich um. Dann bemerkte er die Person am Fenster. Sie hatte ihn die ganze Zeit beobachtet. Jetzt erkannte Felix Tim. Dieser hauchte gegen die Scheibe und sie beschlug. Langsam malte er etwas auf das Glas. Nur mit Mühe erkannte Felix es...und als er es sah kamen ihm Ovids letzte Worte in den Sinn. Tim hatte ein Herz an die Scheibe gemalt. Und langsam verblasste es wieder.        Felix schauderte und eilte zurück ins Haus. Sein Ziel war das Männerbad. Dort säuberte er die Klinge und seine Hände. Erschöpft sah er in den Spiegel. Der Junge ihm gegenüber sah schrecklich aus. Das schwarze Haar vom Wind zerzaust, die braunen Augen müde und er hatte tiefe Augenringe. Seine Lippen war trocken und rissen leicht. Und dann tat Felix etwas, dass er selbst nicht erwartet hätte. Er nahm die Klinge und schnitt sich selbst in den Unterarm. Er spürte den Schmerz kaum, aber das rote Blut bestätigte ihn: er war noch ein Mensch. Er war noch keine Maschine. Seine zwei Finger zitterten, als er sie in das warme Blut hielt. Dann wand er sich dem Spiegel zu und begann zu schreiben. Buchstabe für Buchstabe. Schließlich trieb der Schmerz ihm doch Tränen in die Augen, allerdings bemerkte er diese kaum. Als er fertig war, wusch er die Wunde aus und zog seinen Ärmel drüber. Mit einem letzten Blick in den Spiegel verließ er das Bad.
In der Küche fand er ein Pflaster, welches er sich fürsorglich auf die Wunde klebte. Als nächstes suchte er sein Zimmer auf, verkroch sich unter der Bettdecke und versuchte die bösen Gedanken aus seinem Kopf fernzuhalten. Sein Blick war auf das Fenster gerichtet und er konnte auf den blattlosen Ast einer Buche schauen. Darauf saß eine Krähe. Sie plusterte sich auf und der kleine, schwarze Kopf drehte sich hin und her. Nach einer Weile wurde Felix müde. Die Krähe saß inzwischen reglos auf dem Ast, es sah aus als würde sie schlafen. Und endlich tat Felix es ihr nach.

Maxi war in Gedanken versunken, als er die Tür zum Badezimmer aufstieß. Er wusch sich die Erde von den Händen, griff nach dem Handtuch und sah in den Spiegel. Vor Schreck ließ er das Handtuch fallen. Auf dem Spiegel stand in blutrot ein einziges Wort...und das reichte ihm um ein mulmiges Gefühl zu bekommen.
Monster
Wer zum Teufel hatte das dahin geschrieben? Und mit wessen Blut? Es konnte nur Blut sein, Farbe gab es in diesem Haus nicht. Maxi hängte rasch das Handtuch auf und eilte aus dem Bad. Im Gemeinschaftsraum traf er auf Robin. Dieser bemerkte sofort wie aufgewühlt Maxi war. Er runzelte leicht die Stirn, während der Tiger sich ihm gegenüber in den Sessel fallen ließ. "Jemand Wahnsinniges hat eine Nachricht auf dem Badspiegel hinterlassen." Robin sah seinen Gegenüber verwirrt an. "Was? Wer?" Maxi seufzte tief. "Jemand hat mit Blut das Wort Monster auf den Badspiegel geschrieben." Robin kratzte sich immer noch verwirrt an der Schläfe. "Seltsam. Will er uns etwas sagen?" Maxi zuckte mit den Schultern, streckte die Beine aus und sah ins Feuer. "Dieses Spiel macht einige hier verrückt." "Wie Ari schon am Anfang sagte, es werden psychische Schäden zurückbleiben." 
Die beiden Männer schwiegen eine ganze Weile und lauschten dem Prasseln der Flamme und dem Rauschen des Windes in den Bäumen. Sie konnten den Sonnenuntergang nicht sehen, dazu war es zu bewölkt. Doch die Dunkelheit blieb nicht unbemerkt. Sie kroch aus dem Wald, kam aus allen Winkeln, legte sich über die Welt und verschlang sie. Mit ihr kam Stille und das Prasseln der Flammen schien auf einmal unnatürlich laut. Nach einer ganzen Weile stand Maxi auf und streckte sich.  "Ich geh mal Yannik reinholen." Robin sah verwirrt zu ihm auf. "Was?" Maxi ließ die Arme sinken und warf ihm einen kurzen Blick zu. "Naja, ich finde eine Leiche auf einer Schaukel unheimlich. Wenn sie dann knarzt und leicht vor und zurück schwankt. " Robin starrte ihn an. "Er ist tot?" Maxi legte den Kopf schief. "Gut kombiniert Sherlock. Hilfst du mir jetzt?"
Die beiden jungen Männer traten nach draußen und die Kälte kroch ihnen sofort in die Glieder. Sie konnten nur Schemen erkennen und vielleicht war es genau das, was Yannik so unheimlich wirken ließ. Zusammengesunken saß er auf der Schaukel, das Kinn auf der Brust. Maxi packte ihn unter den Armen und hob ihn so locker hoch, als wäre Yannik ein Kleinkind. Robin packte ihn an den Füßen und gemeinsam trugen sie ihn in das Haus zurück. Zweimal öffnete Robin die falsche Tür, bis er Yanniks Zimmer fand. Dort legten sie ihn auf sein Bett. Maxi knipste die Lampe neben dem Bett an. Die Lippen des Toten waren schon trocken und hatten einen leicht blauen Farbstich. Der weiße Schädel auf seinem T-Shirt war nun teilweise mit Blut bedeckt. "Jetzt sieht es wirklich wie das Logo des Punisher aus.", meinte Maxi leise. Robin zog ihm die Decke bis zu den Hüften, knipste dann das Licht aus und verließ gefolgt von Maxi das Zimmer.                         
Draußen wartete Sara. Sie schien wie ein Geist, so blass war ihr Gesicht. Robin drückte kurz ihre Hand und lächelte traurig. "Er wusste es.", sagte sie leise. "Jetzt kommt mit." Sie drehte sich um und ging den Gang entlang und anschließend die Treppe hinauf. Schweigend folgten die beiden jungen Männer ihr. Sie führte sie an eine Zimmertür, welche halb geöffnet war.
Vorsichtig stieß Maxi die Tür auf. Die Lampe neben dem Bett flackerte und erhellte den Raum immer nur sekündlich. Das Fenster war gesprungen, Federn des Kissens segelten durchs ganze Zimmer und die Decke wies Blutspritzer auf. Messerspuren waren in den Wänden und am Boden erkennbar. Eine dicke, graue Decke lag zerfleddert am Boden. Erst bei näherem hinsehen erkannten die Männer einen Mantel. Vorsichtig traten sie in das Zimmer, Sara hielt sich hinter ihnen. Sie umrundeten das Bett und sofort war alles viel klarer. Eine Gestalt lag in einer Blutlache am Boden, das T-Shirt zerfetzt. Neben ihr lehnte Tim an der Wand. Auch er war blutig, allerdings konnten sie nicht sagen wessen Blut es war. Wahrscheinlich eher Felix'. Der Asiate lag auf der Seite, das schwarze Haar verdeckte sein Gesicht. Tim sah müde und schwach zu ihnen auf. Robin starrte ihn an. Er spürte das Messer an seiner Hüfte, das Kribbeln in seinen Finger...und dann legte sich eine Hand um sein Handgelenk. "Genug.", sagte Sara leise.

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