Runde 1, Tag 2

Alex pochte an Pauls Tür. Es war schon später Vormittag und der Faulpelz war als einziger noch nicht aufgestanden.
"Paul du hohle Nuss!", rief Alex munter.
Immer noch keine Antwort.
Alex sah sich kurz um, dann öffnete er die Tür und trat ein.
Drinnen war es dunkel. Die Vorhänge waren zugezogen.
Alex drückte auf den Lichtschalter und flimmernd erwachte die Glühbirne.
Paul lag zwischen zerwühlten Kissen und Decken.
Langsam ging Alex zu ihm rüber und zog das Kissen von seinem Gesicht.
Der junge Mann sah ihn aus braunen, aufgerissenen Augen an. Seine Haut war bleich.
Alex fiel das Kissen aus der Hand.
Zitternd streckte er die Finger aus und berührte das helle Gesicht.
Es war kühl. Zu kühl für einen Lebenden. Aber Paul war auch nicht mehr am Leben.
Alex zog mit zitternden Händen das Nachthemd zurecht und legte dabei die Blessuren auf seinem Hals frei. Blaurot.
Alex keuchte. Jemand hatte Paul erwürgt. Und er hatte sich gewehrt, dass sah man deutlich.
Sara... Aber war sie es wirklich gewesen? Wäre sie dazu wirklich im Stande? Dabei durfte sie nur die Person töten, deren Name auf ihrem Zettel stand.
Apropos Zettel...
In Pauls geöffneter Hand lag ein zerknülltes Stück Papier. Alex nahm es und faltete es auseinander.
Paul
Der Mörder hatte seinem Opfer den Namenszettel in die Hand gedrückt und ihn dann erwürgt.
"Oh mein Gott..." Alex drehte sich um. In der Tür stand Ari.
"Er wurde erwürgt. Beim Schlafen.", sagte Alex und seine Stimme zitterte. Ihm kam gar nicht in den Sinn, wie verdächtig er hier aussah.
Ari aber erkannte in Alex' Augen dessen Unschuld. "Komm mit. Du solltest nicht hier bleiben."
Er nickte, stand auf und taumelte zu Ari. Dieser stützte ihn.
Ari wollte ihn nach draußen bugsieren. Frische Luft schnappen. Auf dem Gang begegneten ihnen Tim, Luis und Yannik. Diese runzelten die Stirn als sie die beiden Männer sahen.
"Stimmt was nicht?", fragte Tim.
Ari's Miene war hart. "Paul ist tot.", erklärte er knapp.
Den dreien fiel die Kinnlade hinunter und sie sahen den zwei Jungs sprachlos hinterher.
Als Ari und Alex verschwunden waren blickte Yannik zu der Zimmertür.
"Naja bei dem was gestern los war..." Luis schüttelte entsetzt den Kopf.
"Ich dachte trotzdem nicht,dass hier jemand bereit ist so schnell zu töten."
Tim nickte und fuhr sich durch die braunen Haare.
"Jetzt geht's los."
Yannik warf einen kurzen Blick auf Paul und trat dann wieder zu den anderen auf den Gang.
"Erwürgt.", sagte er knapp. Luis rieb sich die Augen. Eigentlich war er ein viel zu friedlicher Mensch für so ein Spiel.
Nun musste er sich ändern falls er überleben wollte.

Ein paar Stunden später wussten auch alle anderen Bescheid.
Es waren Ovid und Malin die zu Paul gingen, ihm die Augen schlossen und die Decke bis zum Kinn zogen.
Malin ging als Letzte aus dem Raum, machte das Licht aus und schloss die Tür.
Draußen auf dem Gang waren alle versammelt.
"Wer auch immer das getan hat", begann Malin, "Er hat sein Messer nicht benutzt. Und ganz ehrlich, wir wären alle jetzt anders drauf, wenn das erste Opfer eine aufgeschlitzte Leiche wäre." In ihrer Stimme schwang ungewohnte Bitterkeit mit.
Auf ihre Worte hin folgte Schweigen.
"Und jetzt?", fragte Helene schließlich.
"Jetzt machen wir weiter. Ganz normal. Beschäftigen uns...machen möglichst viele Aktivitäten der Avatare wegen. Und irgendwer wird irgendwen ermorden. Dann bringen wir das Opfer auf sein Zimmer, schließen die Tür und fangen wieder von vorne an.", sagte Sara leise.
Ihre Worte hatten eine gewisse Grausamkeit und doch trafen sie zu. Voll und ganz.
Maxi war der Erste. Er drehte sich um und ging. Seine Schritte hallten leise von den Wänden wieder.
Langsam löste sich auch der Rest der Gruppe auf.
Alex war der Letzte. Er verweilte noch einen Moment alleine vor der Tür, ehe er nach draußen ging. Er war nicht der Einzige der hinaus wollte.
Drüben auf dem Spielplatz saß Maxi auf einer der Schaukeln. Er hatte ein Bein angezogen, mit dem anderen stieß er die Schaukel leicht hin und her.
Die Kapuze seiner schwarzen Jacke hatte er tief ins Gesicht gezogen.
Und als Alex sich auf einen Spaziergang in den Wald losmachte, spürte er wie Maxis stechender Blick ihm folgte.
Es war ihm egal. Wenn dieser Wilde ihn töten wollte, sollte er es doch versuchen. Alex war schnell. Maxi war vielleicht viel kräftiger und größer, doch wirklich sehr schnell erschien er nicht.
Und Alex war schlank und liebte das Laufen. Der plötzliche Trotz und Überlebenswille überrascht Alex. War er Jäger oder Gejagter?

Kurz darauf hatte er das Haus hinter sich gelassen und war tiefer in den Wald eingedrungen.
Hier war es angenehm. Das Laub der Bäume raschelte leise im Wind, Äste knackten unter Alex' Schuhen. Irgendwo krächzte eine einsame Krähe. Kleine Zweige von Büschen strichen ihm durchs Gesicht, als er sich seinen Weg durchs Unterholz bahnte. Er hörte niemanden der ihm folgte.
Schließlich erreichte Alex einen kleinen Wasserlauf. Zu klein für einen Bach. Er war verschlammt und das Wasser bewegte sich nur langsam vorwärts. Er tauchte seine Hände in das Rinnsal. Das Wasser war eiskalt.
"Hallo Alex."
Der Junge zuckte erschrocken zusammen und drehte sich um. Anscheinend hatte er sich getäuscht; es war ihm doch jemand gefolgt.
Nicht weit von ihm entfernt stand Helene. Langsam stand Alex auf. Alle seine Sinne waren angespannt.
"Hallo Helene."
Sie biss sich auf die Lippe und sah auf den Boden.
"Ich...mir kam es so vor, als hättest du dich gut mit Paul verstanden. Tut mir Leid, dass er als erstes sterben musste."
Sie hob den Blick und sah ihn mitleidig aus braunen Augen an. Alex seufzte.
"Ich kannte ihn ja erst ein paar Stunden. Oder einen Tag. Wie man es nimmt."
Sie lächelte schwach.
"Schon heftig das Spiel was?" Alex nickte.
"Hätte ich das vorher gewusst, hätte ich es mir nochmal überlegt."
Helene nickte und ließ sich auf einem Baumstamm nieder.
"Darf man sich eigentlich wehren?", fragte sie plötzlich.
Alex sah sie überrascht an. Auf den raschen Themawechsel war er nicht vorbereitet.
"Also...ich weiß nicht. Ich denke schon, aber halt ohne das Messer."
Er schwieg. Sie auch. Eine unangenehme Stille.
Alex konnte sie nicht so wirklich leiden. Bei Menschen ging es bei ihm schnell, entweder er mochte sie oder nicht. Und Helene mochte er nun mal nicht. Beklommen überlegte er, wie er aus dieser Situation hinaus kommen könnte...
Und plötzlich waren sie nicht mehr alleine.
Samuel erschien direkt hinter Helene.
Bisher bemerkte nur Alex ihn.
Der schlanke Junge hatte einen seltsamen Ausdruck im Gesicht.
Seine Haut war blass, die Lippen zusammengepresst, die Augenbrauen zusammen gezogen.
Helene schien Alex' Blick zu bemerken.
Sie drehte sich rasch um. "Hey. Alles okay? Geht es dir gut?"
Sie stand langsam auf, wirkte verwirrt. Alex war fast lahm vor Schreck.
Er ahnte was kam. Samuel war nicht zufällig hier.
Und im selben Moment in dem er das dachte, zog Samuel sein Messer.
Helene keuchte erschrocken auf, sie begriff jetzt auch.
Sie taumelte nach hinten, stolperte über eine Wurzel und stürzte auf den Waldboden.
Verzweifelt versuchte sie sich aufzurappeln, doch da war Samuel schon über ihr.
Ohne zu zögern ließ er das Messer auf sie zusausen und vergrub es in ihrem Bauch.
Helene schrie vor Schmerz, Blut färbte ihr Hemd.
Alex stand ein paar Meter daneben und konnte nur entsetzt zuschauen.
Samuel zog das Messer wieder aus der Wunde und stach erneut zu.
Er kniete nun über ihr, die Hände mit ihrem Blut bespritzt.
"ALEX!", kreischte Helene und versuchte Samuel von sich zu drücken. Tränen rannen ihr über die Wange. Samuel war stärker.
Mit der einen Hand drückte er ihren Kopf nach unten, mit der anderen stach er weiter auf sie ein. Ihr T-Shirt war inzwischen blutgetränkt, die kalte Klinge des Messers war unter dem roten Farbton nicht zu erkennen.
Alex taumelte betäubt rückwärts gegen einen Baum.
Sein Atem ging panisch, er war unfähig irgendwas zu tun.
Nach drei weiteren Stichen wehrte Helene sich nicht mehr.
Sie schluchzte nur verzweifelt, wimmerte Alex Namen.
Und endlich zeigte Samuel sich "gnädig". Er drückte ihren Kopf zurück und stieß das Messer unter ihrem Kinn in Helenes Kopf.
Sie zuckte noch zweimal, dann blieb sie ruhig liegen.
Ihre Hand glitt von Samuels Oberschenkel wo sie sich festgekrallt hatte.
Der ganze Boden um die beiden herum war blutbesudelt.
Samuels Hände zitterten und das nasse Messer entglitt seinem Griff. Der junge Mann sah auf sein Opfer.
Helenes verzweifelter Blick war auf Alex gerichtet. Dieser sank schwach an dem Baum hinab ins Laub. Schweiß rann ihm von der Stirn.
Er hatte ihr beim sterben zu gesehen...und nichts getan! Nichts verdammt!
Samuel griff mit bebenden Händen in Helenes Hosentasche. Langsam zog er den zerknitterten Zettel mit dem Namen ihres Opfers heraus.
Mühsam faltete er ihn auf und las.
Dann steckte er den Zettel weg, stand auf und griff nach seinem Messer.
Seine Hände, sein T-Shirt und sogar sein Gesicht war mit Blut beschmiert. Samuel drehte sich zu Alex um.
In den Augen des Mörders stand Schuldbewusstsein, Wut und Trauer. Vor allem aber sah Samuel schrecklich müde aus.
"Hätte ich länger gewartet, hätte ich es nicht mehr gekonnt." Samuels Stimme bebte.
Alex nickte nur schwach, aber nicht weil er verstand. Der Mörder drehte sich um und taumelte durch die Bäume davon.
Alex blieb wo er war. Er saß so lange dort und starrte Helene an, bis es dunkel wurde. Den ganzen Tag lang seit dem Mittag hatte er sich nicht mehr von der Stelle bewegt und nun wurde es Abend.
Als Alex ins Haus zurück kam, konnte er in den Gesichtern der anderen sehen, dass sie es wussten.
Es war Malin die zu ihm eilte und ihn auf dem Weg ins Badezimmer stützte. Danach konnte Alex sich kaum an etwas erinnern.
Jemand brachte ihn in sein Zimmer und ins Bett. Und als Alex spät nachts einschlief, verfolgten ihn Helenes Schreie.

Auch Samuel konnte nicht schlafen. Nachdem er sich geduscht und andere Kleidung angezogen hatte, war er in den Gemeinschaftsraum getaumelt und hatte sich in einen Sessel am Feuer fallen lassen.
"Was für ein schreckliches Spiel...", murmelte er kurz bevor er einschlief.
Später in der Nacht wachte er nochmal auf, schleppte sich müde in sein Zimmer und fiel ganz bekleidet in sein Bett.
Doch diesmal konnte er nicht mehr so schnell einschlafen.
Er starrte aus dem Fenster, in den schwarzen Wald. Schwarz wie seine Seele, so kam es ihm vor.
Die Person die ihr tötet stirbt nicht, sich wacht nur auf.
Und sie erlebt trotzdem, wie es wäre zu sterben. Nur das nach dem Tod kein Mensch da sein würde, der einem die Virtuell Reality Brille abnimmt und sagt: "Gut gespielt."
Samuel drehte sich um und sah zur Tür.
Geschlossen. Und trotzdem konnte sie ihn nicht von der Außenwelt abschotten.
Nichts konnte ihn vergessen lassen, was für ein schreckliches Spiel er spielte und was er bereits getan hatte.

Er war nicht der einzige, der wach lag. Robin konnte auch nicht schlafen. Ihm war warm. Fast schon heiß.
Na, wie fühlt man sich so als Mörder?  Er stellte sich Fragen die ihn selber ärgerten.
Schlecht. Er fühlte sich schlecht. Jetzt schon. Und trotzdem würde er wieder töten, dass war ihm absolut klar. Sein Blick fiel auf das Messer auf dem Nachttisch.
Er hatte es nicht benutzt. Und er würde es sich gut überlegen, ob er es in diesem Spiel überhaupt benutzen würde. Nächste Runde vielleicht.
Es würde die nächste Runde gespielt werden. Ob sie wollten oder nicht.
Und Robin war sich sicher das jetzt schon viele nicht wollten. Er fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht und verschränkte die Arme im Nacken. Kein kaltes Sternenlicht, nicht einmal der Mond war zu sehen. Die Welt war dunkel und in dieser Dunkelheit war Robin gefangen. Gefangen als Mörder. Es kam ihm so vor, als würde er von einer schrecklichen Welt in die nächste geschubst werden. Womit hatte er das verdient? Womit hatten sie alle diese Qual hier verdient?

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