Runde 1, Tag 10

Der letzte Tag. Das hoffte Sara zumindest. Hoffentlich wurde es nicht verlängert. Heute würde es wahrscheinlich das letzte Blutbad geben. Was für ein epischer Titel...Das letzte Blutbad. Sara saß am Fenster ihres Zimmers und sah nach draußen. Über Nacht hatte es geregnet. Es fiel immer noch ein leichter Nieselregen. Der Himmel weinte und seine Tränen benetzten Pflanzen, Tiere und Gebäude. Der Tag war grau, so grau wie fast jeder andere Tag hier auch grau gewesen war. Draußen war kein Unterschied mehr zu drinnen. Es war genauso grau und kalt. Außerdem war es in dem Haus still. So still wie auf einem Friedhof. Und das war dieses Horrorhaus ja auch; ein Friedhof. Neun Tote lagen in diesem Gebäude, jeder in seinem Zimmer und unterschiedlich entstellt. Sara senkte den Blick in ihren Schoß. Dort lag die Klinge, blank und unberührt von Blut. Sie würden dich auch töten. So lauteten Felix' Worte am siebten Tag auf der Veranda. Sara nahm das Messer in die Hand und es fühlte sich sofort falsch an. Es gehörte nicht dorthin und trotzdem schloss Sara ihre Finger darum und verließ ihr Zimmer. Sie versuchte leise wie Felix zu sein, als sie hinunter in den Gemeinschaftsraum ging. Dort war sie nicht die Erste. Maxi lehnte neben dem Kamin, die Kapuze auf, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Seine Miene war finster und in den braunen Augen brannte ein wütendes Feuer, von dem Sara sich nicht erklären konnte woher es kam. Er warf nur einen kurzen Blick auf das Messer in Saras Hand und wandte seinen Blick dann wieder zum Boden. Sara lehnte sich neben die Wand am Fenster. Hier war es kalt, trotzdem wollte sie nicht zum Feuer. Sie hatte zwei Stoffjacken übereinander gezogen, die Joggingjacke aus dem Kleiderschrank und ihre Avatarjacke. Draußen wollte es kaum hell werden, obwohl inzwischen bestimmt später Vormittag war. Die beiden standen schon eine gefühlte Ewigkeit so da, als Robin den Raum betrat. Er schien nicht besser gelaunt als die anderen beiden. Er ließ sich in einen Sessel nahe der Tür fallen. Ein kurzer, überraschter Blick auf Saras Messer, ein kurzer, besorgter Blick auf Maxis gefüllte Taschen, dann wurde auch er geistesabwesend. Eine ganze Weile später kam Tim. Er sah müde und blass aus, nur ein bisschen erholt von gestern. Mit verschränkten Armen lehnte er sich in den Türrahmen und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Und plötzlich war die Anspannung da. Es hatte alle vier in den Gemeinschaftsraum gezogen und jetzt saßen sie hier, gemeinsam, jeder Mörder und Opfer zugleich. Jeder, außer die junge Frau am Fenster.
Sara war nachdenklich. Sie würde die Runde nicht gewinnen, allein weil sie es nicht wollte. Tim hätte Chancen gehabt, doch da Felix nicht kampflos gestorben war, war Tim viel zu erschöpft um es mit Robin oder Maxi aufzunehmen. Die beiden Gewinnermöglichkeiten lagen also bei dem Tiger und Robin. Auch wenn sie sich für diese Neugier hasste, so fragte sich Sara doch was im Zweikampf wohl nützlicher wäre. Robins Geschicklichkeit oder Maxis Kraft? Tim würde trotz seiner Niederlage eine wichtige Rolle spielen, denn er könnte einen der beiden immer noch beeinträchtigen. Sie hasste sich für diese Gedanken, so gefühllos wollte sie nicht sein. Sara seufzte. "Vier Personen und nur ein Sieger. Es ist okay, wenn ihr dieser Sieger sein wollt, aber macht euch bitte auch Gedanken worüber ich Sieger seid. Ein Mordspiel. Ist das etwas worauf man stolz sein kann?" Maxi sah sie kurz an. "Wir sind vielleicht auch Sieger über ein Mordspiel... aber wir sind vorallem Sieger über unser Leben. Glaubst du ich töte hier aus Spaß? Mein Leben ist mir einiges wert...auch wenn es nur ein verdammtes Computerspiel ist." Robin lächelte, aber es war ein aufgesetztes Lächeln. "Du hast gesagt, dass Sieg nicht immer alles ist. Aber das hier soll ein Spiel sein. Also geht es hier um Sieg. Wir haben uns das nicht ausgesucht und uns auch nicht die Regeln ausgedacht." Sara nickte. "Aber ihr habt auch nicht versucht sie zu brechen." Stille.
Sie spürte Tims Blick auf sich. Wusste er, dass er verlieren würde? Sara hob langsam den Blick und sah zu Maxi. Maxi sah zu Robin, Robin zu Tim und Tim zu Sara. Die junge Frau holte tief Luft ehe sie handelte. Ihr Messer zischte durch die Luft und Tim duckte sich gerade noch. Damit hatte sie alle Anwesenden überrascht und diese Zeit nutzte sie nun. Sie fuhr herum, riss das Fenster auf und kletterte so flink wie möglich aus dem Haus. Hinter ihr hörte sie fluchen. Ihr Aufkommen auf dem Boden war alles andere als elegant, sie viel vollkommen auf den nassen, harten Erdboden. Eilig rappelte sie sich auf, hörte Tims Schritte auf dem Holzboden. Endlich konnte sie wieder Luft holen und rannte sogleich los. Der Regen hatte aufgehört, doch immer noch fielen Tropfen von den Ästen. Sie ignorierte die Kälte, den Schmerz und rannte bis zum Waldrand. Auf dem Weg dorthin ignorierte sie die Schreie hinter sich. Bei den ersten Bäumen angekommen drehte sie sich kurz um und blieb stehen.
Tim rang vor dem Fenster mit Robin und Sara konnte im Hintergrund Maxi erkennen der mit großen Schritten das Zimmer verließ. Sara lief noch ein paar Schritte weiter in den Wald ehe, sie sich nochmals umdrehte. Gerade noch sah sie Robin vom Fenster verschwinden und hörte Poltern. Einen Moment später schwang Tim sich aus dem Fenster. Sein Blick raste durch die Gegend und blieb dann an Sara hängen. Diese drehte sich erschrocken um und sprintete wieder los. Sie würde sich nicht mit Gewalt gegen ihren Gegner wehren, aber auch nicht mit ausgebreiteten Armen in das Messer laufen. Äste und Blätter peitschten ihr ins Gesicht, Regentropfen fielen ihr in die Wimpern und erschwerten die Sicht. Sie stolperte über Wurzeln, Ranken klammerten sich an ihre Hosenbeine. Als wäre der Wald auf einmal gegen sie. Die ganze Zeit hörte sie Tim hinter sich, hörte das Krachen der Äste, seinen raschen Atem und die schweren Schritte auf dem Boden. Saras Seiten begann zu stechen, ihr ging langsam die Puste aus und Tim holte den Vorsprung ein. Sie versuchte es zu ignorieren und konzentrierte sich auf den Weg den sie lief. Wenn sie nur rechtzeitig Robin erreichte.
Ihr Plan musste funktionieren und sie hoffte sehnlichst, dass Robin auch auf den Gedanken kam. Für einen kurzen Moment sah sie das rote Dach zwischen den Blättern aufblitzen und hoffte, dass Tim es nicht bemerkte. Er kam immer näher und Sara wusste, dass sein Arm mit Messer eine lange Reichweite hatte. Er wird dir helfen, ganz sicher! Er wird kommen, er wird dich retten! Das waren ihre einzigen Gedanken als sie durch den Wald rannte. Das Adrenalin und die Hoffnung gaben ihr Mut, spornten sie an nicht aufzugeben. Und es war als würde sie jemand erhört haben, sie sah seinen Schatten nur kurz, doch lang genug um zu stolpern. Mit einem Schrei stürzte sie zu Boden und spürte schon fast wie Tims Messer ihr die Wirbelsäule entlangschnitt.
Doch stattdessen hörte sie nur ein erschrockenes Keuchen und einen dumpfen Aufprall. Sie hatte Dreck im Gesicht, ihr Körper brannte vor Schmerz und trotzdem setzte sie sich auf. Robin saß auf Tims reglosem Körper. Sein Messer hatte eine blutige Spur von den Schläfe über den Hals bis zum Schlüsselbein hinterlassen. Mühsam kniete Sara sich hin, während Robin zu ihre hinüber kam. Langsam half er ihr auf und stützte sie. Sein Körper war warm, genau wie sein Atem der sanft ihre Stirn streifte. Der junge Mann trug sie halb. "Warum?", fragte Robin leise. Sara lächelte müde und pustete sich eine Strähne aus der Stirn, die eigentlich verschwitzt sein sollte, aber das hatten die Spielemacher wohl noch nicht raus. "Ich wollte nicht durch seine Hand sterben." Robin lachte freudlos. "Und deshalb hast du dich ganz auf mich verlassen?" Sie zuckte schwach mit den Schultern. Sie standen eine ganze Weile schweigend beisammen, fast eng umschlungen,  den Blick auf den Wald vor ihnen gerichtet, nicht auf Tim.
Robin löste sich von Saras Arm und ging alleine ein paar Schritte weiter in den Wald. "Robin?" Er drehte sich um und seine blauen Augen blitzten. "Dein Messer...", flüsterte sie. Er lächelte nur. "Ich hab deines noch aufgehoben." Sie sahen sich einen Moment schweigend an.
"Und...und jetzt?" Der junge Mann seufzte und senkte den Blick. "Sara geh." Sie bewegte sich keinen Zentimeter. Robin sah sie verzweifelt an. "Ich bitte dich. Lauf jetzt weg." Sie schüttelte leicht den Kopf. "Wohin denn?" Robin sah beharrlich aus. "Weg. Geh einfach." Jetzt sah sie ihn traurig an.
"Und du? Was passiert jetzt mit dir?" Er ballte seine Hände zu Fäusten. "Ich halte mein Versprechen." Er würde sie nicht töten. Das hieße aber...sie drehte sich zum Dickicht.
Dort stand, von den Büschen halb verborgen Maxi, das Gesicht unter der Kapuze unerkennbar. Er wartete wie ein Henker auf den Richterspruch, um dann die Klinge zu heben. Sein Opfer drehte sich um. "Geh jetzt." Und diesmal gehorchte sie. Nach ein paar Schritten drehte sie sich noch einmal um und sah wie Robin sein letztes Messer in den Schlamm fielen ließ. Unwillkürlich traten ihr Tränen in die Augen und sie drehte sich um und rannte wieder los.

Maxi fand sie. Es dauerte seine Zeit, aber er fand sie. Und das an einem sehr außergewöhnlichen Ort. Der Wald war plötzlich an einem Hang angestiegen und endete kurz vor dem höchsten Punkt eines Hügels. Maxi wunderte sich, er hatte diesen Ort noch nie gesehen und das, obwohl der Hügel steil anstieg. Er hätte eigentlich zu sehen sein sollen. Sara stand auf der Spitze dieses Hügels und hatte ihm den Rücken zugedreht. Maxi stieg durch das nasse Gras hinauf und stellte sich neben Sara. Die Ansteigung fiel vor ihnen wieder steil ab, steil und sehr weit. Etwa 35 Meter unter ihnen begann dann wieder der Wald. Es war diesig und graue Nebelstreifen hingen zwischen den Baumwipfeln. Es waren größtenteils Nadelbäume und einzelne Kiefern wuchsen hoch aus der Masse hinaus. Es war ein wundervoller Anblick.
"Kennst du ihn? Riechst du ihn auch?" Maxi legte den Kopf leicht in den Nacken.
"Meinst du den Geruch von Regen?" Sara lächelte und nickte, Tränen standen in ihren Augen. "Es ist der schönste Geruch." Maxi streckte vorsichtig die Hand aus und schloss sie um Saras. "Das hier ist nicht wahr. Es ist virtuell...vorsimuliert. Nichts hier ist echt. Sie bekommen nicht einmal diesen Geruch hin. Sieh das ein." Sara schloss die Augen und eine einzelne Träne rann ihre Wange hinab. "Wenn...wenn wir hier raus sind...dann gehen wir wirklich in die Berge...und dann kannst du ihn wirklich riechen. Er ist soviel schöner." Sara schniefte und lächelte. "Wirklich?" Maxi lächelte. "Versprochen." Sie drückte leicht seine Hand. Eine ganze Weile standen sie dort, sahen in das Tal hinab, über den weiten Wald und all den Nebel. Sie spürten den Wind kaum. "Nur wenn es geregnet hat...oder bevor es regnet. In ganz besonderen Momenten." Wieder schwiegen sie. Dann drehte Sara sich zu Maxi und sah in seine braunen Augen. "Hast du Angst?" Maxis Stimme zitterte leicht. Sie lächelte und schüttelte den Kopf. "Nicht hiervor. Vor vielem anderen schon...aber nicht jetzt...nicht hier." Maxi schloss seine Hand um den kalten Messergriff. "Dreh dich um.", sagte er leise. Sara gehorchte, ließ seine Hand los und drehte sich wieder der Aussicht zu. Maxi trat hinter sie, legte seine Hand an ihren Kopf und zog ihn leicht zurück. Er sah wie Sara die Augen schloss. Er tat es schnell, er tat es schmerzlos. Sie gab keinen einzigen Laut von sich und als sie zu Boden sank ließ er sie nicht los und fiel mit ihr. Das Messer entglitt seinem schwachen Griff. Und dann spürte Maxi das Gras unter seinem Kopf, er hielt Sara immer noch fest. Das Gras war kalt und nass, aber ihr Körper war immer noch warm und er drückte sein Gesicht in ihr braunes, langes Haar um vor allen Zuschauern seine Emotionen zu verbergen.
Dann wurde er müde und wusste endlich, endlich, dass er jetzt aufwachen durfte aus diesem Albtraum.

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