Malin

Name: Malin Reitner
Alter: 19
Eingewiesen wegen:
Verfolgungswahn

Malin war ein sehr ruhiges Mädchen. Eigentlich schon immer und das hatte sich auch durch Valos nicht geändert.
Sie blieb nachdenklich, etwas verträumt und war sich doch stets ihrer Lage bewusst.
Greta war sehr zufrieden mit ihr, als sie erfuhr wie es um die anderen Teilnehmer stand.
Schwere Depressionen, Trauma und Persönlichkeitsstörungen.
Und doch verbarg Malin Teile ihres Charakters oder ihrer Gefühle vor ihr, die sie ihr nicht entlocken konnte.
Malin zeichnete gerne und auch sehr gut. Sie machte viele Spaziergänge und sah oft aus dem Fenster.
Greta konnte nur ahnen wohin Malins Gedanken sich wandten, doch oftmals lag sie gar nicht so falsch.
Einmal hatte sie drei Zeichnungen von Personen auf dem Schreibtisch der jungen Frau gefunden.
Sie erkannte die drei von den Videoaufnahmen aus Valos.
Sara, Ari und Tim.
Sara lächelte den Betrachter schüchtern an und strich sich mit einer Hand durch das braune Haar.
Ari hatte den Kopf gerade, doch den Blick seitlich gerichtet. Seine Lippen standen leicht offen, sein schwarzes Haar war zerzaust und aus seiner Nase floss Blut.
Er wirkte wilder als die anderen Zeichnungen.
Bei Tim wusste Greta nicht, woher die Idee stammte, denn der junge Mann war nie in Malins Anwesenheit nass gewesen. Das blonde Haare hing ihm in die Stirn, seine Wangen waren leicht gerötet und seine Lippen bläulich. Er hatte ein schiefes Lächeln und strahlend blaue Augen die den Betrachter unter den Strähnen hervor ansahen.
Trotz der Schönheit und Kreativität der Malerei musste Greta die Bilder beschlagnahmen.
"Malin, hör bitte auf die anderen Mitglieder zu zeichnen. Das ist nicht gut...nicht jetzt."
Die Blondine hatte genickt und hatte andere Dinge gemalt.
Greta betrat Malins Zimmer.
Es war ein helles, freundliches Zimmer. Auf dem Schreibtisch lag eine weitere Zeichnung.
Zuletzt hatte Greta sie am vorigen Abend gesehen, doch heute hatte sich etwas verändert. Auf dem Bild tanzten zwei Personen im Herbstlaub, sie hatten nicht erkennbare Gesichter, doch trugen Schal und Anorak.
Jetzt stand im Hintergrund eine dritte Person, mehr ein Schatten jenseits des Geschehens.
Sie hatte blonde Haare und ein Messer in der Hand.
Greta sog scharf die Luft ein.
Malin hörte das und drehte sich zu ihr um. Sie stand am Fenster.
"Gefällt sie dir nicht?", fragte die junge Frau vorsichtig.
Ihre Psychiaterin antwortete mit einer Gegenfrage.
"Erinnerst du dich, was ich dir vor drei Tagen sagte?"
Dass sie keine Bilder über Valos zeichnen sollte.
Malin zuckte mit den Schultern.
"Ich weiß nicht was ich sonst zeichnen könnte."
Greta seufzte und nahm das Bild in die Hand.
"Tiere, Häuser, Muster! Es gibt so viel. Du solltest dich nur von Valos lösen und den Blick wieder nach vorne richten."
Malin senkte den Blick. So einfach war das nun mal nicht.
Sie sagt mir ich soll von den blutenden Wunden wegsehen und so tun als hätte ich keine Schmerzen und Verletzungen.
Das ging einfach nicht.
Ihre Psychiaterin setzte sich an den Schreibtisch.
"Wie geht es dir?"
Malin zuckte mit den Schultern.
"Wie immer."
Gestern erst hatte sich ihre grauenvolle psychische Erkrankung wieder bemerkbar gemacht, in dem sie sich absolut sicher war, dass Alex mit einem Messer hinter ihr stand und darauf wartete, dass sie sich umdrehte. Malin wusste, dass wenn sie dies tat, Alex sie wieder von der Schulter bis zur Hüfte aufschlitzen würde.
"Warum sollte er das tun?", hatte Greta gefragt.
"Weil er es schon mal getan hatte."
Alex war ein Mörder. Sie auch, doch ermordet zu werden war wesentlich schrecklicher als zu töten.
Sie erinnerte sich nur zu gut wie sie in Tims Armen gestorben war und Robin sie so verzweifelt angesehen hatte.
Als könnte sie je die Gesichter ihrer Opfer und Mörder vergessen, als könnte sie je deren Reaktionen vergessen.
Es hatte sich schrecklich in ihr Gehirn eingebrannt.
Und doch vermisste sie Tim bei ihren Spaziergängen. Seine große, warme Hand. Er hatte sie ermordet, dennoch vermisste sie den jungen, blonden Mann.
"Malin?"
Die junge Frau zuckte aus ihren Gedanken zusammen.
"Du denkst wieder an Tim oder Ari, nicht wahr?"
Malin sah beschämt weg.
"Woher weißt du das?"
Greta lehnte sich zurück und musterte sie.
"Weil du gelächelt hast und deine Wangen rot wurden."
Malin zuckte mit den Schultern.
"Darf ich einen Spaziergang machen?", lenkte sie vom Thema ab. Greta lächelte liebevoll.
"Natürlich darfst du das! Dies ist kein Gefängnis!"
Malin nickte und nahm ihre Jacke und den Schal vom Haken.
Es war April, der launenhafte Monat. Es stürmte und schneite und keinen Tag später schien die Sonne warm, der Himmel wolkenlos.
Heute stand die Sonne wieder am Himmel, doch Wolken zogen dahin und ein kühler Wind wehte. Malin legte sich ihren großen, weichen Schal um Schultern und Hals und trat hinaus auf die Wiese.
Das Gebiet um die Psychiatrie war riesig, denn sie lag eine Stunde Autofahrt von Bremen entfernt.
Es gab ein kleines Wäldchen und einen Bach und hügelige Wiesenlandschaften.
Trotzdem wusste Malin, dass ein hoher Zaun das Gebiet umschloss, welcher Nachts auf Strom war.
Draußen schlug Malin ihren Lieblingsweg ein, während der Wind ihr durch die blonden, langen Haare fuhr und ihr die Wangen rötete.
Über ein paar kleine Hügel und durch ein winziges Wäldchen mit einer hübschen, aber angelegten, Allee aus Linden.
Dort gab es ein paar vereinzelte Bänke.
Auf einer dieser Bänke saß eine alte Frau, ihr Stock war an die Bank gelehnt.
Malin war verwirrt, sie konnte sich nicht erklären, wie die alte Dame auf das Gelände gekommen war. Hatte sie jemanden besucht?
Malin trat vor sie.
"Kann ich ihnen helfen?", fragte sie und ging leicht in die Hocke um auf Augenhöhe zu sein.
Die alte Frau sah aus blauen Augen zu ihr.
Vorsichtig streckte sie eine zitternde Hand aus und strich Malin über die Wange.
"Du armes, armes Mädchen.", sagte sie und Malin konnte sich nicht bewegen, so perplex war sie.
"So viel Leid schon im jungen Alter."
Die Hand der Frau war warm auf ihrer Wange.
"Es tut mir sehr Leid, was auch immer dir geschehen ist. So ein hübsches Kind."
Malin stand der Mund leicht offen.
"W-was?", fragte sie mit brüchiger Stimme.
Wer war die Frau? Was wollte sie? Malin war verwirrt.
"Ihr Kinder leidet viel zu sehr unter den Veränderungen dieser Welt. Was ist dir nur grausames geschehen?"
Malin schluckte und Tränen traten ihr in die Augen.
"Mord.", flüsterte sie.
Die Frau sah sie liebevoll und mit Mitleid an.
"Da sollte ein Junge an deiner Seite sein und dir Halt geben."
Malin schluchzte und drückte ihr Gesicht in die Hand der Frau die ihr mit dem Daumen über die Wange strich.
"Da ist ein Junge.", sagte sie und schniefte.
Die alte Frau sah sich um.
"Aber er ist nicht an deiner Seite."
Malin wimmerte auf und schüttelte den Kopf.
Die Alte strich ihr mit der anderen Hand durch das blonde Haar.
"Du armes, schönes Kind. So viel des Bösen."
Malin atmete tief durch und versuchte sich zu beruhigen.
Dann hob sie den Blick und sah in die blauen Augen der Frau.
"Möge Gott dich beschützen und sich deiner erbarmen."
Malin lächelte leicht.
"Wenn...wenn es einen Gott gibt, dann wird er sicher auf Euren Wunsch hören."
Die Frau wischte ihr die letzten Tränen weg und erhob sich. Sie griff nach ihrem Stock und strich Malin ein letztes Mal durch das Haar.
"Ach Kind.", murmelte sie, ehe sie sich in Bewegung setzte und die Allee entlang fort spazierte, als hätte sie alle Zeit der Welt.
Malin blieb vor der nun leeren Bank knien und spürte schon wieder Tränen aus ihren Augen laufen.
Sie sah der Frau hinterher, wie sie immer kleiner wurde.
Dann war sie verschwunden, als wäre sie nie dagewesen.
Aber ihr Eindruck war geblieben.

An diesem Abend nahm sie ein Stück Kohle, das sie sich erbittet hatte.
Mit sanften Strichen zog sie das schwarze Erz über das Blatt, bis ihre Hand schmerzte.
Dann ging sie schlafen.
Am nächsten Morgen saß Greta an ihrem Schreibtisch und sah auf die Zeichnung.
"Guten Morgen Malin."
Malin setzte sich auf.
"Darf ich fragen wer das ist?" Greta hob das Blatt hoch.
"Deine Oma?"
Die Blondine kannte ihre Oma nicht einmal.
Sie zuckte mit den Schultern.
"Eine Frau halt."
Vielleicht auch ein Engel.
"Greta..."
Die Psychiaterin beugte sich vor.
"Ja?"
"Es ist nicht erlaubt andere Teilnehmer von Valos zu besuchen?"
Greta schüttelte den Kopf und Malin nickte nur.
Sie kuschelte sich in die Decke und schwieg.
"War dein Spaziergang gestern schön?", fragte Greta.
Malin nickte.
"Woran hast du gedacht?"
Die junge Frau runzelte die Stirn. "Ich weiß nicht mehr."
Greta seufzte leise.
Malin sagte diesen Satz viel zu oft, als dass Greta ihn jedes mal glauben könnte.
"Möchtest du jemanden anrufen? Deine Geschwister oder Eltern? Großeltern? Freunde?"
Geschwister hatte sie keine, ihre Mutter war Alkoholikerin und ihr Vater tot, die Großeltern kannte sie nicht und Freunde...
Hatte sie wirklich mal gute, feste Freunde gehabt?
Nein.
Also schüttelte Malin zur Antwort den Kopf.
"Ich will Tim sehen."
Oder Ari. Oder Sara. Irgendwen.
Greta seufzte.
"Ich schau mal was ich machen kann, vielleicht geht telefonieren...oder E-Mails." Es war nicht das erste Mal, dass Malin Kontakt zu anderen Teilnehmern forderte.
Malin schwieg, es war besser als gar nichts.
Sie erinnerte sich wieder an die zweite Runde, kurz vor ihrem Tod.
Für einen Moment hatte sie alles gehabt.
Und im nächsten wurde ihr alles genommen.
So schnell konnte das Leben gehen, so überraschend.
"Wann...wann werde ich entlassen?", fragte sie leise.
Greta sah sie überrascht an.
"Du bist seit knapp einem Jahr hier. Die Richter sagten drei bis vier Jahre währen Pflicht und selbst danach hättet ihr noch Therapien."
Malin sank in ihr Kissen zurück.
Vier Jahre alleine.
Sie konnte es kaum fassen.
Trotzdem war es ein logischer Schluss, immerhin hatte sie Menschen umgebracht und die Regierung wollte nur sicher gehen, dass sie niemanden in der realen Welt umbringen würden.
"Was...was ist mit dem Professor?", fragte sie leise.
"Haft." Mehr sagte Greta nicht.
Malin schloss die Augen.
Was war sie für ein verletzlicher Mensch geworden?
Weinte vor alten Frauen, bemitleidete sich selbst und bedauerte ihren Zustand.
Sie war doch nur ein Mensch...ein Kind wie die alte Dame gesagt hätte.
Greta fragte etwas, doch Malin antwortete nicht.
Sie blieb reglos liegen und ließ ihre Gedanken wandern.
Irgendwann hörte sie die Tür zuschlagen.
Sie blieb den ganzen Tag im Bett, dachte viel an die alte Frau und zu viel an Valos.
Sie wollte nicht in den Gemeinschaftsraum oder die Sporthalle, nach draußen oder in die Bibliothek.
Sie wollte die anderen wieder sehen. Alle.
Sogar Maxi und Robin.
Malin wollte nur nicht in Einsamkeit liegen und sterben.
Mitten in der Nacht stand sie dann schließlich auf und zog sich eine Wolljacke über.
Dann ging sie die dunklen Gänge entlang, bis sie zu dem geschlossenen Bereich kam.
"Ich muss mit Greta sprechen.", verlangte sie von dem übermüdeten Türsteher.
Er führte sie den Gang entlang und fragte nicht nach, sie war eine psychisch Gestörte, vielleicht brauchte sie ihre Psychiaterin gerade jetzt.
Fünfmal musste er klopfen bis Greta verschlafen die Tür öffnete und sie verwirrt anblinzelte.
"Malin? Was zum-"
"Ich muss mit dir reden! Jetzt und alleine."
Greta strich sich das zottelige Haar aus der Stirn und nickte dem Aufseher zu, der wieder an seine Tür verschwand.
Innen setzte Malin sich auf Gretas Bett, damit diese sich nicht wieder hinlegen würde.

Dann trug sie ihr Anliegen vor.

Und hoffte.
Und hoffte.
Und flehte.

But I'm only human
And I bleed when I fall down
I'm only human
And I crash and I break down
Your words in my head
Knives in my heart.
(Human)

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