Luis

Name: Luis Bach
Alter: 19
Eingewiesen wegen:
Paranoide Persönlichkeitsstörung

Luis war zwar zweimal getötet worden, dennoch war er seltsam normal geblieben. Er hatte kein Trauma und weinte nicht schrecklich, hatte Depressionen oder Wahnvorstellungen. Er fühlte und verhielt sich wie vorher...
Dennoch hatten die Psychiater eine Paranoide Persönlichkeitsstörung bei ihm festgestellt, wenn auch nicht sehr stark.
Er war sehr misstrauisch und zurückhalten fremden Menschen und Umgebungen gegenüber, panisch, wenn niemand um ihn war den er kannte.
Aber die, die er kannte, denen hegte er Freundlichkeit und Wohlwollen gegenüber.
Er fühlte sich wohl, war offen und höflich.
Verständlicherweise brauchte er seine Eingewöhnungszeit, bis er einem Fremden gegenüber offener wurde.
Seine Psychiaterin Johanna versicherte ihm aber immer wieder wie "gut" es ihm im Vergleich zu den anderen ging.
Nur ein Problem bereitete ihr und auch Luis große Sorgen.
"Manchmal vergisst du im Schlaf das Atmen. Woher kommt das?"
Schon zweimal war er nachts aufgewacht, hatte verzweifelt nach Luft geschnappt, das Gesicht schon bläulich angelaufen.
Luis hatte eine Ahnung wieso.
"Nun...es ist nicht so, dass ich keine Albträume hätte. Ich habe welche und in jedem wird mir...die Kehle aufgeschnitten.
Man erstickt an seinem eigenen Blut, weißt du? Das ist ein sehr unangenehmer Tod...und ich hatte ihn gleich zweimal.
Man wird panisch, zappelt, versucht Luft zu holen und bekommt Blut in die Lungen. Das habe ich zweimal durchgemacht, virtuell natürlich, aber dennoch unheimlich real."
Er lachte nervös und schauderte.
Johanna nickte. Sie musste nicht mitschreiben, über ihrem Auge hing eine digitale Brille, die wie ein winziger Computer funktionierte und in den Sitzungen alles aufzeichnete.
Luis fand das gruselig, manchmal hatte er das Gefühl, die Psychiater sahen ihn nicht mal, so sehr waren sie auf dieses digitale Auge fixiert.
Eine durchsichtige Augenklappe quasi.
"Du träumst deinen Tod also immer wieder?"
Luis nickte.
"So etwas vergisst man nicht sehr schnell."
Johanna lächelte.
"Natürlich nicht."
Die beiden schwiegen einen Moment und schienen darauf zu warten, dass der andere etwas sagte.
Da dem aber nicht so war, ergriff Johanna wieder das Wort.
"Hast du eine Ahnung was wir dagegen machen können? Möchtest du Schlaftabletten haben?"
Luis schüttelte sofort den Kopf.
Er wollte keine Medikamente, von Anfang an schon nicht.
Da waren ihm selbst die Albträume lieber.
"Etwas anderes geht nicht?"
Johanna seufzte.
"Ich muss mir etwas anderes überlegen Luis, so ist es."
Er nickte nur.
"Möchtest du jemanden aus deiner Familie sehen? Freunde oder andere Verwandte?"
Luis schüttelte den Kopf.
Er wusste gar nicht so genau, was er überhaupt wollte.
Er würde wahrscheinlich recht früh entlassen werden, natürlich noch unter Beaufsichtigung.
Und dann was? Womit würde er sein Leben verbringen?
"Man kann immer ein neues Leben anfangen!", hatte Johanna einst gesagt.
Luis wusste, dass er dies nicht konnte.
Nicht nach Valos.
Wie ein verirrter Mensch würde er herumgeistern, verzweifelt nach dem Sinn des Lebens suchen und irgendwas mit seiner verblieben Zeit anzufangen.
Das konnte doch nicht die Heilung sein?
Wenn man nichts und niemanden mehr hatte, was sollte man dann tun?
Inzwischen betrachtete Luis die Welt der Menschen als eine Blase. Eine große Blase wo alle glücklich drin lebten, ihrem Job und ihren Hobbys nachgingen und nichts von den Grausamkeiten dieser Welt mit bekamen oder mitbekommen wollten.
Als er starb, wurde er aus dieser Blase geschleudert.
Nun befand er sich außerhalb und betrauerte die Naivität der Menschen.
Er war nicht der einzige, die anderen aus Valos sahen es vielleicht auch so.
"Vielleicht sollte ich danach zum Militär gehen.", sagte Luis laut. Das schien Johanna aus dem Konzept zu bringen.
Sie starrte ihn verdutzt an.
"Was? Zum...Militär?"
"Ja."
Die leben vielleicht auch außerhalb der Blase.
"Als...als Soldat oder was?"
Luis schüttelte den Kopf.
"Nein. Als...Sanitäter."
Er konnte die Verwundeten vielleicht besser verstehen als alle anderen, denn er kannte den Tod und den Schmerz.
Johanna nickte nur.
"Könntest du dir das antun?"
Luis schnaubte.
"Ich wurde schon lange nicht mehr gefragt, ob es mir Recht ist, was man mir antut, es wurde einfach getan."
Irgendwo in ihm hatte er einen Entschluss gefasst.
Als Militärsanitäter wäre er gut aufgehoben, bis vielleicht eines Tages eine Bombe sein Zelt hoch sprengte und sein letzter Albtraum Valos galt.
Für einen jungen Mann bist du ganz schön verbittert geworden.
Luis seufzte.
Johanna erhob sich und strich ihre Kleidung glatt.
"Na gut. Ruh dich aus, wir sprechen morgen nochmal darüber. Es dauert eh noch etwas bis...bis du entlassen wirst."
Sie lächelte kurz und verließ sein Zimmer.
Luis stand auf und trat ans Fenster.
Er sah das Meer gegen die Felsen schäumen und die Möwen im Wind fliegen.
Johanna war von seiner Idee nicht begeistert, aber was nützte ihr das?
Luis hatte seinen Entschluss gefasst.
Fast eine Stunde später kam Mila zu ihm.
Die beiden hatten sich gut angefreundet.
Luis strahlte sie an und umarmte sie.
Vom Gesicht her erinnerte sie ihn ein wenig an Yannik.
"Wo wandern die Gedanken Luis?", fragte sie in ihrem leichten Singsang. Sie hatte eine sonderbare Art sich auszudrücken, aber dem jungen Mann gefiel sie.
"Auf Pfaden aus Träumen und Erinnerungen."
Sie lächelte ihn sanft an.
Sie verhielt sich nicht wie ein Mädchen mit starker Neurose.
Mila setzte sich an seinen Tisch und zog das Schachbrett zu sich heran.
"Johanna war nicht glücklich."
Luis schnaubte und setzte sich ihr gegenüber.
"Hast du sie je glücklich gesehen?"
Mila schüttelte den Kopf und schob ihm die schwarzen Figuren zu.
"Sie ist eine von uns. Trägt eine Maske des Glücks, aber was sich darunter befindet weiß niemand so recht."
Sie hat recht.
Mila zuckte mit den schlanken Schultern und schob einen weißen Bauern vor.
"Weiß beginnt, Schwarz gewinnt.", sang sie fröhlich.
Luis gewann nie gegen sie.
"Wie das Leben und der Tod.", murmelte Luis und zog ebenfalls.
Diese Runde gewann Mila nur ganz knapp.
"Du bist gut!"
"Nicht gut genug."
Sie lachte fröhlich und stieß ihren König um.
"Das musst du nicht sein. Und wenn du es wirklich willst, dann musst du es eben lernen."
Luis wollte es nicht lernen. Er hatte einfach keine Motivation dafür, wenn er selbst nach dem dreißigsten Mal verlor.
"Lass uns etwas anderes machen.", murmelte Luis.
Mila strahlte immer noch. Luis hatte sie noch nie nicht strahlend gesehen und in einer Psychiatrie war so etwas...überraschend.
"Rausgehen!", sagte sie begeisterte und weil er nichts anderes zu tun hatte, stimmte Luis zu.

In der vergangenen Nacht hatte es geregnet und das ganze Grundstück war noch feucht.
Regentropfen glitzerten wie Perlen auf den Blättern der Pflanzen und auf den Grashalmen.
Luis reckte den Kopf und atmete tief die Luft ein.
Schwach, wie ein Hauch von schnelle vergehenden Dingen nahm er ihn war.
Es erinnerte ihn stark an Valos.
Den Geruch von Regen, den er dort hatte wahrnehmen können, war virtuell.
Dieser hier war real, aber viel schwächer und...auch frischer.
Mila beobachtete ihn aufmerksam, studierte die Emotionen in seinem Gesicht und sagte kein Wort.
Sie hakte sich bei ihm ein und gemeinsam schlenderten sie über die nasse Wiese.
Nur wenig andere Eingewiesene trieben sich bei dem Wetter draußen herum.
"Du vermisst etwas Luis.", sagte Mila plötzlich leise.
Ja.
Aber er wusste nicht was.
Mila schien es auch gar nicht wissen zu wollen, denn sie schwieg weiter.
Vermisste er jemanden? Oder etwas?
Er hatte Sehnsucht danach mit Tim über endlose Hügel und durch tiefe Wälder zu wandern...
Irgend ein Teil von ihm hatte sich an Valos gehängt, auf eine Art und Weise die er noch nicht als bedrohlich empfand.
Nur sein Bewusstsein war in Valos gewesen, nicht mal sein Körper.
"Die Erde ist doch ein komischer Ort. Warum halten wir uns hier auf, anstatt in eine schöne virtuelle Welt zu fliehen?", fragte er laut und gab Mila keine Zeit die Frage zu beantworten, denn er tat es selbst.
"Weil irgendwo in diesem Menschen noch die Sehnsucht nach etwas natürlichem ist, nach etwas real exestierendem."
Mila sah ihn aus großen Augen an.
"Glaubst du, wir können das verlieren?"
Luis schüttelte beharrlich den Kopf.
"Nein. Nein, das können wir nicht. Und weißt du wieso? Weil wir nach den Vorstellungen der Natur geschaffen sind und es bestimmte Dinge am Menschen gibt die sich nie verändern werden."
Mila lauschte ihm gespannt. Sie hatte die Sache noch nie so gesehen, hatte sich nicht einmal dafür interessiert.
"Und welche?", fragte sie neugierig.
Luis zögerte einen Moment.
"Die Realität? Ich weiß es nicht."
Mila schüttelte den Kopf.
"Keiner weiß es. Wir sind ja nur Menschen."
Luis schnaubte verächtlich über das nur, schwieg aber.
Seine Gedanken begannen sich zu wandeln, ganz von alleine und ohne Einfluss von Johanna.
"Vielleicht war Valos gar nicht so schlecht, wie wir es alle empfunden haben."
Er wurde aufgebracht und begann zu gestikulieren.
"Ich meine, wie viele von uns hätten selbstständig angefangen über die Gesellschaft und unsere Moral, über unsere Taten zu urteilen? Wer von uns hätte sich wohl selbständig aus der Blase des perfekten Lebens gerissen? Wir könnten der Menschheit die Augen öffnen! Irgendwer muss es ja tun!"
Mila zupfte an seinem Ärmel und lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich.
"Ihr seid nur vierzehn. Vielleicht muss jeder Mensch seinen eigenen Weg finden."
Luis sank plötzlich etwas in sich zusammen.
"Du hast Recht. Aber manche Menschen werden den Weg nie finden! Sie werden nie verstehen wie dumm, blind und faul wir geworden sind, wie sehr die Technik unser Leben übernimmt und führt, wie die Natur stirbt und der Mensch gar nicht merkt, dass er sich und alles um sich herum zerstört."
Mila seufzte und führte ihn wieder in Richtung Psychiatrie.
"Nein, manche werden es nie wissen. Aber die, die es wissen..."
Sie wusste nicht, wie sie den Satz beenden sollte, also ließ sie es.
Und Luis akzeptierte das.
Mila brachte ihn zurück auf sein Zimmer und setzte ihn auf das Bett.
"Du denkst zu viel kleiner Mann. Ich hole dir einen Tee, ruhe dich aus."
Sie ließ ihn auf dem Bett zurück.
Du denkst zu viel.
Du denkst zu gefährlich. Deine Anschuldigung möchten nicht gehört werden.
Das ist gefährlich.
Als Mila mit Johanna wieder kam, war er eingeschlafen.
Die Psychiaterin setzte sich ans Bett und entließ Mila.
Mit einem sehr neutralen Gesicht musterte sie den schlafenden Jungen.
Eine Weile überlegte sie, ihn in die geschlossene Abteilung zu übergeben.
Aber was konnte er schon machen? Er war ein junger, unerfahrener Mann in einer Psychiatrie am Rand einer Großstadt.
Luis würde nie jemandem gefährlich werden.
Sie dachte an die anderen Jungs aus den Aufnahmen.
Maximilian, Felix, vielleicht auch Ari, die könnten gefährlich werden, aber in der heutigen Gesellschaft würde so ein Problem leicht beseitigt werden.
Aufmüpfige Eingewiesene würden niemandem fehlen.
Nicht mal wenn sie tot waren.

Als Luis wieder aufwachte, trank er seinen Tee und unterhielt sich mit Johanna.
Er schien jedoch so ruhig, sanft und unauffällig wie eh und je.
Freundlich und besonnen, manchmal etwas abwesend.
Johanna mochte Luis. Er machte keine Probleme.
Er lebte still und würde auch still sterben, ein kleiner Mensch in der großen Welt, einer von vielen.
Und Luis ihr gegenüber hatte fast ähnliche Gedanken, nur in die andere Richtung.
Ich bin nicht der Mensch für Rebellionen, Probleme und Frechheiten. Einer von den anderen wird es machen. Ari oder Maxi, Tim oder Robin.
Einer von ihnen.
Ganz sicher.
Und er lächelte weiter und blieb ruhig und versuchte wieder in die Blase des perfekten Lebens der Menschheit zu kommen.
Aber sein Unterbewusstsein wusste es besser.
Er würde nie wieder in diese Blase kommen.

So wake me up when it's all over
When I'm wiser and I'm older
All this time I was founding myself
Didn't know I was lost.
(Wake me up)

-----------------------
Die nächsten Kapitel werden 3 Jahre nach Erstellung dieses Buches geschrieben. Daher kann mein Schreibstil sich etwas verändert haben.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top