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Laut quasseln die Schüler auf dem Gang durcheinander. Das meiste blendet Inho aus, da es ihn eh nichts angeht oder interessiert, aber manchmal kursieren Gerüchte über Lehrer, die irgendwie spannend sind. Die erzählt er zwar nicht weiter, weil die meist totaler Quatsch sind, aber unterhaltsam sind sie dennoch, wie beispielsweise die Geschichte, ihr junger Japanischlehrer wäre ein Yakuza.

Gedankenverloren öffnet er sein Schließfach, wobei ihm etwas entgegenflattert, das dort nicht hingehört. Es ist ein kleines hellblaues Briefchen, auf dem sein Name draufsteht. Jetzt ist er plötzlich froh, allein unterwegs zu sein. Inhos bester Freund wäre viel zu neugierig gewesen und hätte es ihm gleich aus der Hand gerissen. Unauffällig schiebt er es in seinen Physikhefter und verzieht sich aufs Klo damit.

Eigentlich ist es eher ein gefalteter Zettel als ein richtiger Brief, aber ein Umschlag hätte gar nicht in den Schlitz der Schließfachtür gepasst. Die Schrift kommt ihm entfernt bekannt vor, aber nicht markant genug, um sie jemandem eindeutig zuzuordnen. Er öffnet das Briefchen und ist hin- und hergerissen zwischen laut loslachen und Bauchkribbeln. Das kann doch unmöglich ernst gemeint sein. Da erlaubt sich jemand einen Scherz. Liebesbriefe sind doch total lächerlich, erst letztens hat eine Mitschülerin einen äußerst peinlichen laut vorgelesen und dann zerissen.

Aber was, wenn es doch ernst gemeint ist? Inho ist sich unschlüssig. Er wird wohl abwarten müssen, ob der Absender sich zu erkennen gibt.

Nachdem er den Brief fünfmal gelesen hat, faltet Inho ihn sorgfältig zusammen und steckt ihn in die Innenlasche seines Hausaufgabenheftes, zusätzlich mit einer Büroklammer befestigt. Nicht, dass er versehentlich rausfällt.

Nun heißt es warten.

Aber es passiert nichts. Niemand sieht ihn verstohlen an oder macht auf sich aufmerksam. Er wartet eine ganze Woche und durchsucht jeden Tag sein gesamtes Schließfach, ob der geheime Verehrer vielleicht einen weiteren Brief schreibt. Fehlanzeige. Damit nimmt derjenige sich die Möglichkeit, dass Inho antworten könnte. Natürlich könnte er einen Antwortbrief in die Tür seines Spinds stecken und warten, ob der Verehrer ihn abholt, aber es könnte auch jede andere Person diesen Brief entdecken. Das wär ungünstig.

"Mensch. Er könnte doch ruhig nochmal schreiben!", regt er sich leise auf. Frustiert schlägt er die Tür zu und zuckt leicht zusammen, als er den Physikreferendar neben sich stehen sieht. "Alles okay, Inho? Hast du etwas verloren?", fragt dieser.

"Nein... ich hab eher... etwas nicht bekommen", murmelt Inho und beißt sich dann auf die Zunge. Er hat schon zu viel gesagt. Herr Han runzelt die Stirn und Inho rennt weg.

Er verdrängt es aus seinen Gedanken und rollt die Augen, als er am nächsten Morgen daran erinnert wird. Vor der Physikstunde rempelt einer der Mitschüler, die den jungen Referendar nicht respektieren, diesen an, wodurch ihm diverse Dokumente zu Boden fallen. Einige der Mädchen, die für ihn schwärmen, eilen ihm sofort zu Hilfe, obwohl er abwinkt, und entdecken einen rosa Umschlag, der von vorne bis hinten mit Herzchenstickern verziert ist. Diesen schnappt er ihnen sofort aus der Hand.

Aufgeregt schnattern sie durcheinander. "Ist das ein Liebesbrief?? Von wem ist der??"

"Da der an mich adressiert ist, geht das niemand anderen etwas an", erwidert er freundlich lächelnd und verwahrt ihn sicher in seiner Mappe.

"Ein Liebesbrief? Wie lächerlich", macht sich der Rempler lustig.

"Ist doch süß", meint Inho trocken.

"Ist der von einer Schülerin?", hakt die Klassensprecherin nach, die zwischen Sorge und Aufregung, Enttäuschung und Hoffnung schwankt.

"Es ist ja lieb gemeint, wenn jemand mir sowas schreibt, aber mit Schülern dürfte ich sowieso nichts anfangen", stellt der Referendar freundlich, aber mit Nachdruck klar.

"Süß, sagst du? Was ist an solchem Kitsch süß?" Bedrohlich baut der nervige selbsternannte Bad Boy der Klasse sich vor Inho auf. Insgeheim ist er sicher nur neidisch darauf, dass Herr Han bei allen so gut ankommt.

"Ich find Liebesbriefe süß, wenn sie ernst gemeint sind und Mühe drinsteckt. Sag bloß, du hast noch nie einen bekommen? Wer würde dir denn auch einen schreiben?", provoziert Inho ihn. Kurz bevor Isaacs Hand seinen Shirtkragen anpackt, taucht der Physiklehrer auf, ohne den Herr Han Unterrichtsstunden mit "gefährlichen" Experimenten nicht beginnen darf, und setzt sich desinteressiert in die hinterste Reihe, wo er anfängt Tests zu korrigieren, während die Klasse mit Trafos hantiert und am Ende der Stunde jeder ein Protokoll abgeben muss, das bewertet wird.

Neugierig trödelt Inho, um einem leisen Gespräch beizuwohnen, da die Klassensprecherin den Referendar darauf anspricht, dass sie in der Abschlussklasse sind und außerdem mitten im Schuljahr und es in dem Fall doch nicht so schlimm wäre.

"Bitte", seufzt Herr Han, "bedrängt mich nicht damit. Ich kann es nicht erwidern, also zwingt mich nicht dazu, es immer wieder zu sagen, wenn die Antwort von vorneherein nein ist. Tut mir sehr leid."

Tapfer nickt sie und verlässt mit feuchten Augen den Raum. Herr Han seufzt ein weiteres Mal resigniert, dann fällt sein Blick auf Inho, der mit seinem Physikhefter in der Hand an seinem Platz sitzt und vergessen hat, im richtigen Moment zu verschwinden.

"Hast du eine Frage zum Unterricht?", erkundigt sich der Referendar.

"Ähm, nein", erwidert Inho ertappt, steckt den Hefter ein, steht auf und schultert seinen Rucksack, alles unter dem Blick von Herrn Han. Als er geht, sehen sie sich in die Augen. Inho bleibt direkt vor ihm stehen. "Sie sind ein ganz schöner Herzensbrecher", sagt er leise.

"Hab ich von dir auch schon gehört."

"Das sind nur Gerüchte", winkt Inho ab. "So wirklich ernst hat es nie jemand gemeint, und ich kann darauf verzichten, eine Beziehung zu haben, einfach nur um eine zu haben."

"Die Einstellung find ich gut."

"Mhm." Beide nicken. Spannungsgeladene Stille breitet sich aus. Inho macht sich aus dem Staub. "Also dann. Ich muss los, ich hab gleich Englisch. Bis später in Mathe!"

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