Zurück in London

Als ich meine Augen wieder öffnete, sah ich nur grün.

Mein Gesicht war umgeben von Gras und Haaren.

Roten Haaren.

„Mia?", flüsterte ich und setzte mich auf.

„Mhh?", fragte Mia.

„Geht es dir gut?"

Sie murmelte etwas Undeutliches, was ich als „ja" wertete und streckte ihren Rücken, wobei sie versuchte aufzustehen.

„Wo ist Ben?", nuschelte Mia und sah sich leicht panisch um.

Auch ich suchte mit den Augen nach Bens blondem Schopf.

„Siehst du ihn?", fragte ich Mia, die, nun noch panischer, aufgesprungen war und schon auf den Beinen stand.

„Nein", verzweifelt lief sie umher.

Schnell steckte ich den Globus ein, der auf Zwischen all den Grabsteinen im Grünen lag und half ihr beim Suchen.

„BEN?", schrie Mia.

Und da entdeckte ich ihn. Ein paar Meter weiter lag Ben in einer kleinen Kuhle, die von hohem Gras umgeben war.

„Mia, ich habe ihn!"

Wir beide stürzten sofort auf ihn zu.

Ben lag zusammengerollt da und bewegte sich nicht, weswegen ich mich zu ihm hinunter beugte und vorsichtig fühlte, ob er noch Puls hatte.

„Und?" Mia sah mich besorgt an.

„Alles gut, sein Puls ist stark. Und er wirkt unversehrt. Vermutlich hat ihn einfach nur der schnelle Ortswechsel umgehauen."

„Wobinich?", begann Ben zu nuscheln.

„Ben", stieß Mia erleichtert aus und streckte ihm ihre Hand entgegen.

Ben ergriff sie und ließ sich hochziehen.

„Wo sind wir denn?", fragte er als er wieder sicher auf den Beinen stand.

Nervös begann ich meine braunen Haare zu einem Zopf zu drehen und wieder fallen zu lassen, wodurch sie zwar unordentlich wurden, was jedoch meinem Gehirn auch nicht auf die Sprünge half. Wir waren auf einem Friedhof und dieser Friedhof ähnelte einem anderen, den ich heute schon einmal besucht hatte.

„In London"

„Und wie sind wir hier her gekommen?"

Wieder dachte ich nach. „Durch den Globus vermute ich mal."

„Ja, aber warum EBEN? Vorhin hast du ihn auch angefasst und wir sind dageblieben."

„Vielleicht...vielleicht lag es daran, dass wir ihn alle gleichzeitig berührt haben?", dachte Mia laut.

„Vielleicht...", murmelte ich nachdenklich.

Ich rannte durch die Grabreihen auf der Suche nach Fiona Millow.

An dieses Grab erinnerte ich mich, es waren nur noch ein paar Meter...hier war es.

Keuchend stemmte ich mir meine Hände in die Seite und holte die Luft wieder in meine Lunge, die ich bei meiner kleinen Sprinteinlage gerade verbraucht hatte. „Luna?" Mia und Ben näherten sich von hinten.

„Hier."

Die zwei stellten sich neben mich und wir begutachteten das Grab.

„Hast du hier den Globus gefunden?"

Ich nickte.

„Du warst mit deiner Großmutter hier, nicht?"

Wieder nickte ich.

„Was meinst du, wenn du einfach nicht mehr da warst, was hätte sie dann gemacht?", hakte Ben weiter nach.

„Ich weiß es nicht", wie oft hatte ich diesen Satz in den letzten zwei Tagen wohl schon gesagt? „Und eigentlich interessiert es mich auch nicht."

„Aber was hättest DU gemacht?" Ben ignorierte meine letzten Worte vollkommen.

„Ich hätte nach mir gesucht...und dann...ja dann wäre ich wohl nach Hause gefahren."

„Dann...", Ben umfasst mein Handgelenk: „Lass uns doch einfach zu deiner Oma nach Hause fahren. Natürlich können wir uns auch London angucken, aber da dieses Haus der einzige Ort ist, den du hier kennst, denke ich, dort müssen wir ansetzen, wenn wir wieder nach Hause möchten. Und ganz ehrlich? Ich will jetzt auch wissen, was es mit dieser ganzen Sache auf sich hat."

„Aber...", stammelte ich.

„Weißt du, wo sie wohnt?"

„Ja."

„Weißt du wie wir dort hinkommen?"

„Naja...schon?", es klang wie eine Frage. „Vielleicht können wir ein Taxi oder die U-Bahn nehmen? Für die U-Bahn müssten wir uns zwar Ticket kaufen, das Taxi wäre aber teurer" Und ich hatte leider keine Ahnung wo die nächste U-Bahnstation war "ich plädiere fürs Taxi, um ehrlich zu sein. Da wissen wir auch, dass wir ankommen."
„Taxi klingt super. Und bevor wir versuchen, nach Hause zu kommen und in Shanghai landen, forschen wir hier weiter." Mia klang optimistisch. „Sag mal Mia..." Ben zögerte. „Was ist?"

„Hast du dein Handy dabei?"

Mia schlug sich gegen die Stirn: „Mein Handy ist noch in meiner Tasche."

„Meines liegt noch in meinem Zimmer. So ein Mist. Wie sollen wir Mum jetzt erreichen?"

„Gar nicht?", schlug Mia zaghaft vor.

„Sie macht sich sicher Sorgen."

„Nicht so viele, wie wenn wir sie anrufen und sagen: Hey wir sind zusammen mit dem Mädchen dessen Mutter du kanntest, das wir aber erst seit heute kennen, auf unerklärliche Weise in England gelandet.

Ich weiß, dir ist das früher auch passiert und uns jetzt ebenfalls. Mach dir keine Sorgen, ich habe zwar keine Ahnung was wir machen sollen, aber alles locker Mama." Sie warf mir einen vielsagenden Blick zu. „Dann würde sie noch mehr Angst haben. Und vermutlich kann sie es sich sicher auch von allein erklären."

„Mia..."

„Ben, sieh es positiv. Wir sind mitten in einem Abenteuer gelandet. Mama muss auch nicht alles wissen, das wäre ja langweilig", Mia tat so, als würde sie die Einwände ihres Bruders nicht hören, steckte sich die Finger in die Ohren und begann, während wir den Friedhof überquerten, lauthals All I want for Christmas is you zu singen. Anscheinend hatte sie wirklich ein Faible für Weihnachtslieder.

Die dunkel gekleideten Menschen, die an den Gräbern ihrer verstorbenen geliebten Menschen trauerten, blickten sie fassungslos an.

Schnell holte ich zu Mia auf und stieß ihr meinen Ellbogen in die Seite.

„Autsch! ", beschwerte sie sich und ich zeigte unauffällig auf die Menschen die sie, in ihren leuchtend bunten Klamotten, pikiert musterten. „Oh...das tut mir leid, ich wollte Sie nicht stören", sie lief zart rosa an und sagte nichts mehr, bis wir den Friedhof verlassen hatten.

Als wir vor der Haustür standen, sagte ich zu meinen beiden Begleitern: „Ich weiß nicht, ob es so viel Sinn macht, wenn wir klingeln... ehrlich gesagt bezweifele ich, ob wir überhaupt reingelassen werden. Und ich weiß auch nicht, wie ich euch meiner Großmutter erklären soll. Ich wusste ja nicht einmal, wie ich mich selbst erklären soll. Auch wenn eure Mutter meinte, sie weiß von der ganzen Sache, irgendwie ist diese Frau merkwürdig. Ich vertraue ihr schlicht und einfach nicht."

Mia sah erst mich und dann Ben an. Sie war bis hier hin immer noch ganz aus dem Häuschen gewesen, in England zu sein. Und dazu noch in London. Doch nun fixierte sie mich scharf und meinte: „Dann müssen wir uns etwas überlegen. Hat das Haus einen Hintereingang?"

„Keine Ahnung."

„Einen Garten? Oder eine Terrasse?"

„Wenn man einmal um das Haus herum geht, kommt man zu einem kleinen Hintergarten, glaube ich. Aber was nützt das? Was suchen wir überhaupt?"

Und da durchfuhr es mich. Mein Traum heute Nacht, in dem kamen Mia und Ben vor und... ein Buch. Ein Buch, das mich schon dort magisch angezogen hatte und nachdem ich alles, was ich heute erfahren hatte kombinierte... Na klar! Es war DAS Buch. Das Buch, welchem die Seiten fehlten. Die Seiten, die meine Mutter gesucht hatte. Aber war es wirklich gut, wenn ich es fand?

Etwas fiel auf den Boden. Als ich nach unten schaute, lag dort der kleine Globus, der mir aus der Tasche gefallen sein musste.

Und er hatte sich geöffnet. Nur einen Spalt breit, aber aus dem Inneren ragte ein zusammengefalteter Zettel. Nachdem Ben sich nun bückte und ihn mir wortlos überreichte, las ich ihn.

Fünf sind es gewesen,

Vier sind mir entgangen,

Jahrelang schwebte ich,

zwischen Hoffen und Bangen.

Dass es mit mir endet,

dass unser Erbe nicht noch mehr Leben verschwendet.

Es wurde zu gut bewacht,

und alle wurden niedergemacht.

Wenn es passiert,

wenn ich erlösche,

erlöscht werde,

muss ich dir trotzdem noch etwas sagen:

Ich weiß mehr als er glaubt,

genau wie du...

vertrau niemandem,

und doch jedem.

Schweige und hör allem zu.

Rede, überhöre die Lügen,

das größte Rätsel, bist nur du,

aber auch die Wahrheit kann trügen.

F.M.

FM. Fiona Millow. Das war von meiner Mutter? Wusste sie, dass nur ich es lesen würde und niemand sonst? Oder hatte sie deswegen in Rätseln geschrieben? Weil sie eben nicht wusste, ob ich es lesen würde?

„Was ist denn das?", fragte Mia neugierig und auch Ben blickte mich interessiert an.

Ich reichte es ihm und Mia blickte ihm über die Schulter.

„Oh mein Gott!" Sie schlug sich eine Hand vor den Mund. „Du glaubst doch nicht, dass...dass"

Ben unterbrach sie und stellte sich vor mich, den Zettel noch immer in der Hand: „Woran starb deine Mutter?"

Ich schluckte. Warum wollte er das denn jetzt wissen? „Sie war...krank."

„Krank in welchem Sinne?", bohrte Ben nach.

„Krank im Sinne von Krebs. Warum?"

„Hör zu.",  Mia packte meine Hand, aber Ben sprach weiter: „Denkst du, dass deine Mutter vielleicht keines natürlichen Todes gestorben ist...?"

„Wie...ihr meint?"

„Ich weiß es nicht!" Mia warf sie Hände in die Luft und sah ziemlich verzweifelt aus. „Aber es hört sich auf jeden Fall so an."

„Nein, das kann nicht sein", vehement schüttelte ich den Kopf.

Mia und Ben schienen einen Wettkampf auszutragen, wer von ihnen die entsetztere Miene ziehen konnte.

"Luna...", setzte Ben, der kreideweiß geworden war, an: "Ich weiß, dass ist alles echt..."

Er schien nach Worten zu suchen. Seine Schwester half ihm: "Merkwürdig, gruselig, absurd?"

"Ja danke. Es sieht so aus als wäre...", Ben brachte die nächsten Worte nicht über seine Lippen.

"Deine Mutter schien gewusst zu haben, dass jemand sie verfolgte.", beendete Mia: "Und wenn sie verfolgt wurde, kann es auch sein, dass... sie schien sich jedenfalls ziemlich sicher zu sein, dass ihr jemand nach dem Leben trachtete."

"Nein", sagte ich nur.

"Es würde alles Sinn ergeben", flüsterte Ben.

"Aber wer sollte denn...?"

"Jemand, der mit aller Macht bekommen möchte, was auch deine Mutter haben wollte?", schlug Mia leise vor.

Leise und ganz langsam schien sich die Wahrheit in meinem Kopf einzunisten. Meine Mutter war verfolgt worden. Sie wusste, sie würde sterben. Sie...oh mein Gott. Wenn dem wirklich so war. Eigentlich müsste ich jetzt Angst bekommen. Eigentlich sollte ich die ganze Sache jetzt abbrechen. Aber, es gab etwas das ich tun konnte. Es gab endlich etwas, dass ich tun konnte, um ein Stück von meiner Mutter zurück zu bekommen. Zwar würde ich nicht SIE zurückbekommen, aber ich würde ihr nahe sein. Würde etwas herausfinden. Ich könnte etwas Sinvolles tun. Etwas Sinnvolles für SIE.

„Was...", setzte Ben an.

„Seit Jahren versuche ich jemandem die Schuld für ihren Tod zu geben. Seit JAHREN versteht ihr? Aber wem hätte ich sie denn geben sollen? Dad, ihren Ärzten, Oma, mir? Mhh? Aber jetzt habe ich jemanden und habe gerade einen Entschluss gefasst! Ich werde zu Ende bringen, was meine Mutter begonnen hat, schon weil ich herausfinden will, wer sie auf dem Gewissen hat. Ihr müsst mir natürlich nicht helfen, aber da ihr eh nicht nach Hause kommt, könntet ihr mir wenigstens dabei behilflich sein, ins Haus zu kommen und das Buch zu suchen. Ich glaube, ich weiß sogar, wo es steht. Und von da an kann ich allein weitermachen!"

„Wenn ich schon mal in ein Abenteuer gerate, will ich es auch zu Ende führen", meinte Mia ebenso entschlossen wie ich.

„Und wenn wir es hier mit kaltblütigen Mördern zu tun haben", meinte Ben: „Kann ich euch ja nicht einfach allein ins Verderben rennen lassen. Außerdem kommt ihr ja gar nicht ohne meinen Messerscharfen Verstand und mein Kombinationsvermögen zurecht!"

„Träum weiter", Mia verpasste ihrem Bruder einen Schlag auf den Hinterkopf.

Dann begannen wir, den Zettel zu analysieren und einen Plan zu schmieden.


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