Turino

Kapitel 17: Turino

„Ist es denn so schwierig für euch, sich einfach mal zu entschuldigen?", ertönte eine wütende Stimme. Verdammt, gerade war es so unfassbar bequem unter dieser dünnen Decke, dass ich viel zu faul war die Augen zu öffnen, um mich in das hitzige Gespräch einzumischen.

„Um sich zu entschuldigen, muss man erst einmal einsehen falsch gelegen zu haben. Und ich lag ganz sicher nicht falsch.", huch, das war ganz eindeutig Jaydens wütende Stimme, das klang ja nach Spaß am frühen Morgen. Aus Angst, die anderen könnten merken, dass ich wach war, kniff ich meine Augen noch ein wenig fester zusammen und atmete laut und regelmäßig.

„Du", Mias Stimme wurde immer lauter: „widerlicher Mistkerl! Du merkst nicht einmal, dass du etwas falsch gemacht hast?"

„Lass ihn, Mia.", Bens sprach ganz leise: „Es ist egal!"

„Nein ist es nicht! So etwas darf niemand meinem Bruder antun, niemand!" Mia klang richtig verzweifelt und ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, meine Augen zu öffnen, nur einen Spalt breit, und mir das Szenario anzugucken, welches sich hier bot. Jayden stand an die Fensterbank gelehnt da, beide Arme vor dem Körper verschränkt und blickte die Zwillinge abschätzig an. Ben saß auf dem zum Bett umfunktioniertem Sofa und stützte sein Kinn auf seine Hand, während seine Schwester breitbeinig dastand und mit ihren wütend funkelnden Augen und den wild vom Kopf abstehenden roten Haare, beinahe wie ein Teufel aussah. Wie ein Teufel, der seine ganze Wut und Energie auf den Jungen vor sich richtete.

Ich fand Jaydens Methoden verachtenswert, wirklich, aber in diesem Moment sah Mia so fertig aus, dass ich es einfach tun musste, um zu erfahren was in ihr vorging.

Anstatt der Gedanken, die meinen Kopf die letzten Male ausgefüllt hatten, als ich in ihren Kopf eingedrungen bin, sah ich jetzt Bilder an mir vorbeifliegen. Ben, wie er vor der Schule stand, alle anderen um ihn herum, Ben, der in der Ecke kauerte und vor sich hin flüsterte: „Ich bin nicht verrückt. Ich bin normal. Ich bin nicht verrückt." Dann sah ich einen blonden Jungen, ca. fünf oder sechs Jahre alt, vermutlich Ben, der sich vor mich (Mia) stellte, um mich vor einer Gruppe größerer Kinder zu beschützen, dann wieder Ben der flehte: „Mia, bitte hilf mir". Den Bildern folgte ein Schwall von Gedanken: Ich habe ihn allein gelassen. So oft. Er hat mich immer verteidigt. Ich habe es nicht getan.

Schnell zog ich mich wieder aus Mias Gedanken zurück. Sie wollte ihren Bruder um jeden Preis unterstützen, ihn verteidigen und sie würde nicht lockerlassen, bis Jayden sich nicht entschuldigt hat. Als mein Blick auf Jayden fiel, hatte dieser den gleichen Gesichtsausdruck aufgesetzt wie gestern, als er in Bens Geist eingedrungen war. Nein! Das reichte jetzt wirklich. Diese Reise würde für niemanden mehr ein Spaß werden, wenn Jayden andauernd die Gedanken der anderen las. An dem Tag, als wir uns begegnet waren, hat er auch versucht, in meinen Kopf einzudringen. Das hatte nicht funktioniert. Gedankenleser konnten nicht in den Geist von anderen eindringen, auch Jaydens Mutter konnte unsere Gedanken nicht lesen. Und vielleicht konnte ich dies ja ausbreiten auf Mia und Ben. Ich kniff die Augen wieder zusammen, diesmal allerdings nicht um mich schlafend zu stellen, sondern weil ich mich konzentrierte. Ich versuchte die Köpfe der anderen beiden zu ertasten, bei Mia ging das einfach in ihre Gedanken konnte ich rein und raus gehen, wie ich wollte, aber Bens Geist war schwieriger zu fassen zu kriegen. Schließlich erwischte ich aber auch seinen Kopf. Ich stellte mir eine Mauer vor, aus dicken Steinen, undurchdringlich, wie die Mauern vom Buckingham Palace. Obwohl, die Mauern waren wahrscheinlich auch nicht undurchdringlich, aber es war in diesem Moment der sicherste Ort, der mir einfiel. Diese Mauer stapelte ich um Mias und Bens Kopf herum. Als ich damit fertig war, testete ich die Mauer, indem ich mich aus ihren Köpfen zurückzog und versuchte wieder einzudringen. Es funktionierte nicht. Genial!

Ich lobte mich selbst, zu welchen Höchstleistungen ich am frühen Morgen schon in der Lage war, in der Schule gelang mir so etwas nie.

Jayden schnappte überrascht nach Luft als er, wie ich vermutete, an meine eben errichtete Mauer stieß: „Was zum...?" Er drehte sich zu mir um und sagte: „Warst du das?"

Jetzt sahen auch Mia und Ben zu mir hin und ich machte ein möglichst unschuldiges, überraschtes und verschlafenes Gesicht.

„War ich was?", fragte ich dann, engelsgleich lächelnd, nach.

Jayden knurrte und warf mir einen wütenden Blick zu.

„Schade für dich, was?", zog ich ihn auf.

Die Zwillinge sahen erst zu mir, dann zu Jayden und dann wieder zu mir: „Was ist schade für ihn?", fragte Mia dann.

„Die Tatsache, dass er nicht in der Lage ist, sich einzugestehen, dass er einen Fehler gemacht hat. Ben, Jayden ihr habt beide gemeine Dinge zueinander gesagt und ich wäre euch sehr dankbar, wenn ihr euch einfach entschuldigt, damit wir ein bisschen planen können wie es weitergeht."

Ben und Jayden blickten trotzig geradeaus.

Mia seufzte: „Wie kleine Kinder. Aber Jungs, kleine Kinder, siehst du da einen Unterschied, Luna?"

„Kleine Kinder sind wenigstens süß!"

Jetzt kicherte sie.

„Wie bitte?" Jayden zog eine gespielt entrüstete Miene und fragte dann: „Findet ihr mich etwa nicht süß?" Er zog eine Schnute und jeder von uns musste sich das Lachen verkneifen. Selbst Ben.

„Jetzt hört mal zu", startete ich erneut einen Versuch: „Ich denke, wir werden noch mit ziemlich vielen Problemen in nächster Zeit konfrontiert werden, aber ich habe ganz und gar keine Lust, dass ihr beide zu unserem größten werdet! Also vertragt euch gefälligst oder macht euren Streit unter euch aus!"

Mia nickte mir bestätigend zu und setzte mich dann neben. Ihr Gesicht hatte sich geglättet und sie wirkte nicht mehr ganz so aufgewühlt.

„Jayden", wagte Ben jetzt den ersten Schritt: „Es war unfair, was ich gesagt habe. Du kannst auf gar keinen Fall etwas dafür, dass deine Mutter Luna angeschossen hat und ich wollte dir einfach nur eins auswischen, als ich das gesagt habe. Entschuldige."

Erwartungsvoll blickten alle zu Jayden: „Schon okay.", sagte dieser nach langem Zögern: „Ich war auch ein ziemlicher Arsch. Sorry."

Ich schaute Mia an und wechselte einen Blick mit ihr. Das war eine ganz schön dünne Entschuldigung für das, was er getan hatte, aber Ben schien das nicht zu stören. Vielleicht war er sich dessen bewusst, dass Jayden zu keiner anderen Gefühlsregung oder Entschuldigung in der Lage war, denn er brachte ein schwaches Lächeln hervor und sagte: „Tu das aber nie wieder. Also in meinen Kopf eindringen."

Jayden warf mir einen raschen Blick zu. „Nie wieder.", versprach er dann.

Es geht ja jetzt auch hoffentlich nicht mehr, fügte ich in Gedanken hinzu.

Mia war aufgesprungen und schaute jetzt abenteuerlustig in die Runde: „Wie lautet der Plan?"

„Wir müssen die nächste Seite finden und die muss hier irgendwo sein.", antwortete Jayden.

„Blitzmerker.", bemerkte ich und setzte mich auf: „Aber was haben wir konkret vor?"
„Na, du schon einmal gar nichts in der nächsten Zeit.", entschied Jayden und erhielt ein, zu meinem Leidwesen, zustimmendes Nicken von den Zwillingen.

Ich presste meine Kiefer zusammen, entschloss dann aber, dass es zwecklos war, Widerstand zu leisten. Deshalb fragte ich: „Und hat irgendjemand von euch eine Idee, wie wir rausfinden können, wo die nächste Seite ist?"

Jayden sah genauso ratlos aus wie Mia und Ben. Ich blickte vom einen zum anderen. Jeder schien nachzudenken. Mia hatte ihre Zunge zwischen ihren Lippen eingequetscht und zog ihre Stirn in Falten. Ben zuckte nervös mit seinem Knie und Jayden guckte noch finsterer als sonst.

„Wir haben keinen Plan, dass wisst ihr, oder?", begann ich vorsichtig: „Bisher haben wir immer das gemacht, was wir mussten, aber jetzt..."

„Da wir keine Ahnung haben, was wir als nächstes tun, und Luna sich eh noch schonen muss, gehe ich jetzt erst einmal den Ort erkunden! Vielleicht fällt mir ja etwas dabei auf." Mia drehte sich um und wollte schon aus der Tür rausgehen, als Ben sich ihr anschloss: „Ich komme mit." Die beiden drehten sich zu mir um. „Können wir dich allein lassen?"

„Aber hallo?!" Jayden war empört: „Ich bin auch noch da!"

„Genau davor habe ich ja Angst.", murmelte Mia.

Jayden klappte den Mund auf und schien etwas Gemeines erwidern zu wollen, entschied sich dann aber anders und deutete auf das Bündel, welches er heute Nacht mitgebracht hatte. „Zieht euch was Vernünftiges an, im Pulli könnt ihr nicht rumlaufen."

Fragend sahen die Zwillinge Jayden an, griffen dann aber nach ein paar Klamotten, welche sie mit hinausnahmen. Mia warf mir noch einen entschuldigenden Blick zu, ehe die Tür hinter ihnen zufiel.

„Na, die konnten es ja gar nicht erwarten, endlich hier rauszukommen." Jayden fläzte sich auf das andere Bett, beziehungsweise Sofa, und streckte seine langen Beine aus.

„Will ich wissen, wo du die Klamotten her hast, Jayden?" Da ich wohl eh nichts anderes tun durfte, legte ich mich wieder auf den Rücken und schloss meine Augen.

„Manchmal ist es besser, nicht nachzufragen." Auch mit geschlossenen Augen, wusste ich, welcher Ausdruck auf Jaydens Gesicht lag und seufzte genervt auf. Das würden lustige Stunden werden, bis Mia und Ben wiederkamen.

„Darf ich wenigstens einen kurzen Blick drauf werfen?"

Genervt wandte ich mich Jayden zu und schüttelte den Kopf, um ihm zu klarzumachen, dass es auch nichts bringen würde noch zwanzigmal nachzufragen.

„Aber was ist, wenn sie sich entzündet?" Er war hartnäckig. Und nervig, weswegen ich jetzt die Augen verdrehte und mich einmal auf dem Bett drehte, um Jayden, der am Fenster stand, ansehen zu können. „Dann mein Lieber, wirst du auch nichts dagegen tun können, da du kein Arzt bist."

Jayden grummelte etwas und fragte dann: „Tut es weh?"

„Nur so weh, wie es tut, wenn man gestern angeschossen wurde und dann noch halb auf Narkose aus dem Krankenhaus geflohen und einmal durch Europa gereist ist."

„Du weißt, was ich meine. Außerdem war es deine Entscheidung, von dort wegzugehen."

Das stimmte. Und wenn ich an meine Bauchschmerzen oder besser den Grund dafür dachte, lief es mir noch immer kalt den Rücken runter. Vielleicht war es nicht die schlauste Entscheidung gewesen, einfach zu fliehen, aber wenn ich mir vorstellte, dem Mörder meiner Mutter gegenüber zu stehen, oder besser zu liegen, mit einer Schusswunde im Bauch und ohne die Kraft, mich wehren zu können... hatte meine Mutter wohl dieselben Schmerzen gehabt? Vermutlich, sie mussten ja etwas mit der ganzen Sache hier zu tun haben, denn vorher hatte ich sie noch nie. Das erste Mal im Haus meiner Großmutter...im Haus meiner Großmutter! Ich keuchte auf und Jayden drehte sich blitzschnell vom Fenster, zu dem er sich gedreht hatte, zu mir um. „Tut es stärker weh? Hat es sich entzündet?"

Langsam schüttelte ich den Kopf und starrte ihn mit großen Augen an.

„Was ist dann los?" Er ging ein paar Schritte auf mich zu und wedelte mit einer Hand vor meinen Augen: „Hallo?!"

„Im Haus meiner Großmutter!"

„Hääh?" Jayden sah mich irritiert an und seiner Miene nach schien er zu überlegen, ob ich komplett den Verstand verlor.

„Die Bauchschmerzen..." Ich zögerte und überlegte, wieviel er wohl schon wusste. „Ich hatte sie das erste Mal bei meiner Großmutter. Das heißt...er war da."
„Oder sie.", wandte Jayden ein: „Wieso gehst du eigentlich die ganze Zeit von einem Typen aus?"

Gute Frage. Von Anfang an war ich dem Glauben erlegen, es wäre ein Mann, der uns folgte. Mias und Bens Mutter sprach auch immer von einem Mann. Aber auch sie hatte IHN nie gesehen.

„Worauf willst du hinaus?", fragte ich mit rauer Stimme.

Einen Moment zögerte Jayden und schien seine Worte genau zu wählen: „Wenn es angefangen hat bei deiner Großmutter... vielleicht steckt sie tiefer in der Sache drin, als du denkst."

Nein. Das war unmöglich. Meine Großmutter war vielleicht kein besonders netter Mensch oder hatte besonders viel für mich übrig aber...stopp...sie war es doch gewesen, die mich unbedingt mit zum Friedhof hatte mitnehmen wollen. Sie hatte von Anfang an ein ziemlich komisches Verhalten an den Tag gelegt. Aber wenn der- (oder diejenige) die Seiten unbedingt hätte haben wollen, hätte mich diese Person doch nicht an die Stelle geführt, an der ich den Globus finden würde. Das würde das Ganze für diese Person doch noch viel schwieriger machen. Bisher war ich davon ausgegangen, dass meine Großmutter überhaupt nichts von dem Globus gewusst hatte, doch wieso hatte sie dann so vehement darauf bestanden, dass wir zum Friedhof fuhren?

Mit einem Mal ärgerte ich mich, dass ich die Gelegenheit in London nicht genutzt hatte, um meine Großmutter zur Rede zu stellen. Mich würde wirklich brennend interessieren, wie viel sie über das alles hier wusste. Hatte am Ende sogar sie den Globus neben das Grab gelegt, damit ich ihn fand?

„Vielleicht...", murmelte ich und legte mich wieder auf den Rücken. „Schade, dass wir sie nicht fragen können."

„Wirklich schade...", sagte Jayden nachdenklich und dann schwiegen wir. Während Jayden aus dem Fenster starrte und dabei die Stirn runzelte, schob ich mein Hemd und das Pflaster ein kleines bisschen hoch, um die Wunde zu betrachten. Die Ärzte in Hamburg hatten erstaunlich gute Arbeit geleistet. Meine Hüfte wirkte keineswegs so, als würde sich die Wunde entzünden, nein sie war gerade dabei, zu einem festen Strich zusammenzuwachsen. Ich zuckte zusammen, als mir einfiel, dass ja eine Narbe zurückbleiben würde. Eine sehr hässliche Narbe. Jeder, der sie sah, würde mich fragen, woher sie kam und ich würde lügen müssen. Noch schlimmer war allerdings, dass ich jedes Mal, wenn ich auf die Narbe blicken würde, an die Frau, die sie mir zugefügt hatte, würde denken müssen.

„Jayden?" Jayden brauchte einen Moment, bevor er sich vom Fenster abwandte und sich zu mir drehte. Er sah mich stumm und abwartend an.

„War sie schon immer so? Deine..." Das Wort kam mir nur schwer über die Lippen. „Mutter?"

„Du meinst, ob sie schon immer gerne auf kleine Mädchen geschossen hat?" Jaydens schwacher Versuch, ein wenig Humor in die Situation hineinzubringen, scheiterte.

„Du weißt, was ich meine." Als er sich durch seine verstrubbelten, braunen Haare fuhr, fiel mir auf, wie mitgenommen er aussah. Das lag nicht nur an den Augenringen unter seinen grünen Augen, sondern auch an dem Ausdruck in diesen. So gemein er gestern auch war, es schien ihm nicht gut zu gehen und ein wenig tat er mir leid.

„Früher war es noch nicht so schlimm...", murmelte Jayden so leise, dass ich ihn durch die lauten Stimmen, die von draußen reindrangen, kaum verstand. Er beugte den Kopf ein kleines bisschen vor und verschränkte nervös seine Hände ineinander.

„Eine großartige Mutter war sie noch nie, aber als ich ein Kind war, gab sie sich zumindest noch ein kleines bisschen Mühe, eine zu sein." Jayden stoppte kurz und schien nach Worten zu suchen. „Ich habe sie geliebt, weißt du? Trotzdem habe ich mir in den letzten Jahren gewünscht, keine Mutter zu haben. Denn keine ist besser als...oh scheiße tut mir leid!"

„Kein Problem.", sagte ich wahrheitsgemäß. „Ich glaube, ich weiß was du meinst, nachdem ich deine Mutter kennengelernt habe."

Er lächelte schwach und hielt sich dann die Hand vor den Mund, um sein Gähnen zu unterdrücken.

„Möchtest du nicht ein kleines bisschen schlafen?", fragte ich, als er ein zweites Mal nicht schaffte, sein Gähnen zu unterdrücken.

„Vielleicht..."

Ich erhob mich ächzend und stellte mich auf meine Füße. Als ich kurz schwankte, wollte Jayden mich stützten, aber ich hielt die Hand hoch, als Zeichen, dass ich keine Hilfe benötigte. Dann ging ich ein paar wacklige Schritte in Richtung Badezimmer.

„Haben wir eine Dusche?"

Er nickte, machte aber keine Anzeichen sich hinzusetzen.

„Super, ich gehe jetzt duschen. Und du legst dich hin! Du bist schon nicht zu ertragen, wenn du ausgeruht bist, aber wenn dir auch noch der Schlaf fehlt..."

Ich wollte eigentlich einen Witz machen, aber Jayden betrachtete mich ungewohnt besorgt: „Soll ich dir helfen? Bist du überhaupt schon in der Lage zu duschen?"

„Ob ich in der Lage bin zu DUSCHEN?", fragte ich fassungslos. „So schwierig ist das jetzt nicht, das sollte ich schon schaffen."

„Aber mit deiner..." Er deutete auf meine Hüfte.

Genervt verdrehte ich meine Augen und öffnete die Badezimmertür. „Die Wunde ist ja verbunden. Und ich stinke wie sonst was."
An Jaydens Naserümpfen konnte ich erkennen, dass er genauso dachte. Vielleicht war dies auch der Grund, aus dem er nicht mehr protestierte, als ich mich ins Bad schob.

„Aber schließ nicht ab, falls du umkippst!", rief er mir noch hinterher.

Eine sehr anstrengende Stunde später verließ ich das Bad wieder. Ich hatte mich unter Aufwand aller meiner Kraftreserven entkleidet und mich unter die Dusche gestellt, wobei ich, als das Wasser dann lief, peinlich genau darauf geachtet hatte, dass das riesige Pflaster auf meiner Hüfte auf gar keinen Fall nass wurde und mir schließlich frische Klamotten aus dem Zimmer geholt, in dem Jayden jetzt seelenruhig vor sich hin schlummerte.

Selbst als ich, jetzt ein weißes T-Shirt und eine mittellange Hose tragend, welche mir beide etwas zu lang waren, das Zimmer verließ, da mein Magen knurrte, wachte er nicht auf. Ich fragte mich, wann Mia und Ben wohl zurückkommen würden, aber da die beiden wohl ein kleines bisschen Zeit für sich brauchen würden, hatten sie mein vollstes Verständnis, wenn sie noch ein wenig wegblieben und die Sonne draußen genossen. Etwas, dass ich momentan nicht tun konnte, stellte ich fest, als ich mit vor Schmerz zusammen gebissenen Zähnen die schmale Holztreppe runterging und mich dabei am Geländer festhielt. Von unten hörte ich schon das Stimmengewirr, welches entstand, wenn viele Menschen an einem Ort waren und jeder den anderen unbedingt zuerst seine Geschichte erzählen wollte.

Als ich am Ende der Treppe angelangt war, starrte ich erst einmal ein paar Sekunden den Vorhang an, hinter dem wohl das Café lag, dem Stimmengewirr nach zu urteilen. Ich war noch nicht fit und somit total außer Atem, deshalb überlegte ich, ob ich mich tatsächlich in die Öffentlichkeit wagen sollte. Noch dazu in eine Öffentlichkeit in der alle italienisch sprachen. Mein knurrender Magen nahm mir schließlich meine Entscheidung ab und ich drückte mich durch den Vorhang.

Zum ersten Mal nahm ich das kleine Café richtig war: es standen überall kleine, runde Tische herum. Etwa die Hälfte der Tische war belegt, ganz hinten in der Ecke saßen drei ältere Männer, alle hatten eine Tasse vor sich und zwei der Männer sahen den dritten an, der eine Zeitung hochhielt, auf ein Bild deutete und sich anscheinend furchtbar darüber aufregte. Erkennen konnte ich nicht, was auf dem Bild zu sehen war, da es ein kleines bisschen zu weit weg stand. Einer der Männer fing meinen Blick auf und guckte verwirrt, so dass ich mich umdrehte und den Rest des Raums betrachtete. Insgesamt war das Café in einem unaufdringlichen Gelb gestrichen und überall hingen Bilder herum, auf denen lustige, bunte Vögel zu sehen waren. Ein besonders bunter hing über der Theke, an der allerhand leckere Kleinigkeiten verkauft wurden: ich konnte Macarons in blau, gelb und blau, kleine Minicrossaints und einfache Brötchen entdecken. Mir lief das Wasser im Mund zusammen und so musste es auch den ganzen anderen Menschen gehen, die eine Schlange vor der Theke bildeten, gespannt die Auslage beobachteten und anscheinend überlegten, welche der Leckereien sie kaufen sollten.

„Bon giorne!", Seniora Banucci kam auf mich zu, ein breites Lächeln auf den Lippen. Sie legte eine Hand an ihre Wange, legte den Kopf schief und schloss die Augen. Dann deutete sie mit einem Finger nach oben und schaute mich gespannt an.

„Fragen Sie, ob ich gut geschlafen habe?", fragte ich sie und sie starrte mich nur mit erwartungsvoll aufgerissenen Augen an und lächelte weiter, deshalb nickte ich und lächelte ihr zu.

„Sí, sí!"

Jetzt strahlte Seniora Banucci noch mehr und fragte mich etwas auf Italienisch. Leider verstand ich überhaupt nichts und nickte einfach nur bestätigend. Sie wuselte davon, wobei ich ihr mit meinem Blick folgte und zusah, wie sie hinter die Theke ging und sich runterbeugte, um etwas rauszuholen. Dann packte sie dieses etwas auf einen Teller und kam zu mir. Auf dem Teller lagen, wie ich in dem Moment erkannte, in dem sie sich vor mich stellte, mehrere Macarons, Croissants, Brötchen und noch anderes kleines Gebäck.

Seniora Banucci wollte mir den Teller reichen, aber ich schüttelte den Kopf.

„Ich habe kein Geld.", sagte ich und unterstrich meine Worte mit ein paar Gesten. Sie schien zu verstehen, was ich sagen wollte, schüttelte aber trotzdem den Kopf und hielt mir weiter den Teller hin.

„No problemo."

„Aber wir schlafen doch schon umsonst hier." Sie verstand mich nicht und drängte den Teller immer noch in meine Richtung, weshalb ich ihn nahm und mich bedankte.

Seniora Banucci schenkte mir noch ein mütterliches Lächeln und verschwand dann hinter der Theke.

Jetzt, wo ich mein Essen hatte, drehte ich mich um und stieg langsam wieder die Treppe hinauf. Meine Hüfte schmerzte wieder ungemein, weswegen ich mich erleichtert auf Mias und Bens Bett sinken ließ, als ich unser Zimmer wieder betrat. Jayden schnarchte immer noch vor sich hin, als ich mich über das Gebäck hermachte. Es schmeckte so köstlich, dass ich mich wirklich zusammenreißen musste um den anderen noch etwas übrig zu lassen und nicht alles allein zu essen.

Nachdem ich mir den Magen vollgeschlagen hatte, war ich so müde, dass ich mich auf dem Bett ausbreitete und noch ein wenig die Augen schloss.

Mia

Besorgt betrachtete ich meinen Bruder von der Seite. Es schien ihm zwar wieder halbwegs gut zu gehen, aber ich war mir dessen bewusst, wie stark ihn das alles getroffen hatte. Eigentlich war doch der Hauptgrund, aus dem ich so überzeugt gewesen war, bei diesem Abenteuer dabei zu sein, der, dass ich wollte, dass Ben endlich ein wenig vergaß. Seine Therapeutin meinte auch, das beste Mittel für ihn sei momentan Ablenkung. Und es ging ihm zwischenzeitlich doch echt gut. Er hat gelächelt und gelacht, wie schon lange nicht mehr und wirkte, als sein Können gefordert wurde, so konzentriert. Dann ist Jayden in seinen Kopf eingedrungen und hat diese Dinge gesagt, die mein Bruder eigentlich loslassen wollte. Natürlich hasste ich Jayden, ich hasste so ziemlich jeden Menschen, der meinem Bruder weh tat, aber Jayden tat mir auch leid. Jeder hat seine eigene Art, mit etwas umzugehen und sich vor anderen zu schützen und bei Jayden ist diese Art halt Bosheit.

„Es geht mir gut.", unterbrach Ben meine Gedanken jetzt und grinste halbherzig: „Du brauchst mich nicht die ganze Zeit anzustarren, als könnte ich mir jeden Moment meine Kleider ausziehen und nackt Tänzchen auf diesem Brunnen aufführen."

Ich lachte und band mir meine Locken, die immer noch voller Salzwasser waren und sich dank der Mischung des nassen Wassers und der heißen Sonne, noch viel mehr lockten als sonst, mühsam zu einem Knoten auf meinem Kopf zusammen.

„Wärst du nicht ganz so mager, mein lieber Bruder und hättest ein paar Muskeln, würdest du sogar zu einem Hingucker werden. So wärst du leider nur der, von dem alle Leute ihren Blick abwenden würden. Der Weggucker also.", erwiderte ich und grinste über meinen eigenen Witz.

Ben streckte mir die Zunge raus, holte dann aber fünf Euro aus seiner Hosentasche und fragte: „Hast du Lust, etwas zu essen? Ich habe auf dem Hinweg gesehen, dass es in diesem Laden dort Paninis gibt."

„Uhh.", machte ich: „Wir haben noch nicht einmal Sommerferien, sind aber schon in Italien, gehen im Meer schwimmen und essen Paninis. Ich liebe diesen Globus."

„Ich glaube eigentlich nicht, dass der Globus zum entspannten Reisen durch die Welt gedacht ist.", bemerkte Ben nachdenklich und öffnete die Tür zu einem kleinen Laden.

Ich zuckte nur mit den Schultern. „Luna muss sich erst einmal ein wenig ausruhen, es war eh nicht die beste Idee, mit einer Schusswunde in der Hüfte das Krankenhaus gleich nach der OP zu verlassen und durch die halbe Welt zu reisen."

„Ja, vermutlich.", mein Bruder blickte sich in dem Laden um. Er war sehr klein und an den Wänden standen lauter Regale, welche mit den verschiedensten Gewürzen gefüllt waren. Von Oregano bis Safran war alles dabei. Hinter einer kleinen Theke in dessen Auslage unzählige Paninis lagen, stand ein alter Mann und lächelte uns sehr erfreut, allerdings auch sehr zahnlos an. Wir bedeuteten ihm, dass wir uns ein wenig umschauen wollten und er nickte höflich.

„Aber", setzte Ben, jetzt ein wenig leiser, an. „Wenn Lunas Bauchschmerzen wirklich daherkommen, dass der...nun ja Mörder...ihrer Mutter dort war...was wollte er?"

„Na, ich denke, das ist eigentlich selbsterklärend, oder?", meinte ich. „Er wollte die Seite."

„Das kann wirklich sehr gut sein.", murmelte er nachdenklich. „Aber apropos, weißt du, wo die Seite ist?"

Erschrocken schnappte ich nach Luft. „Oh nein, das ist ja komplett untergegangen. Ich habe keine Ahnung, ich hoffe, Luna weiß es und hat sie, sonst wäre ja alles umsonst gewesen. Was meinst du steht darauf?"

„Ganz ehrlich? Ich glaube dort steht genauso viel, wie in dem Buch."
„Also nichts?"

Ben nickte bestätigend und drehte sich dann zu dem Mann um, welcher gespannt auf unsere Bestellungen wartete. Er öffnete den Mund, um zu sagen welches der vielen Paninis er gerne hätte, als ein Telefon aus einem Raum hinter der Theke klingelte. Der Mann rief laut: „Turino, Turino viene qui!"

Ein jüngerer Mann, um die dreißig, mit dunklen Haaren, gebräunter Haut und einem kleinen Bäuchlein erschien und rief: „Costa sta succedendo?"

Der ältere Mann, wahrscheinlich der Vater des jüngeren, erklärte ihm etwas auf Italienisch und verschwand dann nach hinten, vermutlich um an das, immer noch klingelnde Telefon zu gehen.

Jetzt sah uns der andere Mann (wahrscheinlich Turino) erwartungsvoll an und lächelte ein wenig gehetzt.

Ben deutete auf eines der Paninis und zeigte dem Mann, dass er gerne eines davon haben möchte.

„Sprecht ihr Englisch?", fragte dieser dann und wir nickten überrascht.

„Dann sagt einfach, was ihr haben wollt. Geht schneller."

„Okay dann bitte Margherita und was willst du?" Ben drehte sich zu mir und ich nannte meinen Wunsch.
„Nehmen wir noch etwas für die anderen mit?"

„Reicht denn unser Geld?"

Mein Bruder nickte und bestellte noch etwas. Der Mann hinter der Theke wirkte nervös und gehetzt, als er unsere Bestellungen in eine kleine Tüte packte. Als er uns diese reichen wollte, passierte es. Er machte eine hektische Armbewegung und ein ganzer Teller voller Brote fiel runter und ich konnte schon sehen, wie diese auf dem Boden aufschlugen. Im letzten Moment aber, schien der Teller auf einmal zu schweben. Nur ganz kurz, aber so lange, dass Turino sich runterbeugen und ihn auffangen konnte.

Ich wechselte einen Blick mit Ben und machte mir dadurch bewusst, dass ich mir das Ganze nicht nur eingebildet hatte. Turino saß in der Hocke und hob langsam seinen Blick. Blanke Angst stand in seinen Augen als er von mir zu Ben und wieder zurückblickte. Der Teller in seiner Hand wackelte jetzt bedrohlich.

Ich ließ mich schnell auf die Knie fallen und nahm ihm den Teller vorsichtig aus der Hand, bevor er doch noch kaputt ging.

„Ist dir das schon einmal passiert?", fragte ich leise und sah mich erst zur Eingangstür um (niemand kam rein oder stand vor dem Laden, um uns durch die Glasscheibe zu beobachten) und dann zur Tür, hinter der der alte Mann verschwunden war (auch diese machte keine Anstalten, aufzugehen).

Turino erwiderte nichts, allerdings fielen ihm seine dunklen Locken ins Gesicht, als er den Kopf nach vorne neigte.

„Es ist dir schon einmal passiert?", hakte Ben nach und ließ sich neben uns auf den Fußboden sinken.

Er nickte und wirkte immer panischer. Er wich ein wenig vor uns zurück und murmelte etwas auf Italienisch. Als ihm wieder bewusst wurde, dass wir ihn nicht verstehen konnten, erklärte er auf Englisch: „Ich bin...kein Zauberer...ich kann nur das. Ich kann nur etwas...naja schweben lassen. Bitte sagt nichts meinem Vater...ich bin nicht..."

Ich unterbrach ihn: „Das wissen wir! Wir wissen, dass du kein Zauberer bist und wir werden ganz sicher niemanden etwas davon erzählen, aber wir kennen jemanden, der etwas ähnliches kann wie du und wir können dir auch ungefähr sagen, wieso du das kannst. Obwohl wieso ist vermutlich das falsche Wort. Eher woher du es hast."
„Wirklich?" Turino starrte uns mit großen Augen an und auf einmal kam er mir gar nicht mehr vor wie ein erwachsener Mann, sondern wie ein kleines Kind vor, das man beruhigen muss.

Ben schien es wohl genauso zu gehen, denn er nickte nicht nur, sondern legte auch noch kurz seine Hand auf Turinos Schulter bevor er weitersprach: „Aber du musst uns eine Frage beantworten. Wie heißt du?"

„Turino."

„Ja.", erwiderte Ben geduldig. „Aber wie heißt du mit Nachnamen?"
„Pochetino. Wieso?"

Ich wusste worauf Ben hinaufwollte und fragte: „Du sprichst so gut Englisch, kommt jemand aus deiner Familie aus England?"

„Ja, meine Mutter. Wieso?" Der gute Turino wirkte ziemlich verzweifelt.

„Und wie heißt deine Mutter mit Nachnamen?", hakten wir weiter nach.

„Millow."

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