Training
Kapitel 19: Training
„Das geht nicht.", zischte ich Jayden aufgebracht zu, während ich mich auf das Fenster, oder besser gesagt, auf die Menschen dahinter konzentrierte.
„Natürlich geht das.", erwiderte dieser ebenso aufgebracht wie ich: „Sieh nur: so einfach. Achte auf die ältere Frau mit dem blauen, langen Kleid."
Tatsächlich, eben diese Frau, welche gerade noch in Richtung Strand gelaufen war, drehte sich auf einmal um, ging in die andere Richtung und sprang dann zweimal in die Luft. Jayden hatte seinen Blick konzentriert auf das Fenster gerichtet und als er ihn abwandte, fasste sich die Frau einmal kurz verwirrt an den Kopf und ging wieder auf den Strand zu.
Mir lief ein Schauder über den Rücken: „Menschen sind doch keine Marionetten."
„Das hast du auch schon über den kleinen Jungen und den Mann mit dem riesigen Hut gesagt."
„Und ich meine es auch noch so! Ich WILL das alles gar nicht können. Verstehst du denn nicht?", rief ich und sank zurück auf den Boden, um mich auszuruhen. Ich konnte einfach noch nicht länger als ein paar Minuten stehen.
„Nein ich verstehe es nicht! Du hast so eine großartige Gabe bekommen und es bringt nichts, wenn du sie nicht richtig nutzen kannst!", fuhr Jayden mich an.
„Ich kann doch Gedankenlesen! Und das schöpft das Potenzial meiner Gabe doch schon ziemlich gut aus, findest du nicht?"
„Aber es geht noch so viel mehr..."
„Ja und es kann ja sein, dass DU immer mehr möchtest. Aber ICH verspüre nicht den Drang dazu, Menschen wie lebende Marionetten herum zu scheuchen!"
Jayden beugte sich zu mir vor und sagte bedrohlich leise: „Du musst es ja nicht tun. Es ist aber ziemlich gut es zu können."
Anstatt vor ihm zurückzuweichen beugte auch ich mich vor und erwiderte genauso leise wie er: „Wenn ich es niemals tue dann muss ich es auch nicht können."
Genervt bog Jayden seinen Rücken wieder durch: „Probiere es doch einfach mal! Es wird niemanden umbringen, wenn du versuchst ihn einen Schritt rückwärts laufen zu lassen."
„Aber das ist es doch, oder? Ich könnte ihn umbringen, wenn ich es wollen würde. Und das ist einfach nicht in Ordnung. Niemand hat das Recht, sich so in einen anderen Menschen hineinzuschieben und ihn nicht mehr nach seinem Willen handeln zu lassen."
„Vielleicht ist es nicht richtig. Aber nach allem was mit...meiner Mutter passiert ist, solltest du doch ganz genau wissen worauf du dich eingelassen hast, als du beschlossen hast, diese Seiten zu suchen. Wir mussten einbrechen und einen Tresor knacken, DAS ist auch nicht richtig. Manchmal erfordern besondere Umstände, besondere Mittel. Solltest du dich dazu entschließen, niemals in den Kopf eines Menschen einzudringen und ihn Dinge tun zu lassen, die du möchtest, dann ist das okay. Aber wenn du die restlichen vier Seiten bekommen möchtest, dann musst du jegliche Moralvorstellungen auch einmal zur Seite legen."
Ich sah ihm in seine grünen Augen, die jetzt nicht mehr wütend funkelten, sondern mich einfach nur ganz ruhig anblickten: „Würdest du denn alles dafür tun, um diese Seite zu bekommen Jayden?"
„Wir beide wissen, dass es jemanden gibt, der alles dafür tun würde."
Ein Schauder lief mir über den Rücken, als ich an meine unerklärlichen Bauchschmerzen dachte, die vermutlich von dem Menschen herrührten, der meine Mutter getötet hatte.
„Du weißt nicht was er alles mit dem ganzen Wissen des Buches anstellen würde. Und ich glaube nicht, dass wir es erfahren wollen. Deshalb müssen wir schneller sein. Und vielleicht auch manchmal Sachen tun, die vielleicht nicht so ganz korrekt sind. Weil, er wird es auch tun, wenn er die Chance dazu bekommt."
Ich nickte. Vermutlich hatte er Recht. Mir gefiel das Ganze nicht. Es gefiel mir ganz und gar nicht, aber ich war auch schon bei jemandem eingebrochen und hatte gestohlen für die erste Seite. Auch wenn ich nicht den Drang verspürte dies wieder zu tun. Jetzt musste ich wohl auf Jayden hören und einfach versuchen, was er mir gesagt hat.
„Siehst du das Pärchen auf der Bank dort? Schaffst du es in den Kopf der Frau einzudringen?"
Ich kniff die Augen zusammen und versuchte, mich nicht von Jaydens stechendem Blick, der sich in meinen Hinterkopf bohrte, ablenken zu lassen, bevor ich die Frau anstarrte. Sie war zweifelsohne hübsch, ein paar Jahre älter als ich mit langen, dunklen Locken. Sie unterhielt sich gerade angeregt mit dem Mann neben ihr, welcher auch ein Hingucker war, denn mit seinen breiten Schultern und seinem charmanten Lächeln, zog er nicht nur die Blicke seiner Sitznachberin, sondern auch die aller versammelten Frauen auf sich. Als er sich durch die schwarzen Haare fuhr und man das Funkeln seiner Augen sogar bis zu unserem Fenster erkennen konnte, kam auch ich nicht drum herum, ihn anzustarren.
„Die Frau!", zischte Jayden an meinem Ohr und ich warf ihm einen wütenden Blick über die Schulter zu bevor ich gereizt sagte: „Ich weiß!"
„Dann versuch es jetzt auch.", erwiderte Jayden, nicht minder gereizt.
Ich konzentrierte mich voll und ganz auf die Frau, welche jetzt ihre Locken zurückwarf und kokett lächelte. Meine Stirn kräuselte sich ein wenig, als ich ganz langsam in ihren Kopf vordrang, so wie ich es auch schon bei Mia getan hatte.
Meine Güte, lässt er mich zappeln. Jetzt frag mich doch schon! Frag mich! Frag mich!
Ohne meinen Blick von der Frau zu nehmen sagte ich zu Jayden: „Ich bin jetzt in ihren Gedanken."
„Das ist doch schon einmal ein Anfang. Versuch weiter in ihren Kopf vorzudringen die Gedanken eines Menschen stellen die Eingangshalle dar, wenn du dir ihren Kopf wie ein Haus vorstellst! Erst betrittst du den ersten Raum und siehst einen kleinen Abklatsch davon, was dich im Haus erwartet. Dann gehst du in den nächsten Raum und irgendwann traust du dich dann nach oben zu gehen. Und wenn du es geschafft hast, den kleinsten Schrank im Bad zu öffnen, dann hast du es geschafft!"
Ich versuchte mir vorzustellen, dass ich nicht in einen Kopf, sondern in ein Haus vordrang und ballte die Hände zu Fäusten, während ich versuchte, weiter vorzudringen. Die Gedanken der Frau schwirrten um mich herum:
Frag mich! Ich muss Paola anrufen. Die Blumen müssen noch gegessen werden. Ich kauf mir gleich ein Eis.
Die Gedanken durchzuckten mich wie meine eigenen, aber ich fand kein Halt, keine Spur, an der ich mich festhalten oder orientieren konnte, um weiter in den Kopf hineinzukommen. Nur diese ganzen Gedanken.
Wann habe ich meine Mutter das letzte Mal angerufen? Frag mich! Dieses blaue Kleid ist wunderschön.
Ich konnte meine eigenen Gedanken nicht von denen der Frau unterscheiden und ich konnte nicht weiter vordringen. Ich machte noch einen letzten, verzweifelten Versuch die nächste Tür aufzustoßen, aber dann...wurde mir schwarz vor Augen.
Als ich aufwachte blickte ich in verengte, grüne Augen, die mich eindringlich musterten. Ich lag in einem weichen Bett und sofort erinnerte ich mich an alles was passiert war.
„Warum?", fragte ich und versuchte mich aufzusetzen, aber mein Kopf schmerzte jetzt genauso wie meine Hüfte und so ließ ich ihn einfach auf dem Kissen liegen.
„Ich weiß es nicht.", Jayden zuckte mit den Achseln: „Aber ich vermute, du wolltest du schnell, zu viel. Und körperlich bist du auch nicht wirklich auf dem Damm."
Kurz lachte ich trocken auf. Das war ja eine schöne Beschreibung für eine Schusswunde.
„Wie lange war ich weg?"
„Nicht lange. Zwei Minuten."
Mit einem Mal fiel mir etwas ein und der Schock durchfuhr mich wie ein Stromschlag: „Was ist mit der Frau? Ich war doch in ihrem Kopf und wenn ich irgendwas kaputt...gerissen habe...
„Es geht ihr gut!", versicherte mir Jayden. „Ich habe sie nachdem ich dich hingelegt kurz beobachtet und sie ist einfach nur zusammengezuckt und hat dann weiter geflirtet. Sie sitzt bestimmt immer noch auf der Bank. Du kannst sie sicher sehen, wenn du jetzt rausguckst..."
„Ich glaube dir einfach, ja?", sagte ich, da ich keine Lust hatte zu erklären, ich könne nicht aufstehen, weil mir alles wehtat.
Jayden schien es aber trotzdem zu bemerken, denn er forderte mich nicht auf, noch einmal in den Kopf eines Menschen einzudringen. Stattdessen stand er auf und verließ damit die Stelle neben meinem Bett, von der aus er mich eindringlich beobachtet hatte. Jayden griff nach einer der kleinen Tüten, die Mia und Ben mitgebracht hatten und fragte: „Möchtest du?"
Ich nickte und er reichte mir eine viereckige, kleine Pizza mit dickem Boden, bevor er sich selbst ein Stück in den Mund schob.
Nachdenklich kaute ich auf meinem, ausgezeichnet schmeckendem, Pizzateil rum. Wieso war ich zusammengebrochen? Hatte das etwas mit meiner Verletzung zu tun oder war ich einfach nicht fähig, die Dinge zu vollbringen, die Jayden vollbrachte?
„Bei mir hat es am Anfang auch nicht so gut funktioniert.", sagte dieser jetzt leise: „Bei mir ging auch vieles schief. Ich habe mich anfangs unzählige Male in den Köpfen von anderen Personen verlaufen oder es gar nicht hineingeschafft. Das ist normal."
Fragen musterte ich Jayden: „Wieso bist du auf einmal so nett? Du bist so selten nett." Er hatte sogar ein Versagen seinerseits zugegeben, allerdings eins, was schon ein wenig zurück lag.
Er fixierte mich mit seinem Blick: „Bin ich denn sonst nicht nett?"
Ich zog nur die Augenbrauen hoch.
Anstatt zu antworten, schüttelte Jayden den Kopf und biss noch einmal in sein Panini.
Da fiel mir ein Punkt ein, den ich übersehen hatte: „Wie hast du das alles gelernt?"
„Wie bitte?", fragte Jayden kauend.
„Hat dir deine Mutter beigebracht wie du in den Kopf von jemandem eindringen kannst?"
Mit einem Mal wurde Jayden bleich. Er krampfte seine Finger unmerklich zusammen und verfiel in eine Art Schockstarre.
„Jayden?", fragte ich, doch er bewegte sich nicht. Also erhob ich mich ächzend von meinem Bett und ging auf ihn zu. Als ich direkt vor ihm stand, streckte ich meine Hand aus und berührte leicht seine Schulter.
„Jayden?", fragte ich noch einmal und plötzlich kam wieder Bewegung in ihn. Er schüttelte sich kurz, so als ob er gerade aufgewacht wäre und starrte mich dann an. Zu meiner Überraschung schlug er meine Hand nicht weg. Vielleicht bemerkte er sie auch gar nicht, denn wirklich anwesend wirkte er immer noch nicht. Wenigstens bewegten sich seine Augen. Sie sahen auf mich und dann hektisch zum Fenster und dann auf den Boden. Dann strich er sich kurz über die Stirn.
„Ich gehe mal raus und gucke, ob ich Turino irgendwo entdecken kann.", sagte er, so als wäre nichts gewesen. „Leg dich ins Bett wir üben Morgen weiter."
Dann verschwand er.
Die nächsten Tage vergingen gleichzeitig schnell, aber auch langsam. Während ich im Bett lag und mich auskurierte, zählte ich die Sekunden, bis endlich etwas interessantes passierte. Es blieb immer einer der drei bei mir. Wenn Mia bei mir war, sprachen wir über Gott und die Welt. Ich erzählte ihr meiner Schule und von meinen Freunden. Sie fragte mich gerne über das englische Schulsystem und beliebte Sportarten in England aus, da sie mit dem Gedanken spielte, ein Auslandsjahr dort zu machen. Sie hatte aber noch ein paar Bedenken:
„Ich denke einfach nicht, dass Cricket ein Sport für mich ist.", beteuerte sie: „erstens stehen mir keine Trikots und zweitens kann ich einfach nicht mit Schlägern umgehen. Ich bekomme dann immer den Gedanken nicht aus dem Kopf, dass dieser Schläger eines Tages ja eine Mordwaffe sein könnte. Also nicht von mir", versprach sie hastig als ich sie verwirrt anstarrte. „Aber er könnte ja geklaut werden. Und glaub mir: Mörder sind einfallsreich. Wenn nötig bringen die auch jemanden mit einem Badmintonschläger um."
Abgesehen von diesen, etwas merkwürdigen, Gesprächsphasen, erfuhr ich auch einiges über Mia. Zum Beispiel das sie seit ein paar Jahren „Kraf Maga" machte. Das ist ein israelischer Nahkampfsport und Mia meinte, echt nützlich, wenn sie mal auf der Straße belästigt wurde. Nicht das das oft passierte, beteuerte sie mir. Hamburg sei nicht so gefährlich, wie viele behaupteten. Aber es sei schließlich auch eine Großstadt, da käme so etwas schon mal vier- oder fünfmal vor. Für mich war das ein echter Schock, schließlich war ich in einer kleinen Stadt, bisher belästigungsfrei, aufgewachsen. Doch der Gedanken, dass Mia seit einigen Jahren einen Kampfsport lernte, beruhigte mich irgendwie. Man konnte ja nie wissen, was man in den nächsten Wochen so erleben würde.
Außerdem erzählte mir Mia von ihrem Freund. Mirko hieß er, sagte sie, und er sei unglaublich süß. Wenn sie von ihm sprach, verfiel Mia in einen verträumten, beinahe schwärmerischen Tonfall und ihr ganzes Gesicht hellte sich auf.
Wir vermieden es über unsere Eltern zu sprechen, da uns sonst wohl das schlechte Gewissen einholen würde, welches sich jetzt schon durchgängig versuchte in meinen Kopf zu quetschen. Dad musste krank vor Sorge sein und Mias und Bens Mutter vermutlich auch. Wenn ich mir vorstellte, dass Dad jetzt Zuhause saß und seine Handlungsfähigkeit gelähmt war, er konnte schließlich weder die Polizei einschalten noch sich selbst auf die Suche nach uns machen. Deshalb hatte ich gestern beschlossen, Jayden zu fragen, ob ich mit seinem Handy meinen Vater anrufen könnte. Jayden, der irgendwoher ein Ladekabel aufgetrieben hatte, hatte mir sein Handy wortlos gereicht und ich hatte Dads Nummer gewählt. Er war nicht drangegangen und ich hatte ihm eine Nachricht auf den AB gesprochen, dass es uns gut ging und es mir unglaublich leidtat, aber ich musste diese Buchseiten finden. Mum hätte es so gewollt, sagte ich und auch dass viele Menschen eine Anleitung bräuchten, um mit ihren Fähigkeiten umzugehen. Mir würde nichts geschehen, versprach ich, außerdem und auch niemand anderem, wenn ich es verhindern konnte.
Nachdem ich meinen Vater angerufen hatte, waren Mia und Ben meiner Idee gefolgt und hatten ebenfalls ihre Mutter angerufen. Auch diese war nicht an ihr Telefon gegangen und so hatte Ben eine beruhigende Nachricht für sie hinterlassen, in der er so circa die gleichen Dinge nannte, die auch ich meinem Vater mitgeteilt hatte.
Weder die Mutter der Zwillinge noch mein Vater hatten zurückgerufen. Das bereitete mir ein klein wenig Sorgen. Denn Dad war eigentlich immer erreichbar und ich konnte mir vorstellen, dass die Tatsache, dass ich verschwunden war, ihn dazu brachte Tag und Nacht vor seinem Handy zu warten. Ich hoffte inständig, dass es ihm gutging. Nicht das er uns hinterhergereist war. Obwohl...das ging ja gar nicht. Es wusste ja niemand wo wir waren. Ich hatte es Dad auch nicht mitgeteilt, denn wenn er nach Italien fuhr, um uns zu suchen, der Globus uns aber schon wo anders hingeschickt hatte... Ich verschob jegliche Sorge über den Zustand und den Verbleib meines Vaters in die hinterste Ecke meines Kopfes. Denn momentan konnte ich eh nichts tun. Der Globus hatte uns bisher immer dorthin gebracht, wo wir hinmussten, um die Seiten zu bekommen. Wir konnten ihn nicht steuern. Und eine andere Möglichkeit das Land zu verlassen gab es nicht, schon weil niemand von uns einen Ausweis dabeihatte. Also mal ganz realistisch betrachtet. Jayden hätte uns vielleicht irgendwie auch ohne Geld und Papiere durchschleusen können, aber er würde nichts tun, was uns davon abhielt, das Buch zu vervollständigen. Und obwohl wir jedes Mal übten, wenn er „Aufsicht" bei mir hatte, machte ich kaum nennenswerten Fortschritte was das Eindringen in einen Kopf und die Steuerung von diesem betraf. Zwar hatte ich es schon einmal geschafft in den Kopf eines älteren Mannes einzudringen und sein Alter und seinen Namen herauszufinden (Mauricio, 83) aber weiter vor gedrungen war ich noch nie. Was mich wirklich wunderte war die Tatsache, dass eigentlich alles in den Köpfen der Menschen italienisch sein musste, ich meine sie kamen schließlich aus Italien, aber trotzdem verstand ich alles. Als ich Jayden danach fragte meinte er nur, er habe keine Ahnung wieso das so ist. Vielleicht sprachen Gehirne ihre eigene Sprache. Dann drängte er mich zum Weitermachen, viel brachte es aber nicht.
Jayden versicherte mir die ganze Zeit, auch bei ihm habe es ein wenig Zeit gebraucht bis er das alles hinbekommen hatte und doch konnte er nicht verhindern, dass sich seine Augenbrauen immer wieder genervt zusammenzogen, wenn ich es mal wieder nicht schaffte, in einen anderen Menschen einzudringen. Hinzu kam, dass mir nach einer gewissen Zeit in einem fremden Kopf, immer wieder schwarz vor Augen wurde. Ich konnte nichts dagegen machen, ich kippte dann einfach um und Jayden, welcher schon darauf wartete, fing mich auf und legte mich hin. Ein paar Minuten später wachte ich meist auf und danach tat mir ständig alles so weh, dass wir den Unterricht abbrechen mussten.
Die Zeit, in der wir dann nicht weiter üben konnten, verbrachten wir damit uns zu überlegen, welche Gründe es für Turinos Verhalten gab. Er war nicht wieder bei uns vorbeigekommen und schien verschwunden zu sein. Während die anderen durch den Ort streiften machten sie nicht etwa Urlaub, nein, sie suchten eine Spur von Turino. Regelmäßig gingen sie in dem kleinen Geschäft seiner Familie nachschauen, ob er dort war. Sie fragten sogar jedes Mal nach aber die Antwort war immer die gleiche: „Turino hat Urlaub und ist nicht da."
Aber als sie dann nachfragten wo er war, zuckte sein Vater nur mit den Schultern und fragte welches Panini sie denn kaufen wollten.
Seniora Banucci versorgte uns regelmäßig mit Essen und Getränken. Sie war immer so unglaublich freundlich, weswegen Mia, Ben und ich meist die Lippen aufeinanderpressen mussten, um nicht vor schlechtem Gewissen in Tränen auszubrechen. Jayden schien damit kein Problem zu haben.
„Alles okay bei dir?", unterbrach Ben meine Gedanken. Er saß neben mir auf dem Bett und ließ seine langen Beine über die Bettkante baumeln. Er sah mich aufmerksam an und ich musste einfach lächeln. Seit dem Abend am Strand war es, als hätte sich irgendwas zwischen uns aufgebaut, eine Art unsichtbares Band. Ich glaube es tat ihm wirklich gut über einige Dinge zu sprechen und seine Haltung war ein klein wenig lockerer als zuvor. Über ihn hatte ich erfahren, dass er nicht nur unglaublich intelligent und ein Computernerd war, nein er war auch noch ein leidenschaftlicher Fußballfan. Er meinte er selbst wäre nicht gerade gut im Fußballspielen, aber er war ein großer Fan der englischen Mannschaft „Tottenham Hotspur". Ich kannte diesen Verein natürlich. Auch wenn ich mir selbst nicht so viel aus Fußball machte, hatte ich doch einige Mitschüler, die Fans des londoner Teams waren.
„Alles gut.", beantworte ich Bens Frage „Ich finde es einfach nur ziemlich langweilig hier rumzuliegen."
„Das kann ich mir gut vorstellen, aber" Ben sah mich streng an. „es gibt keine Alternative. Möchtest du riskieren, dass die Wunde aufreißt? Dann kannst du all deine Pläne für die nächsten Wochen vergessen."
Ich verdrehte die Augen, wusste aber, dass er Recht hatte. Meine Hüfte verheilte zwar ungewöhnlich gut, Mia und Ben die meinen Verband regelmäßig wechselten, da sie dies schon sehr früh von ihrem Vater gelernt hatten, bestätigten dies.
„Ich liege doch schon und habe nicht vor in nächster Zeit etwas anderes zu tun. Und glaub mir, wenn ich dir sage, dass ich meine Gesundheit ganz sicher nicht leichtfertig aufs Spiel setzen werde."
Ben legte mir beruhigend eine Hand auf mein Schienbein und lächelte mir sanft zu.
„Wann darf ich denn wieder rausgehen?", fragte ich und hörte mich beinahe wie ein drängelndes Kleinkind an, dass beim Autofahren alle fünf Sekunden fragt, wann man denn da ist. Aber es war einfach nicht schön, durchgängig in diesem Zimmer zu sein. Obwohl es echt gemütlich war und ich es wirklich mochte, war es eben auch im Dachgeschoss. Und was das bedeutete konnte man sich ja vorstellen. Es war unerträglich heiß. Seniora Banucci hatte uns zwar gestern einen Ventilator vorbeigebracht, der auch ein wenig half, aber ein Ventilator war selten ein Ersatz für frische Luft. Das Zimmerfenster konnte ich nicht öffnen, weil sonst nur noch mehr warme Luft hineinströmen würde.
Ben kratzte sich an der Stirn und schien nachzudenken: „Eigentlich", begann er: „Jetzt sofort. Frische Luft schadet schließlich nie."
Erfreut schwang ich langsam die Beine über die Bettkante: „Dann zieh ich mir mal schnell etwas anderes an." Momentan trug ich aufgrund der Hitze einfach nur ein zu langes, schwarzes T-Shirt, dass ich mir vom Kleiderhaufen genommen hatte und eigentlich als Schlafshirt trug. Heute Morgen hatte ich allerdings keine Lust gehabt mich umzuziehen für einen Tag, den ich eh im Bett verbrachte, aber die Tatsache frische Luft schnappen zu können verlieh mir neue Energie.
Zu unserem Glück stand eine Waschmaschine im Badezimmer, denn obwohl der Kleiderstapel den Jayden neulich angeschleppt hatte, beachtlich aussah, leerte er sich doch ganz schnell, wenn vier Personen regelmäßig neue Klamotten brauchten. Jeder hatte sich ein paar Kleider rausgepickt und neben meiner Seite des Bettes, welches ich mir inzwischen mit Mia teilte, lagen drei T-Shirts, eine kurze Hose, und eine lange, dünne, bauschige Stoffhose. Ich nahm mir das T-Shirt, dass oben auf dem Stapel lag, blau mit weißen Streifen, und die kurze Hose bevor ich mich ins Bad verdrückte.
Es dauerte ein wenig länger als es sonst der Fall war, aber schließlich war ich fertig und ging zu Ben heraus der mir die Zimmertür aufhielt.
Bei der Treppe hatte ich weniger Probleme als das erste Mal, dass ich sie hinuntergestiegen war und ich keuchte am Ende nicht ganz so extrem. Trotzdem kostete es mich deutlich mehr Anstrengung als es mich normalerweise kostete.
„Wenn dir irgendwie schwindelig wird oder so, dann sag Bescheid.", bläute Ben mir ein.
Als ich die salzige Luft roch und die Sonne auf meiner Haut spürte, atmete ich tief durch. Die Menschen liefen mit Sonnenbrillen und Hüten bewaffnet in Richtung des Meeres und laute Stimmen schwirrten durch die Luft.
„Wollen wir uns dort hinsetzen?", fragte Ben und zeigte auf die Bank, auf der die junge Frau mit ihrem Freund gesessen hatte und in deren Kopf ich versucht hatte einzudringen.
„Okay." Ich nickte und wir gingen zu der Bank und setzten uns hin.
Glücklicherweise lag die Bank im Schatten, denn einen Sonnenbrand konnte ich jetzt beim besten Willen nicht vertragen.
Ich spürte wie Ben neben mir nervös auf und ab rutschte.
„Was ist?", fragte ich ihn also und drehte meinen Kopf in seine Richtung.
„Hey Leute!", ertönte da ein lauter, fröhlicher Ruf und wir sahen Mia auf uns zukommen. Jayden ging neben ihr und hatte einer Person seine Hand auf die Schulter gelegt: Turino!
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