Riaan und Rykia

Kapitel 24: Riaan und Rykia

Erstaunlicher Weise waren wir am nächsten Tag nicht krank. Ganz im Gegenteil: die gute Laune vom vorherigen Tag hielt an und wir beschlossen, einfach einmal loszuziehen und die Gegend zu erkunden. Vielleicht könnten wir dabei ja etwas in Erfahrung bringen.

Mit einer der beiden Reisetaschen über der Schulter stiefelte Jayden voraus. Ben und Mia die hinter ihm gingen hatten, wechselten sich jeweils nach ein paar Minuten mit dem Tragen der zweiten Reisetasche ab. Momentan war Ben dran, während Mia immer mal wieder fröhlich pfeifend vom Waldweg abwich und die Gegend genauer in Augenschein nahm. Ich bildete das Schlusslicht, wobei ich versuchte, möglichst viel von der schönen Umgebung in mich aufzusaugen. Bisher hatten wir den dichten, grünen Wald noch nicht verlassen, aber er wirkte so dermaßen anders als die Wälder, die ich von Zuhause kannte, dass ich nur mit offenem Mund staunen konnte. Genauso wie an der Lichtung, war auch an diesem Wald irgendetwas magisch.

„Weißt du, Luna", Mia ging langsamer, bis sie neben mir war „Ich finde es hier wirklich unglaublich schön."

Da konnte ich nur zustimmend nicken. Ben hatte seine Schritte beschleunigt und redete jetzt mit Jayden. An der angespannten Körperhaltung der beiden konnte ich erkennen, dass es sich vermutlich um etwas Ernstes handelte. Mir kam etwas in den Sinn, dass ich Mia gestern ganz zu fragen vergessen hatte.

„Woher hattest du die Pistole?"

Wieder lief sie ein wenig rot an, genauso wie gestern, als Jayden ihr die gleiche Frage gestellt hatte. Ich machte mich schon auf einige hastige Ausflüchte bereit, doch sie murmelte nur leise: „Von Mirko. Mein Freund, du weißt schon.", fügte sie hinzu: „Naja...besser gesagt von seiner Mutter."

„Hat sie dir die Waffe freiwillig gegeben?", fragte ich verwundert.

Mia wirkte beschämt „Sie weiß gar nicht, dass ich sie habe."

„Und Mirko?"

Sie schüttelte den Kopf und biss sich auf die Unterlippe: „Als du angeschossen wurdest...mir wurde auf einmal klar, wie verdammt hilflos wir doch sind. Wir hatten nichts, dass im Entferntesten auch nur als Verteidigungswaffe durchgehen konnte. Ich wollte so etwas einfach vermeiden. Dass nochmal jemand verletzt wird, meine ich."

„Wieso hast du uns nichts davon erzählt?"

„Hättest du denn ruhig schlafen können, wenn du gewusst hättest, dass eine Pistole im Zimmer ist, nachdem kurz davor mit so einem Ding auf dich geschossen wurde?"

Kurz dachte ich nach. Wahrscheinlich hätte ich eine Heidenangst gehabt. Aber diese Nacht hatte ich ja schließlich auch keine Probleme damit, zu schlafen, trotz des Wissens um die Pistole in unserer Höhle. Das lag aber wohl daran, dass die ganze Geschichte mit Jaydens Mutter jetzt schon ein bisschen zurück lag. Und daran, dass meine Wunde nicht mehr schmerzte. Und wohlmöglich auch daran, dass uns die Pistole schon einmal den Hintern gerettet hatte.

„Das war ziemlich klug von dir.", lobte ich Mia also, deren Gesicht sich sofort wieder aufhellte „Du hast uns damit wirklich gerettet, aber sag uns ruhig beim nächsten Mal Bescheid, wenn sich eine geladene Waffe in unserem Zimmer befindet."

Mia lachte ein wenig zittrig: „Ich habe ein wenig Angst."

„Wovor?"

„Davor, dass Mirko herausfindet, dass ich die Waffe seiner Mutter gestohlen habe."

„Das wird er nicht herausfinden.", versuchte ich sie zu beruhigen.

„Oh doch. Mirko ist intelligent. Er wird eins und eins schon zusammenzählen können."

„Dann erzählst du ihm einfach die Wahrheit, wenn du wieder nach Hause kommst."

„WENN ich wieder nach Hause komme."

Jetzt war ich diejenige, die sich auf die Lippe biss: „Ich habe nachgedacht, Mia und bin zu dem Schluss gekommen, dass es besser ist, wenn ich allein zu meinem Vater reise."

Mia lachte auf: „Wir hatten das doch schon einmal. Wir helfen dir bis zum Ende."

„Ja, das habt ihr gesagt, als es nur darum ging die Seiten zu finden.Einen entführten Menschen aus der Gewalt eines Verrückten zu befreien ist eine ganz andere Hausnummer."

Wieder lachte Mia: „Vergiss es! Wir bleiben am Ball, zusammen mit dir. Ich werde dich nicht allein zu diesem durchgeknallten Typen gehen lassen."
„Aber..."
„Da fällt mir übrigens etwas ein: deine Mutter wird doch einen Grund gehabt haben, warum er die Seiten nicht bekommen darf, oder? Vielleicht sollten wir die zwei Wochen..."
„Jetzt nur noch dreizehn Tage", korrigierte ich.

„Nicht nur damit verbringen, die Seiten zu suchen, sondern auch damit, herauszufinden, wieso ER sie nicht besitzen darf."
Das war mir auch schon in den Sinn gekommen. Sogar öfters. Aber wie sollten wir das herausfinden? Wir wussten schließlich kaum etwas über die ganze Sache...

„Ich weiß immer noch nicht, was das soll!", hörten wir in diesem Moment eine mürrische, weibliche Stimme meckern.

„Es ist doch schön, ein wenig rauszukommen. Deine Eltern haben mir befohlen, dich an die frische Luft zu bringen.", kam es von einer tieferen, männlichen Stimme, die sehr amüsiert klang.

Die Unterhaltung drang aus dem Wald, der so dicht war, dass wir die beiden Stimmen zwar hören, allerdings nicht sehen konnten, wer sich dahinter verbarg.

„Es zählt nicht, sich mit dem Handy in die Sonne im Garten zu setzen."

„Ich mache auch Sport! Ich gehe joggen wie du weißt."

„Ja einmal im Monat!"

„Zweimal! Mindestens!"

Die andere Stimme lachte schnaufend. Inzwischen hatten auch Jayden und Ben etwas gehört und waren zu uns gekommen.

„Wer ist das?", flüsterte Jayden.

„Kann ich hellsehen?", gab Mia unwirsch zurück.

In diesem Moment klärte sich die Frage auf, denn zwei Personen stolperten auf den Weg. Obwohl stolperten wohl nicht der richtige Begriff war. Stolzierten traf es eher.

Sie entdeckten uns und starrten uns an. Und ich konnte nicht anders, als zurück zu starren. Das hier waren wohl die attraktivsten Menschen, die ich je gesehen hatte. Neben dem Jungen verblasste selbst Jayden und das, obwohl er nicht einmal annähernd so groß war wie er. Der Junge war zwar so groß wie Mia, vielleicht noch ein bisschen größer, und hatte somit schon einige Zentimeter mehr als ich vorzuweisen, er war nicht einmal breit oder muskulös gebaut, nein, sein umwerfendes Aussehen verlieh ihm sein Gesicht. Er hatte strahlend blaue Augen, die von dichten Wimpern umrahmt waren, ein markantes Kinn und verdammt hohe Wangenknochen. Um den Anblick noch perfekt zu machen hatte er hellblonde Locken, die sich auf seinem Kopf und um sein Gesicht wild kringelten. Er war höchstens so alt wie die Zwillinge, also siebzehn.

Das Mädchen, das ihn begleitete, war hingegen schon mehr eine junge Frau. Sie war wohl Anfang, höchstens Mitte zwanzig. Sie war relativ groß, größer als ihr Begleiter und unglaublich schlank. Dazu hatte sie dieselben Wangenknochen und die gleichen blauen Augen wie der Junge. Obwohl alles an ihm eher männlich und an dem Mädchen weiblich aussah.

Auch die beiden musterten uns von oben bis unten. Auf das Gesicht des Jungen stahl sich ein breites Lächeln, dass ihn sogar noch schöner machte, als er Mia und mich entdeckte. Das Mädchen hingegen wirkte misstrauisch. Nicht unfreundlich, sondern misstrauisch. Wirklich verübeln konnte ihr man das wohl nicht, denn wann begegnet man bitte schön einer viel zu leicht angezogenen, zerzaust wirkenden Gruppe, mit Reisetaschen im Wald?

Als erster von uns allen fand der Junge seine Sprache wieder. Er grinste anzüglich und sagte dann etwas in einer Sprache, die niemand von uns verstand und von der ich annahm, dass es isländisch sein musste. Als er allerdings unsere ratlosen Gesichter sah, grinste er noch breiter und sagte ihm perfekten Englisch an Mia und mich gewandt: „Na, wie geht's denn so?"

Die Frau versetzte ihm einen Stoß in die Seite und Mia und ich prusteten los. Ich hatte das Gefühl, dass wir beide exakt das gleiche dachten. Dafür musste ich noch nicht einmal ihre Gedanken lesen.

„Was ist denn los?", der Junge sah jetzt reichlich verwirrt aus.

„Na, du klingst einfach", prustete ich los „genauso wie Joey aus „Friends"."

Ich sah Mia an und wir lachten weiter. Niemand außer uns lachte mit.

„Wer seid ihr?", fragte die Frau, die uns ebenso wie Jayden und Ben, verwirrt ansah.

Schlagartig verstummten Mia und ich und wir tauschten alle einen Blick. Sollten wir ihnen die Wahrheit erzählen? Vermutlich wäre es besser erst einmal vorsichtig zu sein. Wir wussten schließlich nicht wen wir hier vor uns hatten.

„Ähhm, also ich bin Luna.", erklärte ich: „Und das sind Mia, Ben und Jayden. Wir reisen durch Island, weil wir auf der Suche nach einem Verwandten von mir sind. Wer seid ihr?"

Das war wohl am unverfänglichsten. Außerdem war es die wohl beste Ausrede, uns nach jemandem mit dem Nachnamen Millow zu erkundigen.

„Ich bin Riaan", sagte der Junge und zwinkerte „Das hier ist meine Cousine Rykia."

„Wo wohnt ihr?", fragte Ben die beiden und korrigierte sich dann: „Also ich wollte nicht fragen, wo ihr genau wohnt, sondern in welcher Stadt."

Bei diesen Worten lachte Rykia ein wenig spöttisch: „Stadt ist nicht das richtige Wort. Ich lebe außerhalb eines kleinen Dorfes, das eine Viertelstunde Fußmarsch von hier entfernt liegt."

„Dort leben ausschließlich die Reichen und Schönen.", warf Riaan in diesem Moment ein „ich für meinen Teil besuche nur meine reizende Cousine."

Seine „reizende Cousine" schnaubte: „Und ich bin jetzt schon froh, wenn du wieder weg bist."

„Komm gib es zu: du liebst es, jeden Tag mein schönes Gesicht vor dir zu sehen. Jeder würde das lieben."

„Solange, bis du zum ersten Mal den Mund aufmachst. Dann liebt niemand mehr dein Gesicht.", sagte Rykia trocken.

„Genau, weil dann alle nur noch auf meinen reizenden Charme achten, der mein Gesicht BEINAHE", er betonte dieses Wort deutlich „in den Hintergrund stellt."

„Ja reizend vielleicht. Aber eher KOTZreizend."

Wir alle waren dem Wortgefecht der beiden gespannt gefolgt und mussten jetzt lachen.

„Weißt du, wo deine Verwandten leben?", wandte sich in diesem Moment Riaan, der seine Cousine jetzt völlig ignorierte, an mich.

Ich schüttelte den Kopf: „Leider nicht. Aber sie müssen hier irgendwo in der Nähe wohnen.", bisher hatte uns der Globus schließlich nur an Orte gebracht, die für uns von Nutzen waren „sie heißen vermutlich „Millow" mit Nachnamen. Oder zumindest hieß einmal jemand ihrer Vorfahren so."

Bei diesen Worten zogen Riaan und Rykia merklich die Luft ein: „Millow sagst du?", fragte Rykia, allerdings ohne dabei weniger misstrauisch auszusehen als zuvor.

„Genau!"

„Du sprichst nicht etwa von Lucilda Millow?"

„Das wissen ja nicht.", schaltete Jayden sich jetzt genervt ein „Wir wissen leider nur ihren Nachnamen, aber das könnte schon ganz gut hinhauen. Kennt ihr sie denn?"

„Kennen?", jetzt lachte Rykia ein wenig hysterisch: „Lucilda ist eine Legende. Sie ist die wohl bekannteste Schauspielerin in ganz Island. Ihre Partys sind einfach..."

„Legendär!", fiel ihr Cousin ihr ins Wort.

„Das sind sie.", Rykia klang jetzt ganz ehrfürchtig.

Aufgeregt wippte ich auf meinen Fußballen herum: „Und wo wohnt sie?"

Jetzt lachten Rykia und Riaan gleichermaßen: „Ihr denkt, ihr könnt da einfach so aufschlagen und ihr etwas von verschollenen Verwandten erzählen?"

Ich schaute meine Reisegefährten verwirrt an. Eigentlich hätte ich genau das vorgehabt. Wir standen schließlich unter enormen Zeitdruck.

„Ähm, ja?", antwortete Mia an meiner statt.

„Ach, wie naiv ihr doch seid.", spöttelte Rykia von oben herab: „Sie wohnt in einer riesigen Villa. Größer als unsere. Die haben mehr Security als manch Promis in Hollywood. Rein kommt man nur zu einer ihrer Partys. Zu denen ich natürlich exklusiv eingeladen bin. Ich meine, ich bin ja schließlich auch nicht irgendwer..."

Riaan schien die aufkeimende Verzweiflung, die sich in meinem Gesicht breit machte, richtig zu deuten und unterbrach Rykia grob: „Hör doch mit dem Angeben auf und halt die Klappe!", dann fragte er mich: „Wieso ist es denn so wichtig für dich, Lucilda zu treffen? Oder bist du nur ein komischer Stalker, der sich irgendwie Zugang zu ihrem Haus verschaffen möchte?"

„Natürlich nicht!", widersprach ich seiner Vermutung empört und spürte, wie mir schon wieder die Kehle zugeschnürt wurde. Verdammt!

„Es kann nur sein, dass sie etwas sehr, sehr wichtiges in ihrem Besitz hat.", sprang Ben mir bei.

„Genau", führte Mia weiter aus: „Ein Familienerbstück. Es geht hierbei wirklich um Leben und Tod."

Jayden sah unsere neunen Bekannten ernst an: „Es ist alles sehr verworren und schwierig.", erklärte er ruhig „Aber wir müssen mit Lucilda sprechen und sie fragen, ob sie dieses Erbstück besitzt. Und wenn ihr eine Möglichkeit seht, uns irgendwie zu ihr zu bringen, dann rettet ihr uns echt den Hintern."

Riaan schien sogar halbwegs von unseren Worten überzeugt worden zu sein, seine Cousine allerdings keineswegs. Und als sie den Mund aufmachte, um unsere Bitte sofort abzulehnen, nickte ich Jayden zu. Es war keine auffällige Geste und ich war mir ziemlich sicher, dass sie Riaan und Rykia entgangen war, aber Mia und Ben bemerkten sie und daraus, dass sie nicht protestierten, wusste ich, dass sie mit der ganzen Sache einverstanden waren. Die Situation hatte sich seit gestern so krass geändert, dass ich nicht einmal mehr Gewissensbisse bekam, als ich merkte wie Rykias Augen erst verschleiert wurden und sie dann so aussah, als hätte sie eine Eingebung gehabt.

„Wir können euch da reinbringen.", sagte sie und Riaan schnellte zu ihr rum, um sie, mit erstaunt aufgerissenen Augen, anzusehen.

„Denkst du das gleiche wie ich?", er schien seine Überraschung schnell überwunden zu haben.

„Wenn du an morgen Abend denkst, dann schon."

„Was ist morgen Abend?", mischte sich Mia ein.

„Eine ihrer Partys.", erklärte Riaan: „Wir können zwei von euch als unsere Begleitungen mitnehmen. Also jeder von uns eine Person."

Wir sahen uns an. Zwei waren immerhin besser als keiner von uns.

„Das wäre unglaublich!", sagte ich und strahlte ihn an.

„Aber...", sagte Rykia und schürzte die Lippen: „Ihr wisst, das man sich dort auch angemessen kleiden muss. Also nicht so, wie ihr gerade. Ist euch nicht kalt?", fügte sie dann entgeistert und mit Blick auf unsere kurzen Sachen hinzu.

„Ein wenig vielleicht.", erklärte Mia: „Aber was sollen wir machen: wir waren auf ein besseres Klima eingestellt und haben keine anderen Klamotten dabei."

Riaan schüttelte ungläubig den Kopf: „Habt ihr euch denn gar nicht informiert, bevor ihr hier hegekommen seid?"

„Wir hätten uns wohl mehr informieren müssen.", knurrte Jayden: „Leute mir ist gerade arschkalt, lasst uns mal weitergehen."

Empört sah Riaan uns an: „Ja, ihr geht weiter! Ihr kommt nämlich mit zu uns!"

Erstaunt blickte ich ihn an. Hatte Jayden auch in seinem Kopf rumgefuscht?

Rykia wirkte nicht sonderlich begeistert: „Du kannst nicht einfach Leute in MEIN Haus einladen, Riaan.", wies sie ihren Cousin zurecht.

„Dein Haus? Wohl eher das Haus deiner Eltern, aus dem du mit dreiundzwanzig Jahren noch immer nicht ausgezogen bist. Und was hast du denn? Es ist doch so groß, dass es für dich wahrscheinlicher ist, ihnen nicht über den Weg zu laufen, als ihnen zu begegnen."
Rykia rümpfte die Nase, zuckte aber dann mit den Achseln „Dann kommt mal mit."

Gehorsam wie Hunde liefen wir hinter ihr her. Wir brauchten noch fünf Minuten, bis wir beim Waldrand ankamen. Dann überquerten wir schnellen Schrittes eine große Wiese, die, genauso wie alles andere hier, ein wunderbar saftiges Grün besaß.

„Oh, guckt mal!", rief Mia in diesem Augenblick aufgeregt und deutete auf eine Weide ein wenig links von uns. Auf dieser riesigen Weide grasten um die zwanzig Pferde. Nein, stopp, die waren zu klein für Pferde. Und wir waren hier in Island, also nahm ich ganz stark an das das Islandponys waren.

„Sprich ja Rykia nicht auf die Pferde an.", gab Riaan, der neben mir ging, leise Anweisungen „Sie bildet sich eh schon so viel auf den Besitz ihrer Familie ein..."

Ich lachte kurz. Ja, das glaubte ich gerne, dachte ich mit Blick auf Rykias stolzierenden Gang.

„Du meintest doch, du besuchst sie nur. Wo wohnst du denn?"
„In der Hauptstadt. Reykjavík. Ich wohne eigentlich mit meinen Eltern dort, aber ich habe gerade Sommerferien und in denen schicken sie mich eigentlich immer hierher. Damit ich mal ein bisschen Landluft schnuppere. Wo kommt ihr eigentlich her?"

„Mia und Ben", sagte ich und deutete auf die Rücken der Zwillinge: „Kommen aus Deutschland. Jayden kommt aus Schottland.", ich guckte mich um und entdeckte Jayden mit finsterer Miene ganz am Ende unserer kleinen Gruppe. „Keine Angst übrigens: der guckt immer so. Ich glaube sogar schon manchmal, dass er gar nicht anders gucken kann."

Riaan kichert: „Und wo kommst du her?"

„Aus England.", antwortete ich schlicht.

„Cool. Da war ich letztes Jahr mit der Schule. Wir haben einen Austausch gemacht. Eigentlich war es ziemlich genial nur mein Austauschschüler war...speziell."

„Inwiefern?"

„Er war sportbesessen! Jeden Morgen hat er mich zum Joggen geweckt. 20 Kilometer. Mit Bergen. Und das ist ja nicht mal das schlimmste: das grausamste an der ganzen Sache war, dass er mich um vier Uhr morgens zum Joggen geweckt hat. Vier Uhr!"

„Ups", ich konnte mir ein Grinsen beim besten Willen nicht verkneifen „Jeden Tag?"

„Jeden verdammten Tag! Dann ist der Typ nachmittags noch ins Fitnessstudio gegangen. Du kannst dir hoffentlich vorstellen, was das für ein Schrank war, oder?"

Ich nickte und lachte: „Wo warst du denn in England?"

„Ähhm.", Riaan kratzte sich am Kopf: „Ich glaube, der Ort hieß Brighton. Kennst du den?"

„Ja, tue ich. Ab und zu fahre ich mit meiner besten Freundin dort hin. Der Pier ist echt cool."

„Das stimmt allerdings. Wie alt bist du eigentlich?"
„Sechszehn. Fast siebzehn."

„Ah, da habe ich mehr Glück. Ich bin vorgestern siebzehn geworden.", grinste Riaan.

„Na, dann alles Gute nachträglich. Warst du denn da schon hier?"

„Jip"

„Das heißt du hast gar nicht mit deinen Eltern gefeiert?"

Er zuckte nur mit den Schultern: „Ich feiere meinen Geburtstag eigentlich nie mit meinen Eltern. Dafür sind sie zu beschäftigt.", das letzte Wort spuckte er förmlich aus.

„Das ist scheiße."

Riaan lachte trocken auf: „Es gibt schlimmeres."

„Vielleicht. Aber es ist trotzdem scheiße."

Einen Moment schwiegen wir bis ich fragte: „Wie lange brauchen wir noch?"

„Gleich sollte das Haus in Sicht kommen. Erschrick bitte nicht. Das ist noch nichts im Vergleich zu Lucildas Haus."

Und in diesem Moment tat sich vor uns tatsächlich ein großes, weiß angestrichenes Haus auf. Obwohl groß war wohl das falsche Wort: ein riesiges Haus. Wirklich riesig. Je näher wir dem Haus kamen, desto mehr konnte ich erkennen. Es war ein altmodisches und verschnörkeltes Haus. Es gab ein großes Gebäude in der Mitte, um das fünf Türme errichtet waren. Das Haus passte sich perfekt der wunderschönen Umgebung an und hatte große Ähnlichkeiten mit dem Schloss aus dem Märchen des Froschkönigs. Es führte eine breite Treppe aus weißem, festem Stein zum Haus hinauf. Diese stolzierte Rykia jetzt hoch und wir beeilten uns, ihr hinterher zu kommen. Die Haustür war eine Flügeltür aus dunklem Holz. Das Schlüsselloch sah altmodisch aus und der riesige, bronzene Schlüssel, den Rykia jetzt hervorholte passte perfekt zum Gesamtbild des Hauses.

„Krass!", rief Mia „Was arbeiten denn deine Eltern, dass ihr in so einem Haus wohnt?"

„Mein Vater ist Anwalt.", erwiderte Rykia ein wenig arrogant „Du hast ihn bestimmt schon einmal im Fernsehen gesehen. Er ist für die Promis verantwortlich. Und meine Mutter ist Model. Also war, besser gesagt. Mit über fünfzig bekommt sie jetzt höchstens nochmal einen Werbespot, den sie drehen darf. Für Anti-Aging-Creme."

Ich blickte die Zwillinge an. Niemand von uns wusste, ob das ein Scherz war und wir lachen sollten, oder ob sie es einfach ernst meinte. Wir würden es nie erfahren, denn in diesem Moment schwang Rykia die Tür auf und wir traten ein. Ich hielt den Atem an und ich glaube, allen anderen ging es nicht anders. Von innen war das Haus sogar noch beeindruckender als von außen. Wir standen in einer riesigen Eingangshalle, deren Boden aus weißem Marmor bestand. Die großen Fenster waren groß, nach oben hin abgerundet und wurden halb von hellgrünen Gardinen verdeckt. Ein schmales Sofa stand vor dem Fenster und von überall in dem runden Raum führten massive Holztüren weg. Insgesamt war diese Eingangshalle so unglaublich stilsicher eingerichtet, dass ich mir sicher war hier wären mehrere Innenarchitekten am Werk gewesen.

„Die Tür", erklärte uns Riaan während Rykia die Arme vor der Brust verschränke „führt in die Küche." Mit den Augen folgten wir seinem Finger, der in Richtung der ersten Tür von der rechten Seite aus deutete.

„Wenn man dort durch geht, kommt man in das erste Wohnzimmer und die Treppe dort führt ins Schlafzimmer meiner Tante und meines Onkels. Daneben befindet sich noch ein Badezimmer, glaube ich zumindest. Ich bin nicht so oft dort und ihr solltet auch nicht dahingehen, solange ihr hier seid." Wir nickten. „Gut, dann kommt ihr, wenn ihr durch diese Tür geht, in Rykias Reich..."

„Das ihr auch nicht betreten dürft.", fügte seine Cousine naserümpfend hinzu.

„Jaja.", fuhr Riaan fort „Dort kommt ihr in mein Zimmer und in das zweite Wohnzimmer. Dort ist das Arbeitszimmer meiner Tante. Außerdem sind dort drei Gästezimmer, wenn ihr die Treppe hochgeht. Das eine Gästezimmer und das schönste, meiner Meinung nach, liegt ganz oben im Turm. Es ist ziemlich schön, wirklich. Wenn man durch die Tür da geht, gelangt man ins Arbeitszimmer meines Onkels und in die Bibliothek..."
„Hier gibt es eine eigene Bibliothek?", fragte Ben mit leuchtenden Augen.

„Eine Bibliothek mit unglaublich kostbaren Büchern. Also fass ja nichts an.", fauchte Rykia.

Riaan verdrehte die Augen: „Sie hält sich auch seit Jahren daran und fasst kein „kostbares" Buch an. Eigentlich fasst sie überhaupt kein Buch an."

Wütend blinzelte Rykia ihren Cousin an: „Das stimmt doch gar nicht! Ich lese!"

„Klatsch und Modezeitschriften gehören nicht gerade zur bildenden Weltliteratur.", obwohl Riaan kleiner war, schaffte er es, von oben herab auf Rykia runter zu blicken.

„Das gehört zu meinem Job, du aufgeblasener Bastard!"

Riaan prustete los und machte den Mund auf, doch Mia ging dazwischen, indem sie an Rykia gewandt fragte: „Was arbeitest du denn?"

„Ich bin Model?!", so, wie die junge Frau es sagte, schien es, als würde es keinen Zweifel daran geben, dass Model der einzige, annehmbare Beruf für sie sei. Und als wäre es ganz selbstverständlich, dass sie das Zeug dazu hatte.

„Cool.", Mia nickte anerkennend.

„So weiter in der Hausanweisung, bevor das Ego meiner Cousine so weit aufgeblasen wird, wie ein Frosch, den man dann als Flummi benutzen kann."

Wir alle starrten Riaan entgeistert an aufgrund seines Vergleichs. Außer Rykia, die wirkte wütend deswegen. Verübeln konnte man es ihr zwar nicht, aber Riaan hatte ja schon irgendwie Recht. Arrogant kam sie echt rüber. Und dabei war sie nicht so charmant wie ihr Cousin.

Dieser sprach jetzt allerdings unbeeindruckt weiter: „Jedenfalls ist hinter der Tür die Bar, der Billiardraum und weiter oben sind zwei weitere Gästezimmer. Jedes Gästezimmer hat natürlich ein eigenes Bad."

Uns allen stand der Mund offen vor lauter Luxus.

„Tja, da staunt ihr was?", fragte Riaan lachend „Kommt mal mit, ich zeige euch eure Zimmer."

„Wo sind denn eigentlich deine Eltern?", fragte Jayden Rykia „Haben die nichts dagegen, wenn fremde Leute in ihrem Haus wohnen?"

„Keine Ahnung", sie zuckte unbeeindruckt die Achseln „Sie sind bis Montag auf Reisen und werden es wohl nie erfahren. Deshalb bin ich ja auch damit dran, den Babysitter für Riaan zu spielen."

„Das habe ich gehört!", verkündete Riaan der gerade vorausgegangen war, um uns eine Tür aufzuhalten.

„Damit habe ich kein Problem.", zischte Rykia und blickte so wütend drein, dass wir uns alle beeilten, durch die offene Tür zu gehen.

„Ich gehe auf mein Zimmer!", rief uns Rykia hinterher.

„Sie ist nicht immer so.", erklärte Riaan während wir ihm die Treppe hoch folgten „Schön", gab er dann zu „Arrogant ist sie meist, aber das ist wahrscheinlich angeboren. Würdet ihr ihre Mutter kennen, wüsstet ihr, was ich meine, glaubt mir, dagegen ist meine liebe Cousine ein Lämmchen.

Mia, Ben und ich lachten, während Jayden nur so finster dreinblickte, dass er Riaans „lieber Cousine" auf jeden Fall Konkurrenz machen konnte.

„Ist ihr Vater auch so?", fragte ich.

Lächelnd schüttelte Riaan den Kopf: „Nein, Ragnar ist großartig. Ehrgeizig ist er vermutlich. Und in seinen Plänen lässt er auch niemanden rumfuschen, aber er ist die liebenswerteste Person, die ich kenne. Das alles", er machte eine allumfassende Geste „bräuchte er eigentlich gar nicht. Es ist seine Frau, die auf Statussymbole setzt. Ohh, da sind wir auch schon beim ersten Zimmer."

Er öffnete die Tür und wir betraten einen hübschen Raum. Die Wände waren hell gestrichen und alle Möbel, vom breiten Bett unterm Fenster bis hin zum kleinen Sofa, waren cremefarben. Das sah aber nicht steril aus wie im Krankenhaus, nein, es wirkte einfach nur unglaublich hübsch und elegant.

„Stellt eure Sachen schon mal hier ab, wir können dann ja überlegen wer welches Zimmer bekommt. Ihr müsst sie ja nicht die ganze Zeit mitschleppen.

„Supi.", sagte Mia, der Ben die eine Tasche gereicht hatte, bevor wir hierher gegangen waren und stellte sie auf dem Bett ab.

Jayden nickte nur und stellte die andere Tasche daneben.

„Hat er was gegen mich?", flüsterte mir Riaan sehr leise ins Ohr.

„Er hat was gegen jeden.", antwortete ich: „Nimms nicht persönlich. Aber", fügte ich hinzu, als ich Jaydens grimmige Miene sah: „halte dich am besten auch nicht allein in einem Raum mit ihm auf."

Riaan lachte und wies uns dann an, ihm weiter zu folgen. Das zweite Zimmer, das er uns zeigte, war direkt gegenüber von dem cremefarbenen Zimmer und fast genauso eingerichtet. Die einzigen Unterschiede waren, dass der Raum spiegelverkehrt zu dem anderen und im hellen Rosa eingerichtet war.

Nachdem wir beeindruckt genickt hatten, gingen wir eine schmale Wendeltreppe nach oben. Dort angekommen gelangten wir aber nicht in einen Flur, sondern standen direkt in einem riesigen, runden Zimmer. Ich hielt den Atem an, weil es so atemberaubend schön war. Die Wände waren in einem dunklen Blau angestrichen und überall waren Sterne aufgemalt. Der Raum bot genug Platz für zwei Himmelbetten. Eines auf der linken und eines auf der rechten Seite des Zimmers. Das beeindruckendste aber war die Decke. Eigentlich war es gar keine Decke, sondern ein Glasdach, durch das man den blauen Himmel draußen sehen konnte. In der Mitte des Raumes stand eine kleine Sitzecke mit zwei Sesseln und unzähligen, bunten Kissen aufgebaut, die durch ein niedriges Regal vor Blicken geschützt war.

„Nachts sieht es so aus, als würde man direkt unter freiem Himmel schlafen.", verkündete Riaan stolz „Ich habe das Zimmer eingerichtet. Meine Eltern haben hier auch mal für ein paar Jahre mit mir gewohnt, als ich noch ganz klein war. Damals war das hier mein Zimmer. Jetzt habe ich mich aber für ein anderes Zimmer entschieden, wenn ich zu Besuch bin."

„Wieso?", hakte Mia nach.

Für einen kurzen Moment sah ich, wie Riaans Augen zu dem zweiten Himmelbett huschten.

„Weil ich mich dann nicht so schnell an das Haus hier gewöhne und kein Problem habe, wenn ich wieder nach Hause muss.", lachte Riaan, doch das Lachen erreichte seine Augen diesmal bei weitem nicht.

„Für wen ist welches Zimmer?", fragte Jayden ihn grummelig.

Riaan zuckte mit den Schultern: „Das dürft ihr euch natürlich aussuchen. Fühlt euch wie zu Hause, ich bin unten und hab nichts dagegen, wenn ihr mir Gesellschaft leisten wollt.", er zwinkerte mir kurz zu und ich musste kurz ein ziemlich peinliches, teenagerhaftes Kichern unterdrücken.

„Obwohl", fügte Riaan nach ein paar Sekunden hinzu: „Auf deine grummelige Gesellschaft kann ich gut verzichten.", sagte er dann zu Jayden „dann kann ich auch gleich mit meiner Cousine sprechen."

Dann verließ er den Raum bevor Jayden ihn mit seinen bösen Blicken erdolchen konnte.

„Jetzt brauchen wir einen Plan.", bestimmte Mia als auch Jayden gerade zur Tür rausgehen wollte.

„Genau", sagte dieser „Ich nehme das erste Zimmer unten und ihr teilt euch hier alles ein."

„Das meine ich nicht du Idiot!", rief Mia, ging zur Tür, die Jayden gerade geöffnet hatte und knallte sie vor seiner Nase wieder zu: „Wir brauchen einen Plan für Morgen."

„Unsere Pläne sind doch eh scheiße.", murrte Jayden, drehte sich aber um und ließ sich in einen der beiden Ohrensessel fallen. Ich nahm den anderen ein und erwiderte: „So scheiße war unser Plan beim letzten Mal aber nicht. Okay, er ist vielleicht ein kleines bisschen aus dem Ruder gelaufen, aber wir haben bekommen was wir wollten, und zwar, weil wir alles gut ausgearbeitet hatten."
Jayden lachte trocken auf und während sich die Zwillinge auf den Kissen niederließen spottete er: „Ein bisschen aus dem Ruder gelaufen...du wurdest angeschossen! Von meiner komplett durchgeknallten Mutter! Das ist alles kein Spaß gewesen!"

„Leute", schaltete sich Ben ein „Es hat doch wirklich keinen Sinn, über mögliche Fehler in unserem letzten Plan zu diskutieren. Wir werden Morgen der nächsten Seite wohl ziemlich nah kommen und dafür müssen wir uns jetzt eine Strategie überlegen."

„Genau! Zum Beispiel, wer mit diesem ultraheißen Typen zu der Promiparty gehen darf.", warf Mia ein „Habt ihr seine Augen gesehen? Oder seine Haare? Er sieht aus wie ein Engel!"

Jetzt konnte ich kein Kichern mehr unterdrücken: „Oh ja! Aber Mia, seine Wangenknochen!"

Wir kicherten beide und selbst Ben grinste einmal verlegen, doch dann räusperte Jayden sich: „Ist das jetzt euer Ernst? Wir haben wirklich wichtigere Probleme!"

„Ja, du hast ein Problem damit, dass jemand besser aussieht aus du.", konterte Mia.

Wütend funkelte Jayden sie an: „Habt ihr mal gesehen, wie klein der Typ ist?"

„Na und? Er sieht trotzdem besser aus als du.", pflichtete ich Mia bei, die mir zu grinste: „Außerdem ist er nicht so ein Fiesling."

„Würde er dazu gezwungen sein, mehrere Tage mit euch zu verbringen, dann wäre er genauso!"

Mia und ich warfen gleichzeitig mit einem Kissen nach ihm.

Bevor Jayden zurückwerfen konnte räusperte sich Ben: „Ohne, dass ich eure kleine Kissenschlacht hier stören möchte... wir brauchen wirklich einen Plan!"

Sofort wurde Mia wieder ernst und nickte bestätigend: „Das stimmt. So gerne ich auch auf diese Party gehen möchte, ich denke, es wäre besser, wenn du gehst Luna. Allein schon, weil es deine Verwandte ist. Und deine Fähigkeiten sind jetzt auch nicht so unpraktisch."

„Deshalb sollte auch Jayden mitgehen. Zum allergrößten Notfall hilft er dir dann aus der Patsche, indem er im Gehirn von den Menschen rumbastelt. Gute Arbeit mit Rykia übrigens!"

Jayden zog eine Augenbraue hoch: „Keine Moralpredigt à la: „so etwas macht man nicht, Jayden, das gehört sich nicht!"?"

„Zeiten ändern sich.", murmelte Ben.

„Und mein Brüderchen", half mir ihrem Bruder jetzt: „ist auch froh, nicht zu so einer schicken Party gehen zu müssen, nicht wahr?"

„Mhmm", machte ihr „Brüderchen" undeutlich.

„Aber ICH muss dahingehen, oder was?", fragte Jayden genervt.

„Oh ja, Mister „Ich kann alles und bin jedem überlegen".", fuhr ich ihn an „Du möchtest genauso in Besitz der Seiten kommen, wie ich, also musst du auch ein bisschen was dafür machen."

Jayden presste die Lippen auf einander und blickte wütend drein, sagte aber nichts mehr.

„Nun gut", überlegte Mia laut: „Wie geht ihr vor, wenn ihr im Haus drin seid?"

„Wir versuchen am besten mit Lucilda zu sprechen. Vielleicht gibt sie uns die Seite ja freiwillig."

„Oder", sagte Ben „du versuchst, sie herbeizurufen, so wie die andere Seite."

Gespannt sahen mich die anderen an.

„Ich...ich weiß nicht ob das geht..."

„Dann testen wir es einfach aus. Warte!", Mia sprang auf und lief suchend durch den Raum, bevor sie die Tagesdecke vom einem der Betten zog. „Versuch mal die Decke zu dir zu rufen."

„Da ist es auch nicht so schlimm, wenn sie jemandem auf den Fuß fällt.", murmelte Jayden.

Ich ignorierte ihn und konzentrierte mich stattdessen auf die Decke in Mias Hand. Während ich meine Hände zu Fäusten ballte, stellte ich mir vor, wie sie auf mich zugeflogen kam und tatsächlich: die Decke schwebte durch die Luft und landete dann sanft auf meinem Schoß.

„Genial!", Mia klatschte in die Hände „Versuch es noch mal mit ein paar anderen Gegenständen aus diesem Raum." Ich versuchte es und nach ein paar Minuten lagen wirklich allerlei Dinge, die sich vorher irgendwo im Raum befunden hatten, auf meinem Schoß.

„Das ist ja alles gut und schön.", erklärte Jayden: „Aber du weißt ja wo die Dinge liegen. Bei der Seite wirst du es schließlich nicht wissen. Außerdem, was willst du machen? Willst du dort rein gehen und während der Party die Seite auf dich zufliegen lassen?"

„Nein, natürlich nicht.", zischte ich „Es wäre aber schon ganz praktisch die Räume nicht durchsuchen zu müssen, sondern einfach nur reingehen und kurz überprüfen können, ob die Seite dort ist."

„Kannst du denn Dinge bewegen, wenn du nicht weißt, wo genau sie liegen?", fragte mich Jayden spöttisch.

„Keine Ahnung! Ich habe es bisher noch nicht getestet!" Seine Art war noch herablassender als sonst und es machte mich unfassbar wütend.

„Lass uns auch das austesten!", bestimmte Mia rasch und befahl „Schließ die Augen. Ich verstecke das Kissen hier irgendwo im Raum und sage dir nicht wo."

„Ich komme mir vor, wie ein Hund.", murrte ich, hielt mir die Hände aber trotzdem vor die Augen.

Nach ein paar Sekunden zog mir Mia die Hände vor den Augen weg und erklärte: „Ich habe das lilane Kissen mit den blauen Punkten versteckt."
Ich stellte mir das Kissen genau vor und hatte sogar ein einigermaßen passendes Bild vor Augen. Dann stellte ich mir vor, wie es auf mich zuflog, genauso wie ich es eben getan hatte. Aber diesmal passierte nichts.

„Versuch es!", feuerte mich Ben, der mich erwartungsvoll musterte an.

„Tu ich ja schon!", zischte ich und versuchte immer angestrengter, das Kissen auf mich zufliegen zu lassen „Aber es funktioniert nicht!"

„Schade.", Mia und Ben wirkten unglaublich enttäuscht, Jayden nicht einmal überrascht.

„Hab ich's doch gesa..."

„Halt einfach deine Klappe!", schrie ich ihn an, denn just in diesem Moment hatte er das Fass in mir zum Überlaufen gebracht und ich kochte vor Wut.

„Ich versuch es doch schon! Ich versuche es wirklich! Vielleicht bin ich ja einfach zu dumm dafür, genauso wie beim Kontrollieren der Gedanken. Nicht jeder ist so unverfehlbar wie du, Jayden Cooper! Es tut mir ja furchtbar leid, dass ich das nicht hinkriege.

„Naja", wandte Mia ein: „Es war ja auch erst der erste Versuch. Ist doch nicht so schlimm, wir probieren es einfach noch einmal..."

„Nicht so schlimm?", schrie ich jetzt sie an, obwohl ich natürlich tief in meinem Inneren wusste, dass sie die letzte war, die etwas für das alles konnte. Aber ich war so in Rage, dass ich mich nicht stoppen konnte: „Für euch ist das ein beschissenes Abenteuer. Ist doch wahr, oder? Ihr wolltet ein Abenteuer und seid deshalb mitgekommen und jetzt kommt ihr nicht mehr aus der Sache raus, ohne unhöflich zu sein. Für mich ist das aber kein lustiges Fantasy-Abenteuer mehr! Wenn ich die Seiten nicht finde und der Typ meinen Vater ermordet, habe ich niemanden mehr, kapiert ihr?! Lasst mich einfach in Ruhe!"

Und mit diesen Worten stürmte ich aus dem Raum.

Ich fand Riaan in dem Raum, der wohl der Billardraum sein musste. Jedenfalls war es ein Raum, in dessen Mitte ein Billardtisch stand, an dem Riaan gerade mit einem Schläger (Queue) in der Hand stand und konzentriert die Kugeln anstarrte.

Als ich reingestampft kam blickte er auf und sagte einfach nur: „Hi", bevor er sich wieder seinem nächsten Stoß zuwandte. Ich ließ mich auf ein zerschlissenes Ledersofa Sofa fallen, das so gar nicht zum Rest der stilvollen Einrichtung passen wollte und beobachtete ihn beim Spielen. Es lagen noch drei ganze Kugeln (die vollständig angemalten) auf dem Tisch, die schwarze unter ihnen. Riaan setzte den Queue an und versenkte zielsicher eine der Kugeln. Dann machte er sich daran, auch die andern zu versenken.

Nachdem er auch die Schwarze versenkt hatte, grinste er triumphierend und setzte sich neben mich aufs Sofa: „Schlechte Laune?"

Ich nickte nur.

„Ich könnte dir ja jetzt anbieten eine Runde mit mir zu spielen, aber wir wollen ja nicht, dass es mit deiner Laune noch weiter bergab geht."

Bei dieser schlecht versteckten Herausforderung in seinen Worten horchte ich auf: „Du denkst, ich kann kein Billard spielen?"

„Nein. Ich denke, ich kann besser als du spielen.", er grinste und reichte mir auffordernd den Queue.

„Das musst du mir erst einmal beweisen.", ging ich auf sein Angebot ein, nahm ihm den Queue aus der Hand und begann die Kugeln in der Mitte zu einem Dreieck zu formen, während Riaan sich einen zweiten Queue aus einem Schrank an der Wand nahm.

„Lasset die Spiele beginnen.", eröffnete ich und wollte schon anstoßen, als mich Riaan zur Seite schob und verkündete: „Alter vor Schönheit", er zwinkerte mir zu und ich war einen Moment so abgelenkt davon, die Röte zu unterdrücken die in mir aufsteigen wollte, dass ich vergaß zu protestieren als er anstieß. Riaan versenkte eine halbe und eine ganze Kugel.

„Ahh", er grinste: „Ich habe die Wahl und ich wähle...ganz!"

Dann setzte er neuerlich an und stieß die weiße Kugel auf eine rote zu. Obwohl die weiße Kugel ihr Ziel traf, verfehlte die rote das Loch um eine Haaresbreite.

„Das ist ja schade.", ich setzte an und stieß die weiße Kugel seitlich gegen eine halbe Kugel, so dass diese perfekt rollte und in genau das Loch traf, dass ich für sie vorgesehen hatte: „Habe ich erwähnt das wir in der Schule ziemlich coole AGs haben und ich drei Jahre lang stolzer Teilnehmer der Billiard-AG war?" Jetzt war es an mir zu grinsen, während ich die nächste Kugel versenkte: „Dazu kommen regelmäßige Übungsstunden. Immer dienstags mit meinem Vater."

„Verdammt.", zischte Riaan, klang aber mehr belustigt als verärgert, als ich auch meine nächste Kugel ins Loch rollte: „Du musst mich auch noch drankommen lassen."

Das tat ich nicht. Ich versenkte eine Kugel nach der anderen und klopfte mir am Ende selbst auf die Schulter, weil ich es nicht verlernt hatte.

„Unfassbar.", gespielt schockiert schüttelte Riaan den Kopf und ließ sich dramatisch wieder auf das Sofa fallen.

„Du hättest nicht so angeben sollen.", ich lehnte mich an den Billardtisch, an dem ich ihn eben haushoch geschlagen hatte.

„Das hätte ich wohl wirklich nicht tun sollen.", gestand Riaan ein: „Aber ich musste dir doch irgendwie imponieren!"

„Mit leeren Worten?", lachte ich.

„Vermutlich war das nicht so schlau... Apropos leer: das ist mein Magen auch.", er rieb sich über den Bauch und stand seufzend auf: „Willst du auch was essen? Vielleicht kannst du mir dann ja auch erzählen, wieso du so schlechte Laune hattest?!"

„Vielleicht.", murmelte ich und folgte ihm in eine Küche große, weiße Küche mit einer Kücheninsel mitten im Raum an der ein paar Barhocker standen.

„Setz dich", bedeutete mir Riaan und ich nahm Platz während er im Kühlschrank kramte und mit einigen Zutaten zur Kücheninsel zurückkehrte.

„Irgendwelche Allergien?", fragte er mich und kramte währenddessen in einem Schrank neben dem Herd, auf der Suche nach etwas.

„Nein.", antwortete ich: „Ich bin absolut allergiefrei."

„Perfekt!", ich war mir nicht ganz sicher, ob Riaan damit meine Allergiefreiheit oder die große Pfanne meinte, die er jetzt in der Hand hielt.

„Magst du Pfannkuchen?"
„Wer mag denn bitte schön keine Pfannkuchen?", fragte ich entsetzt.

„Rykia."

„Mag sie die nicht oder sind sie schlecht für ihre Linie?"

Das Grinsen, das mir Riaan daraufhin zuwarf, sagte alles. Er machte sich daran, Eier in eine Schüssel zu schlagen, mindestens zehn Stück und schüttete dann Mehl und Milch hinzu. Ohne beides vorher abzumessen.

„Ähhm, bist du sicher, dass das so was wird?", fragte ich zweifelnd.

„Klar, ich mach das immer so.", beruhigte er mich.

„Ahhjaa."

Während er den Teig verrührte, blickte Riaan mich an: „Willst du mir erzählen warum du so schlechte Laune hattest?"

„Eigentlich nicht. Ich komme bei der Geschichte nicht so gut weg."

Fragend blickte er mich an und ich spürte wie das schlechte Gewissen den anderen gegenüber an mir nagte: „Ich habe die anderen für ein paar Dinge verantwortlich gemacht, für die sie eigentlich absolut gar nichts können."

„Was denn für Dinge?"
Ich biss mir auf die Unterlippe: „Das ist ziemlich kompliziert."

„Ich bin auch ziemlich kompliziert. Deshalb verstehe ich komplizierte Dinge ziemlich gut." Riaan begann den ersten Pfannkuchen zu braten.

Seufzend versuchte ich die Geschehnisse der letzten Tage möglichst unverfänglich zusammen zu fassen: „Wir sind schon seit einer Weile auf der Suche nach meinen Verwandten, weil jeder von ihnen etwas hat, dass jemand anderes unbedingt haben möchte. Und dieser jemand setzt mich enorm unter Druck."

Riaan runzelte die Stirn: „Womit?"

„Er...er hat etwas...jemanden, der mir ziemlich wichtig ist."
„Das klingt verdächtig nach Erpressung. Vielleicht solltet ihr die Polizei einschalten?"

Ich lachte kurz auf: „So einfach ist das leider nicht. Die Polizei würde uns wahrscheinlich eher nicht glauben und ich gebe dem Erpresser lieber, was er möchte, anstatt zuzulassen, dass er der Person etwas antut."

„Wirklich gut hört sich das aber nicht an."
„Aber eine Wahl habe ich nicht wirklich."

„Möchtest du mir nicht genauer sagen, worum es geht?"
Entschieden schüttelte ich den Kopf: „Ich habe schon zu viele unbeteiligte Personen mit in die Sache hineingezogen und ich habe keine Lust, dass noch irgendjemand meinetwegen Ärger kriegt."

„Verstehe.", Riaan nickte und wandte sich wieder den Pfannkuchen zu.

„Bist du sauer?", fragte ich vorsichtig.

„Wie bitte?", verwirrt schreckte er aus seinen Gedanken hoch: „Nein, ich denke, es wird schon einen Grund haben, wieso du es mir nicht erzählst..."

„Den hat es.", pflichtete ich ihm bei.

„Aber du solltest wohl mal mit deinen Freunden sprechen."

„Vermutlich."

„Du kannst ihnen ja ein paar Pfannkuchen bringen. Ich würde jedem verzeihen, der mir Pfannkuchen bringt."
Darüber musste ich lachen. Dann fiel mir etwas ein: „Jetzt habe ich dir ja etwas erzählt...kannst du mir auch eine Frage beantworten?"

Misstrauisch blickte Riaan auf, nickte aber dann.

„Wieso hast du wirklich das Zimmer gewechselt?"

Einen Moment lang sah ich etwas Undefinierbares in Riaans Zügen aufblitzen, etwas zwischen Angst und Trauer, doch dann setzte er wieder sein unbekümmertes Grinsen auf. „Das habe ich doch schon erzählt, es ist dann leichter wieder nach Hause zu fahren."

„Und der wahre Grund?"

„Das war der wahre..."

Ich zog nur meine Augenbrauen hoch, als Riaan mich unverwandt grinsend ansah. Da passierte es: für einen Moment starrte ich ihn zu lange an und war im nächsten schon in seinem Kopf. Ganz unabsichtlich natürlich. Das Bild eines kleinen, dünnen Mädchens mit hellen Haaren und ausgemergeltem Gesicht erschien vor meinen Augen. Sie lag in einem der Himmelbetten im Dachzimmer und ihre Hände zitterten als sie ein Glas Wasser vom Nachttisch hob und an ihre Lippen setzte. Sie sah unglaublich blass und kränklich aus. Ein Name schoss an all den Bildern vorbei: Sofina

„Möchtest du es mir erzählen?", setzte ich vorsichtig an.

Noch immer zögerte Riaan, aber schließlich setzte er an, den Blick ganz auf die Pfannkuchen gerichtet, die in der Pfanne brutzelten: „Früher habe ich mir das Zimmer mit meiner älteren Schwester geteilt. Sie war krank und ist gestorben und deshalb sind wir umgezogen.", fasste er knapp zusammen, aber das Zittern hörte man trotzdem deutlich aus seiner Stimme raus.

„Oh Gott!", ich schlug mir die Hand vor den Mund.

Riaan nickte sah mich jedoch nicht an. „Ich möchte lieber nicht darüber reden."

„Na klar.", trotzdem streckte ich meine Hand aus, um sie ganz vorsichtig auf seine freie zu legen: „Kein Mitleid, bitte. Das ist schon so lange her, ich erinnere mich kaum noch an sie."

Ich wusste, dass das eine Lüge war. In seinem Kopf war seine Schwester ganz deutlich zu erkennen gewesen, aber ich sagte nichts dazu. Vermutlich hatte er genügend Freunde, mit denen er sprechen konnte, da musste er nicht noch mit einer wildfremden Person reden, die er in seinem Haus, oder dem seiner Verwandten, aufgenommen hatte.

„Die ersten Pfannkuchen sind fertig!", Riaan grinste zwar wieder fröhlich, wirkte aber noch immer ein wenig neben der Spur: „Oh nein!", rief er als er meinen Blick bemerkte: „Guck mich nicht so an. Jeder, der von der Sache erfährt, guckt mich so an und es geht mir gehörig auf die Nerven."

„Schon gut.", ich zuckte mit den Schultern und machte Anstalten, mir ein paar Pfannkuchen von dem wahren Turm zu nehmen, der sich neben ihm zu häufen begann: „Ich bringe den anderen mal ein paar."

„Vergiss es!", er schlug meine Hand weg: „Wir essen erst!"

„Dann werden die restlichen Pfannkuchen aber kalt!"

„Die stellen wir in den Ofen." Riaan nahm zwei Teller und klatsche ein paar Pfannkuchen darauf. Den einen Teller stellte er vor mir hin, den anderen schob er auf den Platz neben mich. Dann ging er zum Kühlschrank und holte zwei Gläser Marmelade, sowie ein großes Glas Schokocreme hervor.

Bei dem Geruch der Pfannkuchen auf meinem Teller lief mir das Wasser im Mund zusammen.

Mit den Aufschnitten und Besteck bewaffnet, kam Riaan auf die Theke zu und stellte alles darauf.

„Was für ein Service.", grinste ich, bevor ich mir Messer und Gabel und die Schokocreme nahm. Riaan blieb neben dem Herd stehen, stopfte sich aber beim Braten der restlichen Pfannkuchen, seinen eigenen in den Mund.

„Guten Appetit.", nuschelte er.

Eine halbe Stunde später, balancierte ich zwei Teller Pfannkuchen zu dem Dachzimmer hinauf. Zwei Teller waren es deshalb, weil ich zwar Ben, der das zweite Zimmer unten bezogen hatte, einen Teller bringen konnte, Jayden aber nicht da war. Ben war mir nicht ein bisschen böse, dass ich die Fassung verloren hatte, erklärte aber, dass Jayden, welcher das Zimmer gegenüber in Beschlag nahm, ziemlich mies gelaunt gewesen war. Mia, mit der ich mir wohl das Dachzimmer teilte, war wohl einfach traurig gewesen. Mit einem bangen Gefühl in der Magengegend stieß ich jetzt mit der Schulter die Tür zu dem wunderschönen Zimmer auf. Als ich reinkam blickte Mia, die anscheinend regungslos auf dem Bett gelegen hatte, zu mir, sprang auf und fiel mir um den Hals. Beinahe wären mir bei diesem Manöver die Teller aus der Hand gefallen, doch ich konnte sie noch rechtzeitig auf einer schmalen Kommode ablegen.

„Es tut mir ja so unglaublich leid!", schluchzte Mia: „Ja, am Anfang war es wohl ein nettes Abenteuer, aber wir haben dann doch ganz schnell gemerkt wie ernst es wird. Und dann sind wir nicht aus Schuldgefühlen oder Pflichtbewusstsein dabeigeblieben, sondern weil du unsere Freundin geworden bist und wir dir helfen wollen!"

„Ich weiß. Ich weiß doch.", sagte ich und tatschälte Mia den Rücken. „Ich weiß das. Und ich hätte das alles einfach nicht sagen dürfen, es war nur so...keine Ahnung. Ihr seid doch auch meine Freunde! Außerdem bin ich wohl diejenige die sich entschuldigen muss und nicht du!"

Jetzt lächelte Mia, nahm einen der Teller von der Kommode und begann die Pfannkuchen darauf mit den Händen in ihren Mund zu befördern.

„Möchtest du nicht?", fragte sie und ließ sich auf einem der Sessel nieder.

„Nein danke, ich hatte schon mehr als genug. Der Teller war eigentlich für Jayden gedacht, aber den habe ich nicht gefunden. Hast du eine Ahnung wo er ist, vielleicht sollte ich mich auch mal bei ihm entschuldigen."

„Mhhh.", machte Mia „keine Ahnung, wo er steckt. Vermutlich schmollt er. Hast du die Pfannkuchen gemacht?"

Ich schüttelte den Kopf: „Nein, das war Riaan. Er meinte, Pfannkuchen seien das einzige, das er kochen kann."

Mia zog ihre Augenbrauen hoch und sah mich grinsend an: „Riaan hat für dich Pfannkuchen gemacht?"

„Für uns.", korrigierte ich sie hastig.

Davon ließ sie sich nicht beirren. Im Gegenteil: sie grinste nun sogar noch breiter: „Er sieht ja schon ultra gut aus. Diese Haare."

Das stimmte. Tolle Haare hatte Riaan. Und tolle Augen. Aber das war egal. Es war sogar ziemlich egal, denn egal wie gut er aussah und egal wie sympathisch er sich verhielt, nach Morgen würden wir ihn vermutlich nie wiedersehen. Und das sagte ich auch Mia, die daraufhin ihre Augen verdrehte. Dann begannen eben diese zu glitzern und sie sprang auf: „Oh mein Gott Luna!"

Erschrocken fuhr ich bei ihrem Aufschrei auf dem Sessel hoch, in den ich mich ein paar Sekunden vorher habe gleiten lassen: „ich weiß, eigentlich sollten wir uns wohl um deine „Dinge bewegen Sache" kümmern, aber wir brauchen noch ein Kleid für dich! Ich stimme Rykia ja wirklich nur äußerst ungerne zu, aber mit dem Outfit wirst du niemals auf so einer noblen Promiparty eingelassen. Wir können Rykia aber nicht fragen, ob sie dir etwas zum Anziehen leiht, beim besten Willen, ihr habt ganz sicher nicht die gleichen Kleidergrößen..."

„Es kann ja nicht jeder so dünn sein wie sie.", protestierte ich, aber Mia schien mich gar nicht richtig wahrzunehmen, denn ihr Gesicht erhellte sich mit einem Mal: „Ich habe die Idee! Es ist zwar nicht ganz richtig, aber dann kannst du gleichzeitig üben und bekommst ein Kleid!"

„Mia...", mir schwante nichts Gutes.

„Schschh.", bedeutete sie mir leise zu sein: „Also hier wird es doch bestimmt einige Läden in der Nähe geben. Wir gehen einfach dort hin und probieren ein paar Kleider an. Und dann kommen wir abends noch einmal wieder und du lässt sie einfach auf dich zu schweben. Schließlich haben wir kein Geld... Stopp!", wieder ließ sie mich nicht zu Wort kommen als ich den Mund aufmachte: „Wir bringen es natürlich zurück. Am besten packen wir es in ein Paket und legen es anonym vor dir Tür..."
„Das können wir nicht machen!", rief ich jetzt endlich: „Das ist Diebstahl!"

„Meine Güte, wir bringen es doch wieder." Mia schien hellauf begeistert zu sein von ihrem Plan: „Außerdem ist shoppen eine willkommene Ablenkung."

„Ich hasse shoppen.", murrte ich „Außerdem hat dein Plan einige Logiklücken."

„Und welche?"
„Erst einmal brauchen wir doch eine Öffnung, durch die ich die Klamotten hindurchschweben lassen kann und in einem abgeschlossenen Geschäft ist das ziemlich schwierig..."
„Auch in abgeschlossenen Geschäften gibt es Lüftungsschächte. Wir müssen nur ausfindig machen wo sie rausführen."

„Aber..."

„Kein Aber, meine Güte!", rief Mia und verschränkte trotzig die Arme. „Wir machen das so. Und es ist kein Diebstahl, wenn wir es wieder zurückbringen... lass uns Ben fragen, ob er mitkommt. Er liebt es genauso wie ich, einkaufen zu gehen."

„Moment!", hielt ich Mia auf als sie zur Tür marschierte „Möchtest du JETZT losgehen?"

„Na klar, oder hast du etwas anderes vor?", fragte mich Mia.

„Dann lass uns aber vorher mal Riaan fragen, ob es hier in der Gegend überhaupt Läden gibt."

„Natürlich fragen wir Riaan.", Mia zwinkerte mir verschwörerisch zu und ich streckte ihr die Zunge raus bevor ich hinter ihr herlief.

„Nein.", vehement meinen Kopf schüttelnd stemmte ich meine Hände in die Hüfte während ich mich im Spiegel betrachtete. „Vergesst es! Das ist einfach viel zu viel."

„Mhh.", fachmännisch legte Mia ihren Kopf schief und ging in die Hocke, um den Saum des sehr langen und sehr bauschigen roten Kleides, das ich trug, genauer unter die Lupe zu nehmen.

„Sie hat recht.", Ben der neben dem Spiegel stand schüttelte ebenfalls den Kopf. „Das passt einfach ganz und gar nicht."

„So schlimm ist es jetzt auch wieder nicht.", mischte sich die blonde Verkäuferin ein und schürzte die Lippen. „Aber es gibt Kleider, die viel besser aussehen könnten. Ziehen Sie sie jetzt bitte einmal das gelbe Kleid an."

Entnervt seufzte ich und ging zurück in die Kabine, um das rote Kleid auszuziehen. Ich hängte es zu den anderen Kleidern, die ich schon aussortiert hatten, seit wir vor ca. einer Stunde hier aufgeschlagen waren. Nachdem uns Riaan diesen Laden, der kaum eine Viertelstunde vom Haus entfernt war, empfohlen hatte waren wir hergegangen. Mia war freudestrahlend auf die junge Verkäuferin hinter der Theke zugeeilt und hatte ihr mitgeteilt das wir ein enormes Zeitproblem hatten, weil mir nämlich noch ein Kleid für die Feier bei Lucilda Millow Morgen fehlen würde. Die Verkäuferin war darauf sofort ins Schwärmen geraten. Mit verträumtem Blick erzählte sie uns dass sie auch schon immer mal zu einer Party bei Lucilda eingeladen werden möchte und dass diese legendär seien. Viele Leute würden hier ihre Kleider für solche Anlässe kaufen, deshalb wisse sie genau was man dort anziehe, erklärte sie uns. Dann sah sie mich zweifelnd an und behauptete, die Zeit sei aber schon reichlich knapp. Deshalb arbeiteten wir uns jetzt schon seit einer Stunde durch massenweise Kleider. Bisher war allerdings noch keines dabei, welches jeden Anwesenden hier im Raum überzeugen konnte. Apropos überzeugend: Ben war von Mias Idee, das Kleid einfach heute Nacht in unseren Besitz zu bringen genauso wenig überzeugt wie ich, aber wir beide wussten, Mia würde nicht lockerlassen, wenn wir es nicht zumindest probieren würden. Und so hatte Mia schon nach zehn Minuten unauffällig mögliche Löcher im Laden ausgekundschaftet.

Zweifelnd stand ich vor dem gelben, langen Kleid, das vor mir hing: „Ich denke nicht das das mein Stil ist!", rief ich den anderen zu, die vor der Kabine standen und zupfte an den Puschelärmeln. „Darin würde ich aussehen wie ein Kanarienvogel."

„Zieh es trotzdem einmal an!", befahl die Verkäuferin von draußen.

Stöhnend zwängte ich mich in das gelbe Kleid und öffnete dann den Vorhang, um mich den anderen zu präsentieren.

Kaum war ich rausgetreten begann Ben zu lachen. Und er lachte so laut, dass er sich eine Hand vor den Mund pressen musste, als die Verkäuferin ihn böse musterte.

„Luna es tut mir leid", begann Mia mit ernster Stimme: „Aber du siehst tatsächlich aus wie ein Kanarienvogel!"

Ein Blick in den Spiegel genügte, um mir dies bestätigen zu lassen.

Auch die Verkäuferin schüttelte den Kopf: „Dann zieh mal das nächste an." Verzweifelt rieb sie sich die Augen und ich verschwand schnell wieder in der Umkleidekabine.

Das nächste Kleid gefiel mir rein äußerlich von allen Kleidern, die wir ausgesucht hatten, am besten, denn es war nicht nur eines der wenigen ohne viel Brimborium, sondern gehörte auch zu den beiden, die ich mir selbst ausgesucht hatte. Das erste der beiden hatte ich eben schon anprobiert, es war türkis und kurz und gefiel mir echt gut, aber es war wohl eher ein Sommerkleid, als ein schickes Partykleid.

Das Kleid jetzt fühlte sich schonmal ganz anders an, als das Kleid davor. Hier drin kam ich mir nicht allzu lächerlich vor. Als ich vor die Kabine trat, begann Mia zu strahlen und Ben anerkennend zu nicken. Die Verkäuferin konnte ich nirgendwo entdecken. Meinem fragenden Blick folgend erklärte Ben: „Sie musste ins Lager, denn ihre Mitarbeiterin wusste nicht wo die Seidenbänder liegen."

„Das ist aber auch gut so, denn würde sie dich in diesem Kleid sehen, wüsste sie das du es nehmen wirst. Schau dich doch mal an."

Ich trat vor den großen Ganzkörperspiegel und betrachtete mich. Das Kleid war wunderschön, dagegen konnte man nichts sagen. Es war trägerlos und obenrum aus festem, dunkelblauem Stoff gefertigt, in dem von oben herab bis zur Taille schlichte Stickereien aus einem etwas hellerem Blauton eingearbeitet waren. Ab der Taille fiel das Kleid dann in einem leichteren, aber genauso dunklem Stoff wie oben bis hinab auf den Boden. Das schönste am ganzen Kleid waren aber die winzigen, hellen Punkte, die überall auf dem Rock verteilt waren. Wenn ich mich bewegte sah es so aus als wären dies tausende Sterne am Nachthimmel umherwandern.

„Es ist unglaublich!", rief ich aus und drehte mich einmal im Kreis, um auch ja jedes Detail des Kleides betrachten zu können.

„Es hat sogar eine Schleppe.", hauchte Mia ehrfurchtsvoll und hob das Kleid, das hinten tatsächlich eine Schleppe aufwies, ein wenig an. „Schnell zieh dich um!", befahl sie dann. „Du sagst der Verkäuferin, du hast leider nichts gefunden, während wir das Kleid hier irgendwo unauffällig deponieren."

Ich nickte nur und zog mir dann wieder Hose und T-Shirt an. Als ich aus der Kabine trat, übereichte ich Mia den Kleiderstapel und flüsterte: „Das Kleid liegt ganz unten."

Grinsend bedeutete mir Mia, zur Verkäuferin zu gehen, die jetzt wieder hinter der Theke stand und hektisch etwas nachzuschlagen schien, bevor sie rief: „Trude, wir haben sie nicht mehr in rosa."

Ihre Stimme klang panisch. „Oh nein, oh nein.", eine andere Verkäuferin kam aus dem hinteren Teil des Ladens an und schlug sich ihre Hände vor den Mund: „Aber ohne die Schleife will sie das Kleid nicht haben."

„Dann bestelle ich jetzt erst einmal welche nach...", die erste Verkäuferin tippte etwas in den Computer ein bevor sie aufblickte und uns entdeckte.

„Seid ihr fündig geworden?", fragte sie lächelnd und ich musste mich zwingen mein schlechtes Gewissen unter Kontrolle zu behalten und den Kopf zu schütteln. „Nein, leider nicht.", antwortete ich hastig. Die Enttäuschung in ihrem Gesicht war nicht zu übersehen, aber sie setzte schnell wieder ein professionelles Lächeln auf: „Das ist schade, vielleicht kommt ihr ja noch einmal zu einem anderen Anlass vorbei."
Wir nickte und verabschiedeten uns höflich, bevor wir das Geschäft verließen.

„Das können wir doch nicht machen!", rief Ben sofort als die Tür geschlossen wurde.

„Natürlich können wir.", Mia zuckte die Achseln und entgegnete: „Wir leihen es uns ja schließlich nur aus. Übrigens habe ich es genau an dem Kleiderbügel platziert, an dem du es gefunden hast Luna."

„Danke."

„So und jetzt suchen wir Schuhe!", verkündete sie fröhlich und wollte uns weiter in die kleine Innenstadt mit reinziehen.

„Die Schuhe sieht doch niemand unter dem langen Kleid.", protestierte ich und rührte mich nicht von der Stelle.

„Aber mit hohen Schuhen ändert sich dein Gang radikal!"

„Ja, er wackelt dann! In solchen Schuhen kann ich nämlich nicht laufen und ich wäre Morgen schon ganz gerne beweglich."

Resigniert sah Mia mich an. „Aber Schuhe..."
„Das reicht.", unterbrach Ben seine Schwester: „Wir haben ein schönes Kleid gefunden, unter dem man tatsächlich nicht von den Schuhen erkennen kann und wir müssen uns heute Nacht erst einmal darum kümmern, dieses in unseren Besitz zu bringen."

Mia wirkte ein wenig eingeschnappt, fing sich aber sehr schnell wieder. „Können wir uns dann wenigstens die Pferde vor dem Haus angucken?", fragte sie.

„Du klingst wie ein Kleinkind.", missbilligend sah Ben sie an.

„Vielleicht tue ich das ja, aber denk doch mal: Islandponys!"

Ben lachte und wir machten uns alle auf den Rückweg zum Haus.

Langsam ging ich die breite Treppe des Hauses hoch, wobei ich mir die Hand auf die Hüfte presste. Es tat zwar nicht mehr schrecklich weh, aber ich merkte die zurückgelegte Strecke von Heute schon. Deswegen hatte ich auch beschlossen, Mia und Ben bei den, zugegebenermaßen wirklich sehr niedlichen, Ponys zu lassen und mich noch einmal hinzulegen, denn wir hatten noch einige Stunden Zeit, bevor wir heute Nacht aufbrechen und uns das Kleid ausleihen würden.

„Hey!", riss mich da eine Stimme aus meinen Gedanken. Als ich herumwirbelte, sah ich Rykia, die sich mit ihrem Smartphone und einer riesigen Sonnenbrille auf einem Liegestuhl vor dem Haus fläzte. „Wo hast du denn deinen Anhang gelassen?", fragte sie mich, nachdem ich mir ihr genähert hatte.

„Mia und Ben sind bei den Ponys und keine Ahnung, wo Jayden steckt.", gab ich Auskunft und wollte mich rasch wieder umdrehen und ins Haus verschwinden.

„Jetzt mal ehrlich", hielt Rykia mich aber auf: „Was wollt ihr von Lucilda?"

„Wie gesagt: wir sind auf der Suche nach einem Familienerbstück von mir."

„Was denn genau?", sie setzte sich gerader auf, schob sich die Sonnenbrille in ihr blondes Haar und fixierte mich mit einem fragenden Ausdruck in den Augen.

„Das...das ist kompliziert zu erklären.", stammelte ich.

„Weißt du, ich bin gar nicht so dumm. Auch wenn die meisten Leute das denken. Ich bin immer nur die mit den blonden Haaren und dem schönen Gesicht. Die meisten Typen verabreden sich mit mir, weil ich gut aussehe, nicht wegen dem, was ich sage. Ich könnte denen auf einem Date den größten Scheiß erzählen und es wäre ihnen scheißegal, denn ich bin ja hübsch.", sie zuckte gereizt mit den Schultern: „Aber glaub mir, ich habe schon etwas im Kopf und bezweifle ganz stark, dass das alles zu kompliziert für mich ist."

Ich seufzte, hockte mich neben den Liegestuhl und lehnte meinen Rücken an das Geländer: „Ich habe nicht behauptet, dass die ganze Sache für dich zu kompliziert ist, so dass du sie nicht verstehst. Aber für mich ist sie so kompliziert, dass ich es nicht erklären möchte..."

„Ich bin nicht...", begann sie wieder.

„Das weiß ich! Ich denke nicht, dtss du dumm bist, meine Güte, aber hast du schonmal was von Privatangelegenheiten gehört?"

„Wir nehmen euch morgen schließlich mit!"

„Und dafür bin ich dir und Riaan wirklich unfassbar dankbar."

„Dann haben wir doch auch ein Recht zu wissen, worum es geht!"

Sie war anstrengend. Vorhin, als sie noch desinteressiert, unhöflich und gelangweilt war, fand ich sie deutlich angenehmer.

„Sonst", sagte Rykia bedrohlich. „Also, wenn du nicht zumindest ein bisschen was erzählst, nehmen wir euch nicht mit."
Unfassbar! Jetzt versuchte sie auch noch mich zu erpressen und leider hatte sie mich damit völlig in der Hand, doch ich hatte beim besten Willen keine Lust, dass alles noch einmal zu erklären. Und so kramte ich in meiner Hosentasche und zog den kleinen Globus hervor, klappte ihn einmal auf und nahm den Zettel heraus, der in ihm steckte.

Rykia nahm den Zettel und begann laut vorzulesen:

„Vier sind mir entgangen,

Jahrelang schwebte ich,

zwischen Hoffen und Bangen.

Dass es mit mir endet,

dass unser Erbe nicht noch mehr Leben verschwendet.

Es wurde zu gut bewacht,

und alle wurden niedergemacht.

Wenn es passiert,

wenn ich erlösche,

erlöscht werde,

muss ich dir trotzdem noch etwas sagen:

Ich weiß mehr als er glaubt,

genau wie du...

vertrau niemandem,

und doch jedem.

Rede und überhöre die Lügen,

Schweige und hör allem zu,

auch die Wahrheit kann trügen,

das größte Rätsel, das bist du.

F.M.

Sie runzelte die Stirn als sie zu Ende gelesen hatte: „Wer ist denn F.M.?"

„Fiona Millow. Meine Mutter. Sie ist gestorben, als ich drei war und diesen Zettel habe ich neulich gefunden. Und seitdem suchen wir nach den Dingen, die sie in ihrem Gedicht beschreibt."

„Was denn für Dinge?"

Ich zögerte und beschloss dann ihr die halbe Wahrheit zu erzählen: „Bücher. Wir sind auf der Suche nach alten Büchern."
„Ah ja. Und warum sind die so wertvoll? Sind sie so alt, dass ihr sie für viel Geld verkaufen könnt?"

„So ungefähr. Und wir brauchen sie dringend."

„Die vier Stück?"

„Vier?"

„Ja das steht hier doch: „vier sind mir entgangen..."

Mein Kopf begann fast zu explodieren, weil ich so schnell nachdachte: Mias Mutter hatte von fünf Seiten gesprochen. Fünf Seiten, die überall verteilt sind genauso wie Onkel Jeff. Aber vier Seiten, das bedeutete, meine Mutter hatte schon eine gefunden, bevor sie gestorben war. Das bedeutete eine war in ihrem Besitz gewesen. Doch wo war diese Seite? Bei uns in Hastings konnte sie nicht sein, dort hatte meine Mutter nie gewohnt, wir waren schließlich erst nach ihrem Tod dorthin gezogen. Dann gab es eigentlich nur einen Ort, wo diese Seite sein konnte: in London! Aber zwei Stück weitere mussten wir immer noch finden. Wenn wir Glück hätten, wäre es Morgen nur noch eine... wusste meine Großmutter vielleicht irgendwas?

„Hallo?", Rykia schnipste mir mit dem Finger vor den Augen rum.

„Ja? Hast du was gesagt?"

„Habe ich!", sie wirkte ein wenig eingeschnappt: „Der dunkelhaarige aus eurer Gruppe...wie alt ist er?"

„Ähhm", die Frage passte überhaupt nicht in unser Gespräch: „Achtzehn, glaub ich. Wieso?"

Ein wenig verärgert runzelte Rykia ihre Stirn: „Ich dachte er wäre älter. Ein richtiges Schnuckelchen ist er..."

Ich musste mir ein Grinsen verkneifen. „Schnuckelchen" wäre das letzte Wort, mit dem ich Jayden beschreiben würde.

„Glaub mir, so schnuckelig ist er gar nicht."
„Er wäre mir eh zu jung. Aber Morgen ist er schließlich meine Begleitung... ich denke, ich werde den Leuten erzählen,dass er fünf Jahre älter ist."

„Mach das.", immer noch grinsend machte ich Anstalten, mich zu erheben.
„Stopp! Hast du denn überhaupt ein Kleid für Morgen?", hielt mich Rykia abermals auf.

„Wir kümmern uns nachher drum.", murmelte ich.

„Ahh jaa. Was hast du dir denn so für ein Kleid vorgestellt?", jetzt schien Rykia ganz in ihrem Element zu sein, denn sie zog gespannt sie Augenbrauen hoch und sah mich erwartungsvoll an.

„Ich habe schon eins ins Auge gefasst. Das ist lang und blau."

„Okaay.", entgegnet sie: „Blau und lang, das passt ganz gut, glaube ich. Natürlich kann ich es erst so richtig bewerten, nachdem ich das Kleid selbst gesehen habe, aber eigentlich ist lang bei diesen Veranstaltungen immer gut. Wahrscheinlich wirst du sehr ordinär aussehen und gar nicht groß auffallen, da sich die meisten für ein langes Kleid entscheiden werden. Es gibt ja auch kein Motto...", leise sprach Rykia weiter vor sich hin und ich beschloss sie zu unterbrechen, indem ich sie das fragte, was sie unbedingt erzählen wollte: „Was ziehst du denn Morgen an?"

„Ohh.", ihre Augen leuchteten auf. „Da ich öfter bei diesen Veranstaltungen bin und auch einen stilsicheren Modegeschmack habe, habe ich mich für ein kurzes Kleid entschieden. Es ist bordeauxrot und wunderschön. Hach, du wirst es Morgen sehen. Ich habe es mir exklusiv von einem Modedesigner anfertigen lassen, mit dem ich vor ein paar Monaten zusammengearbeitet habe..."

Sie sprach noch weiter, doch meine Aufmerksamkeit wurde in diesem Moment auf Jayden gelenkt, der mit nach unten gerichtetem Blick die Stufen heraufkam und uns nicht zu bemerken schien. Genauso wenig, wie Rykia ihn bemerkte. Er stiefelte auf die Tür zu und ich sprang hastig auf.

„Hey, Rykia, tut mir leid, aber ich muss los. Ich war wohl vorhin ein wenig gemein zu Jayden und gehe mich mal schnell entschuldigen."

„Ähh, okay.", sie schien gar nicht zu bemerken, dass ich lossprintete und sprach einfach weiter, als ich schon längst weg war. Ich holte Jayden kurz hinter der Eingangstür ein.

„Jayden!", keuchend stemmte ich meine Hände in die Hüfte. Dieser kleine Sprint hatte mich komplett ausgeknockt.

Jayden wirbelte zu mir rum und blickte mich verwirrt an, bevor seine verwirrte Miene einer grimmigen wich: „Was?", brummte er.

„Ich wollte... sag mal hast du geweint?", fragte ich ungläubig und sah mir entsetzt seine roten, zugeschwollenen Augen an.

„Nein!", wütend wandte er sich ab und bevor ich mich versah, war er schon die Treppe hochgehechtet in Richtung seines Zimmers.
Ich lief hinter ihm her, doch er knallte mir die Zimmertür vor der Nase zu. Ich drückte sie daraufhin einfach auf und schob mich in Jaydens Zimmer.

„Scheiße, wenn man nicht abschließen kann, oder?"

Genervt verschränkte Jayden seine Arme vor der Brust und sah mich abwartend an: „Was willst du?"

„Mich entschuldigen.", antwortete ich: „Das was ich zu dir gesagt habe, war echt daneben und ich hätte meine schlechte Laune nicht an euch auslassen dürfen..."
„Kurze Zeit später hattest du ja keine schlechte Laune mehr.", wütend funkelte Jayden mich an.

„Wie meinst du das?", fragte ich verwirrt.

„Ich meine das so, dass wir erst als Puffer für deine Laune herhalten mussten und dass du dich dann diesem Schönling an den Hals geschmissen hast, während wir mit unserem schlechten Gewissen wegen der Dinge die du und vorgeworfen hast klarkommen mussten."

Beschämt betrachtete ich meine Füße: „Entschuldige..."

Mit einem wütenden Schnauben unterbrach Jayden mich. Jetzt reichte es aber. Ja, ich habe mich echt mies verhalten vorhin, aber ich versuchte gerade mich dafür zu entschuldigen: „Weißt du was, Jayden: du behandelst uns meistens auch wie den letzten Dreck und entschuldigst dich dann nicht einmal. Und jetzt tust du so, als hätte ich dich zu Tode gekränkt und habe kein Recht mich zu entschuldigen? Dann nimm meine Entschuldigung halt nicht an, aber auf dein Affentheater habe ich auch keine Lust." Ich stürmte aus seinem Zimmer und lief die Treppe hoch in meins.

Ganz ehrlich: dann konnte ich auch auf Gespräche mit ihm verzichten! Und auf ihn konnte ich auch verzichten! Wütend warf ich mich auf mein Bett und versuchte krampfhaft, nicht schon wieder loszuheulen. Dann schlief ich ein.

„Oh mein Gott, du glaubst gar nicht, wie unfassbar niedlich diese Ponys sind.", wurde ich ein wenig später wieder aus dem Schlaf gerissen als Mia ins Zimmer kam: „Rykia kam auch noch dazu und sie war viel netter als sonst. Sie hat mir sogar erlaubt, mich auf eines der Pferde zu setzten, während sie Ben alles über ihr Outfit Morgen erzählt hat. Ich bin ja so neidisch auf dich, dass du dahingehen darfst. Upps... hast du geschlafen?", schuldbewusst rieb sie sich über die Stirn und ich sah sie an, während ich versuchte meine Augen ganz aufzukriegen.

„Schon gut", gähnend streckte ich mich aus: „Wenn ich noch länger geschlafen hätte, könnte ich heute Nacht nicht schlafen." Ich versuchte zu lächeln, doch Mia kniff die Augen zusammen und setzte sich in einen Sessel, von dem aus sie zu mir rüber blickte.

„Alles in Ordnung?"

Ich seufzte und berichtete ihr dann von meinem Gespräch mit Jayden. Mia schien das ganze aber eher amüsant zu finden, denn sie begann zu grinsen: „Ich glaube, der gute Jayden ist ein wenig eifersüchtig."

Beinahe verschluckte ich mich an meiner eigenen Spucke und fuhr aus den Kissen hoch: „Wie bitte?"
„Ich glaube, nein, ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass Jayden eifersüchtig auf Riaan ist."
„Weil er besser aussieht?"

„Nein du Dummerchen: weil er offenkundig mit dir flirtet."

Ich spürte wie eine tiefe Röte mein Gesicht überzog und sah schnell weg: „Nein."
„Oh doch! Oh mein Gott! Jayden steht auf dich!"

„Nein!", rief ich abermals: „das tut er nicht. Er kann es nur nicht leiden, wenn jemand in etwas besser ist als er und sei es nur in puncto Schönheit!"

„Jaja...", jetzt überzog ein selbstgefälliges und wissendes Grinsen Mias Gesicht, das mich beinahe zur Weißglut brachte.

„Ich meine, wir sprechen hier von Jayden! Jayden, der auf alle Menschen herabsieht, als wären sie ihm nicht ebenbürtig. Der Jayden, der immer gemein ist" aber auch ziemlich nett sein kann. Wenn er möchte: „ich bezweifle, dass er zu so etwas wie Gefühlen überhaupt in der Lage ist!"

„Ist ja auch kein Wunder", entgegnete Mia „bei der Mutter. Jeder der unter so einer Irren aufwachsen müsste, wäre irgendwie anders!"

Ich schnaubte: „Nette Beschreibung!"

„Er steht auf dich. Da bin ich mir sicher. Mir kannst du glauben, ich bin Expertin in sowas..."
„Oh nein, glaub ihr NICHT! Wenn sie behauptet Expertin zu sein, dann gibt sie dir merkwürdige Tipps und im Nachhinein stehst du nur mit einer Unterhose bekleidet im Lehrerzimmer deiner Klassenlehrerin.", riet mir eine Stimme von der Tür her und als wir herumfuhren, sahen wir Ben das große Zimmer betreten.

Mia wurde ein kleines bisschen rot, grinste aber immer noch. „Das war in der dritten Klasse. Außerdem war das kein Tipp, es war Ironie und du hast es nicht verstanden!"

„Ja, weil ich in der dritten Klasse war! Da versteht man keine Ironie!"

„ICH habe damals schon Ironie verstanden..."
„Dafür aber kein Mathe!"
„Im Gegensatz zu dir war ich aber sozialkompetent!"

„Ähhhm", schritt ich ein, denn die Stimmen der Zwillinge begannen laut zu werden: „beruhigt euch!"

Mia warf ihrem Bruder einen letzten überheblichen Blick zu und schwang dann ihr Haar über die Schulter, während sie sich wieder mir zuwandte. „Gena,u wir haben wichtigeres zu besprechen. Zum Beispiel die Tatsache das Jayden auf dich steht!"

„Mia!", rief ich mit Blick auf Ben.

„Ach, das weiß er doch schon längst.", Mia winkte ab und Ben nickte tatsächlich bestätigend: „Natürlich habe ich das schon bemerkt. Du bist schließlich die Einzige, zu der der Idiot nett ist. Manchmal!"

„Grhhh", machte ich nur und zog mir die Decke über den Kopf „lasst mich einfach in Ruhe damit, wir haben andere Probleme."
„Ich wette, es freut jeden Jungen, wenn man die Tatsache, dass er auf einen steht als Problem bezeichnet.", sagte Mia trocken, während ich mich noch immer unter der Decke versteckte.

„Natürlich. Das ist das größte Kompliment, das man als Junge bekommen kann.", erwiderte Ben.

„Glaubst du, sie steht auch auf ihn?", fragte Mia beiläufig.

„Da bin ich mir sicher. So wie sie in manchmal anguckt..."
„Ich bin noch da!", ich tauchte wieder auf und funkelte die beiden wütend an „redet so über mich, wenn ich nicht im Raum bin."

„Ohh", sagte Mia und zog ein gespielt erschrockenes Gesicht: „Das machen wir doch die ganze Zeit, aber wir können ja nichts dafür, wenn du dich wie ein Kleinkind verkriechst. Schließlich konnten wir dich nicht mehr sehen. Aus den Augen, aus dem Sinn."

Ich schüttelte den Kopf „Was ist nur mit euch los? Ihr seid so auf Krawall gebürstet."

„So wie du vorhin.", Bens Gesichtsausdruck verriet nicht, was er dachte.

„Stopp, geh nicht darauf ein", Mia hielt eine Hand hoch „Sie will bloß vom Thema ablenken. Von Jayden..."
„Oder von Riaan. Also der ist viel netter. Aber er wohnt auch viel weiter weg."
„Grhhh", rief ich abermals und wollte aus dem Bett springen, doch ich kam gar nicht auf dem Boden an.

Entgeistert starrten mich Mia und Ben an.

„Oh mein Gott.", fasste Ben die Situation dann kompetent zusammen: „du...du schwebst!"

„Das sehe ich!", panisch wackelte ich mit meinen Füßen, die ein paar Zentimeter über dem Boden schwebten. Ich schwebte tatsächlich in der Luft.

Mia Gesichtsausdruck wankte zwischen fasziniert und Panik hin und her: „Kommst du noch höher?"

Ich richtete meinen Blick nach oben und stellte mir vor, das riesige Fenster das als Decke diente berühren zu können. Es funktionierte. Immer weiter schwebte mein Körper nach oben und schließlich berührte ich tatsächlich das Fenster.

„Eigentlich ist es ganz logisch!", rief mir Ben von unten zu, während ich langsam die Decke entlangschwebte. „Gegenstände bewegen! Menschliche Körper sind ja eigentlich nichts anderes als Objekte."

„Uh!", quietschte plötzlich auf: „könntest du auch uns schweben lassen?"

„Ich weiß es nicht." Ich visierte die Tür auf der anderen Seite des Raumes an und flog rüber. Es fühlte sich noch alles sehr wackelig an und so ganz geheuer war es mir nicht, einfach in der Luft rum zu schweben, aber ich konnte nicht leugnen das es sich auch irgendwie ziemlich cool anfühlte. Gerade, als ich die Tür erreicht hatte, über ihr war und zur Landung ansetzten wollte, hörte ich jemanden auf der anderen Seite sagen: „Hey Leute.", ich erschrak, als ich Riaans Stimme erkannte und an den Gesichtern der Zwillinge konnte ich erkennen, dass es ihnen genauso ging.

Anscheinend stand er mitten in der Tür, denn ich konnte einen blonden Schopf ausmachen. Aber er würde mich nicht sehen können. Es sei denn, er blickte direkt über sich zur Decke hinauf oder kam weiter in das Zimmer rein. Panisch flog ich weiter nach oben und presste mich zwischen Wand und Decke.

„Habt ihr was gefunden?", fragte Riaan.

Verwirrt sahen ihn Mia und Ben an.

„Beim Einkaufen...", erklärte Riaan. „Alles gut bei euch? Ihr scheint mir ein wenig verwirrt zu sein. Oder seid ihr immer so?"

Langsam schüttelten die beiden ihren Kopf.
„Und?", fragte Riaan lachend.

„Nein, wir sind nicht immer so." Mias Augen huschten panisch nach oben.

„Ich meine ob ihr etwas gefunden habt...?"

„Ach so ja. Wundervolles Kleid."

„Oookay.", jetzt wirkte auch Riaan ein wenig verwirrt. „Wo steckt denn Luna?"

Mia und Ben rissen die Augen auf. Meine Güte, die beiden waren echt ein wenig nervös.

„Nicht hier..."

„Und wo genau ist sie?"

„Ähhhm. Bei Jayden. Glaub ich."

Ich schlug mir gegen die Stirn.

„Achsoo. Na dann. Wenn ihr sie seht, ssagt ihr, dass ich sie suche."

„Okay.", die Zwillinge nickten und Riaan ging wieder raus in den Flur.

Nach ein paar Sekunden seufzte Mia: „Das war ja knapp."

„Du sagst es!", langsam begann ich, wieder zur Erde zurück zu gleiten.

„Das ist ja mal so unglaublich cool!", quietschte Mia entzückt.

„Aber auch ziemlich hoch." Ein wenig unbehaglich blickte ich zum riesigen Deckenfenster rauf, auf dessen Höhe ich mich eben noch befunden hatte.

Ben schlug die Hände aufeinander. „Das könnte euch Morgen echt helfen, weißt du? Sollte irgendetwas schiefgehen könnt ihr einfach wegfliegen, du und Jayden."

„Naja...", ich zögerte „Ich weiß ja gar nicht, ob ich überhaupt noch jemanden mit mir fliegen lassen kann."

„Dann testen wir auch das jetzt aus. Heute ist echt ein „Testtag"!"

Ben und Mia guckten mich so erwartungsvoll an, dass ich gar nicht anders konnte als zu nicken. „Vorher legen wir aber alles Weiche, das wir finden können, auf dem Boden auf, dann sind wir abgesichert, sollte etwas gewaltig schiefgehen."

„Gute Idee." Ben lief zum Bett und packte einen Stapel Kissen.

„Moment!", ich hob die Hand „Ich dachte ich sollte üben."
Ben sah mich fragend an und ich richtete meinen Blick auf den Kissenstapel in seinen Armen. Es waren vier große Kissen, die jetzt durch die Luft schwebten und sich auf dem Boden verteilten. Dann wandte ich mich noch den Kissen auf dem anderen Bett und auf dem Sofa zu.

„Genial. Das erinnert mich an den ersten Harry Potter Teil, wisst ihr: der in dem sie den Schwebezauber lernen." Mias Augen leuchteten begeistert auf.

Ich lachte und streckte meine Hand nach ihr aus. Keine Ahnung, wie ich es am besten anstellen sollte, aber wahrscheinlich versuchte ich erst einmal, sie mit mir in die Luft zu ziehen.

„Denkst du das funktioniert?"

„Wir werden es sehen." Konzentriert kniff ich die Augen zusammen, umklammerte Mia Handgelenke fest und begann nach oben zu steigen. Irgendwann war der Punkt erreicht, an dem mich nur noch Mia auf dem Boden hielt und ich sie zwangsläufig mitziehen musste. Es war schwer. Sehr schwer. Also nicht, weil Mia besonders schwer war, sondern weil ich mich doppelt so viel konzentrieren und anstrengen musste, um sie mit mir zu ziehen und sie vor allem nicht loszulassen.

„Oh mein Gott, oh mein Gott!" Sie strahlte übers ganze Gesicht, als wir uns immer weiter der Decke näherten.

„Abgefahren!", meinte Ben beeindruckt.

In diesem Moment drang ein lautes Geräusch von draußen rein, dass klang wie ein aufheulendes Motorrad. Ich erschrak mich fürchterlich und...

„Aua!", Mia rieb sich den Hinterkopf. Zum Glück waren wir relativ weich auf den Kissen gelandet.

„Es tut mir unfassbar leid!", ich stand auf, um zu ihr rüberzugehen und musste kurz das Gesicht verziehen, da mein Knöchel ein wenig weh tat.

„Quatsch.", zwar rieb Mia sich immer noch den Hinterkopf, lächelte aber zu mir rauf. „Da oben in der Luft zu schweben war einfach so unglaublich großartig." Jetzt strahlte sie übers ganze Gesicht und stützte sich ab den Fußballen ab, um aufzustehen.

„Können wir das nochmal machen?"

„Also wirklich", schaltete sich Ben ein kam aber nicht weiter, weil Jayden in den Raum gestürmt kam. „Was zum Teufel ist hier los?" Er blickte uns nacheinander an.

„Wieso?", fragte Mia, betont unschuldig.

„Es hat unten gekracht als hättet ihr einen Schrank umgeworfen!"
Mia und ich verzogen gleichermaßen empört das Gesicht. So schwer waren wir ja nun auch nicht.

„Du glaubst nicht...", begann sie zu erzählen, doch ich unterbrach sie. „Mia hat mir ein paar Karate-Tricks gezeigt, da bin ich auf den Boden gekracht."

„Du krachst aber ziemlich laut."

„Pah!", ich funkelte Jayden wütend an und ging dann an ihm vorbei aus der Tür und die Treppe runter.

Nervös wippte ich auf meinem Fußballen. Auch Ben neben mir atmete viel lauter als sonst und verschränkte seine Hände nervös ineinander. Die Einzige, die völlig gelassen wirkte, war Mia. Es war fast zwölf Uhr und wir hatten uns aus dem Haus geschlichen, um das Kleid aus dem Laden „abzuholen".

„Das alles gefällt mir immer noch nicht." Ben guckte sich hastig um, um sich zu versichern, dass wir ganz allein auf der Straße standen. Das taten wir in der Tat. Wir drei waren die einzigen Menschen weit und breit. Die Straßenlaternen leuchteten noch hell und aus manchen Wohnungen schien sogar noch ein wenig Licht, aber wir standen so weit im Schatten, dass es unmöglich war, uns zu sehen, wenn man keine Katzenaugen besaß.

„Macht euch mal nicht in die Hose.", ganz ruhig steckte Mia ihre Hände in ihre Taschen und sah mich an. „Das Kleid hängt an der Stange, an dem du es gefunden hast, der Lüftungsschacht sollte noch offen sein und wenn alles klappt kommt das Kleid hier durch.", sie nickte auf die Öffnung, vor der wir standen.
„Konzentrier dich!", wies Mia mich weiter an.

„Mhhm" Ich rieb mir über den Arm, auf dem ein riesiger blauer Fleck prangte. Wir hatten vorhin noch einige Male versucht, zusammen in die Luft zu steigen und ansatzweise hatte es auch jedes Mal besser geklappt, aber irgendwann waren wir jedes Mal abgestürzt. Doch Mia hatte sich davon nicht entmutigen lassen, sie verlangte nach jedem Absturz sofort wieder zu fliegen, so lange, bis wir auch die Landung hinbekamen. Als es dann nach Stunden das erste Mal richtig funktioniert hatte, hatte ich mich geweigert, weiter zu machen, um das gelernte zu vertiefen. Genug ist nun mal genug. Ich konnte die anderen außerdem davon überzeugen, Jayden erst einmal nichts davon zu sagen. Erstens hatte ich keine Lust mit ihm zu reden und zweitens fand ich den Gedanken noch ein Ass im Ärmel zu haben, von dem Jayden nichts wusste, ziemlich verlockend.

Aber jetzt hatte ich erst einmal etwas anderes zu tun. Ich rief mir das Bild von der Stange, an welcher das Kleid hing, genau ins Gedächtnis. Dann stellte ich mir vor, wie das Kleid auf mich zu kam.

„Krass!", teilte uns Ben mit, der sich mit ein wenig Abstand (falls Videokameras den Eingang bewachten) auf die Straße vor den Laden gestellt hatte und nun wie gebannt in diesen hineinstarrte „Es bewegt sich tatsächlich etwas."

„Pssst!", zischte Mia ihrem Bruder zu „sie muss sich konzentrieren."

Das stimmte tatsächlich. Es kostete mich meine ganze Konzentration das Kleid, wohlgemerkt ohne es zu sehen, zu dem Lüftungsschacht zu geleiten. Als es dort drin lag ließ ich es kurz los und fuhr mir über die Stirn.

„Funktioniert es nicht?", fragte Mia stirnrunzelnd.

„Doch, doch, aber ich brauch mal ne Minute Pause.", erklärte ich und lehnte mich gegen die Wand. Dann nahm ich wieder meine komplette Konzentration zusammen und zog das Kleid weiter durch den Lüftungsschacht hindurch und auf mich zu. Trotz allem registrierte ich erleichtert, dass keine Alarmanlage losgegangen war.

„Es müsste gleich da sein.", presste ich hervor. Mia ging aufgeregt in die Hocke und steckte ihre Hand in den Schacht, der für einen Menschen viel zu klein war.

„Ich fühle etwas Weiches", informierte sie uns „hoffentlich ist es das Kleid und keine Ratte." Sie zog ihre Hand wieder aus dem Schacht „Volltreffer! Ein wenig verstaubt aber unverkennbar."

„Perfekt.", erleichtert atmete ich auf, da spürte ich, wie mir schwindelig wurde. „Leute...", begann ich, doch dann wurde alles um mich herum schwarz.

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