Diesmal wusste ich, dass ich nicht meinen Traum träumte, als eine große Frau mit blonden Locken vor mir aufragte. Ich wusste es und doch, ich konnte nicht aufwachen. Ich träumte weiter aus der Sicht einer anderen Person: Wir standen in einem großen, schönen Raum, den ich schon einmal gesehen hatte und die Frau, welche vor mir stand, blickte mich ernst an: „Wir müssen etwas tun, Mia, so geht es nicht weiter!" Ihre Worte waren energisch, aber der Ausdruck in ihren Augen stellte eine undefinierbare Mischung aus Trauer und Hilflosigkeit dar.
„Ach ja?", ich schien ihr die Worte entgegen zu spucken. „Und was genau möchtest du tun? Möchtest du ihn wegsperren lassen?"
„Nein, natürlich nicht!" In den Augen der Frau standen jetzt auch noch Tränen.
Ich schnaubte und erwiderte alles andere als sanft: „Wenn ich mich aber recht erinnere, war genau dies vor ein paar Monaten noch dein Gedanke! Du hättest es ihm nicht so sagen dürfen! Du hättest es ihm ÜBERHAUPT NICHT sagen dürfen!"
„Was hatte ich denn für eine Wahl? Hätte ich ihn denn belügen sollen?"
„Nach alldem was passiert ist: JA! Ja, das hättest du tun müssen, denn du siehst doch, wo er jetzt ist!"
Im Hintergrund knallte etwas. Es hörte sich so an, als wäre eine Tür mit voller Wucht zugeschlagen worden.
Erschrocken zuckt die Frau zusammen und dreht sich um.
Keuchend erwachten Mia und ich gleichzeitig aus ihrem Traum. Um das Auto herum, ging gerade die Sonne auf und ein Wohnmobil fuhr langsam tuckernd an uns vorbei. Mia sah erschrocken aus und zuckte kurz mit dem Kopf in Richtung der Autotür. Ich öffnete leise die Beifahrertür und sie die Hintertür, dann krabbelten wir aus dem Auto. Wir standen am Rand eines Tannenwaldes und die Sonne kam hinter diesem hervor. In den Wald hinein führt ein kleiner schmaler Weg. Mia ging den Weg entlang und als ich stehen blieb und sie ein wenig verdutzt und verschlafen ansah, rief sie nur: „Na komm schon, ich muss mal!" Ich beeilte mich, um zu ihr aufzuschließen. Wir gingen eine Weile nebeneinander her, bis wir zu einem großen Baum kamen der ein paar Meter abseits des Weges stand. Mia hockte sich dahinter. Nachdem sie fertig war, machte sich auch meine Blase bemerkbar. Ich hockte mich also auch kurz hinter den Baum. Dann waren wir beide wieder in der Lage zu sprechen. Mia begann: „Du warst wieder in meinem Traum!?" Es war mehr eine Feststellung als eine Frage und ich wusste, ich würde es nicht leugnen können. „Es tut mir furchtbar leid Mia, ich kann das nicht kontrollieren und Träume sind so privat, sie gehen mich überhaupt nichts an und..."
„Stopp!", Mia unterbrach mich harsch. „Es ist schwierig, nicht wütend auf dich zu sein. Ich wäre es gerne, aber ich weiß ja genauso gut wie du, dass es nicht absichtlich war. Ich kenne dich noch nicht besonders gut, aber ich glaube nicht, dass du absichtlich in meine Träume eindringen würdest..."
Ich schüttelte heftig den Kopf, um ihr beizupflichten.
„Trotzdem Luna, es schläft sich nicht gut bei dem Gedanken, dass jemand während du schläfst in deinen Traum eindringt."
Ich biss mir auf die Unterlippe. Wie musste es sich anfühlen, wenn man einschlief und nicht wusste, ob jemand in deinem Traum herummarschiert? Vermutlich ziemlich schrecklich. Da ich Mia weder besonders lange, noch besonders gut kannte, wusste ich nicht, wie mitteilsam sie sonst anderen Menschen gegenüber war oder was sie alles für Geheimnisse hatte. Und ich wollte dies alles nicht dadurch erfahren, dass ich in ihren Träumen herumspukte. Aber konnte ich etwas dagegen tun? Ich musste Jayden fragen, denn er war der Einzige von uns, der sich mit so etwas auskannte. Aber was sollte ich jetzt zu Mia sagen? Sie sah verlegen aus und auch ein wenig wütend. Ich konnte ihr beides nicht verübeln.
Entschlossen griff ich nach ihrer Hand. „Weißt du...es tut mir leid..."
Sie unterbrach mich: „Hör auf das weiß ich doch..."
Aber ich sprach weiter: „Ich kann mir nicht vorstellen wie es ist, wenn jemand in meine Gedanken und Träume eindringen würde, keine Ahnung wie ich reagieren würde. Deshalb, zu deinem und Bens Schutz, ist es wohl besser..., wenn wir euch irgendwie nach Hause bringen." Schon während ich das sagte, spürte ich ein leichtes Grummeln in meinem Bauch. Ich wollte nicht das Mia und Ben uns verließen, wollte nicht, dass sie mich mit Jayden allein ließen. Ich kannte sie noch nicht wirklich, aber irgendwie mochte ich sie und glaubte wir könnten Freunde werden. In gewisser Weise brauchte ich sie wohl sogar, da sie allein in zwei Tagen zu zwei festen Stützen geworden waren, die mich auf eine komische Weise hielten. Genauso wie ich sie brauchte, wusste ich aber auch, dass diese Abhängigkeit von ihnen unglaublich egoistisch war.
Einen Augenblick lang befürchtete ich, Mia würde tatsächlich zustimmen und mit Ben irgendwie nach Hause zurückkehren. Dann aber stemmte sie beide Beine entschlossen auf den Boden. „Wir KÖNNEN doch überhaupt nicht hier wegkommen! Wie soll das gehen? Niemand von uns weiß, wohin dieser Globus uns bringt und wir haben nicht genug Geld für einen Flug nach Deutschland. Wir MÜSSEN also hierbleiben!" Jetzt blickte sie ein wenig sanfter drein „Und außerdem...ich glaube ich spreche genauso für Ben, wie für mich: du sollst das nicht allein durchstehen, was wären wir denn für schlechte Menschen, wenn wir dich einfach mit JAYDEN allein und in dein Unglück stürzen ließen?" Kurz lachte sie. „Wir bleiben bei dir und helfen dir, wo wir nur können, bei was auch immer wir tun. Tu mir aber bitte einen Gefallen: Frag Jayden, ob man etwas wegen der Träume machen kann und erzähl bitte nie irgendjemandem von dem, was ich träume..."
„Natürlich, das mach ich!", willigte ich ein. „Darf ich dich etwas fragen?"
„Was denn?" Mia schien die Luft anzuhalten.
„Was ist eigentlich mit eurem Vater? Lebt der auch bei euch?", ich dachte mir, um vertrauenserweckende Maßnahmen zu ergreifen, beginnen wir erst einmal klein.
Mia atmete sichtbar erleichtert aus und lächelt. „Nein. Unsere Eltern haben sich schon vor sieben oder acht Jahren scheiden lassen, jetzt wohnt er auf der anderen Seite von Hamburg und wir sehen ihn nur noch einmal in der Woche. Das macht aber eigentlich keinen Unterschied zu vorher. Früher haben wir ihn auch nicht öfter gesehen. Er hat immer gearbeitet."
„Was arbeitet er denn?"
„Er ist Arzt, genauer gesagt ist er jetzt Chefarzt und Leiter der Hirnforschung...egal. Jedenfalls war er Tag und Nacht im Krankenhaus, nie haben wir ihn gesehen. Meine Mutter musste sich neben ihrem Job noch immer um uns kümmern und irgendwann meinte sie, dass wenn ihr Mann eh nie zu Hause ist, sie sich genauso gut auch von ihm trennen könne. Und das hat sie dann letztendlich auch gemacht."
Mia plauderte so gelassen, als würde sie über das Wetter sprechen. Allerdings blitzte kurz doch etwas in ihren Augen auf, dass andeutete, dass sie das alles nicht ganz so gut wegsteckte, wie sie behauptete.
„Wäre es dir lieber, er wäre noch da?", fragte ich sie und hoffte, dass die Frage nicht zu privat war. Aber anscheinend machte es Mia nichts aus, zu antworten, vielleicht war sie sogar froh die Gelegenheit dazu zu haben.
„Weiß nicht. Eigentlich war er ja eh nie wirklich da. Und meine Mutter macht das alles wirklich großartig. Inzwischen sind Ben und ich ja auch keine Kinder mehr."
Sie lächelte wieder, aber diesmal ein wenig traurig. „Was ist mit dir?", fragte sie mich dann: „Erinnerst du dich noch an deine Mutter?"
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ehrlich gesagt nicht."
„Würdest du dich denn gerne an sie erinnern?"
Gute Frage. Möchte ich mich an sie erinnern? „Eigentlich ist es gut, so wie es ist. Ich glaube, alles wäre schwieriger, würde ich mich noch an sie erinnern.
„Vermutlich schon" Mia lächelte mich an, sagte aber nichts mehr. Irgendwie war es auch besser so. Ein Sonnenstrahl stahl sich in mein Gesicht. Überrascht sah ich mich um. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass die Sonne schon aufgegangen war. Auch Mia schien erstaunt darüber, wie hell es um uns herum geworden war. „Wollen wir zurück?", fragte sie und wir drehten uns um, um wieder zum Auto zurückzukehren. Zurück beim Auto beugte ich mich runter, um einen Blick auf Jayden und Ben zu erhaschen, die anscheinend beide noch schliefen.
Ich hörte etwas knurren und drehte mich zu Mia um, welche ihr Gesicht, ein wenig peinlich berührt, verzogen hatte.
„Hast du Hunger?" Als sie nickte, gingen wir zum Kofferraum des kleinen, schäbigen Autos und suchten in den Rucksäcken nach den Broten.
„Es sind noch genau vier Stück", erklärte ich Mia, als ich die Brote zuerst fand.
Mia zuckte nur mit den Schultern. „Dann müssen wir uns wohl für die nächsten Tage etwas anderes ausdenken, aber jetzt habe ich Hunger!" Sie nahm mir eines der Brote aus der Hand und lehnte sich an das Auto. Ich lehnte mich neben sie und packte ebenfalls ein Brot aus.
Ein paar Minuten standen wir einfach schweigend nebeneinander und aßen. Dann drehte Mia sich ein wenig in meine Richtung um: „Weißt du, was wir jetzt vorhaben?"
Sie sprach den Gedanken aus, der mir schon seit ich aufgewacht war, im Kopf rumspukte.
„Keine Ahnung", gab ich zu. „Aber Jayden wird schon irgendeinen Plan haben."
„DAS beruhigt mich auf jeden Fall nicht. Wie wollen wir in diesen Tresorraum eindringen? Wieso ist seiner Mutter diese Seite so wichtig?"
Ich zögerte: „Keine Ahnung. Wir müssen Jayden fragen. Sag mal... hast du eine Zahnbürste dabei?"
Mia schob ihre Unterlippe ein wenig vor. „Ich würde mir auch gerne die Zähne putzen aber leider nicht. Nur Kaugummi." Sie reichte mir eins.
„Danke. Besser als nichts."
„Was ist besser als nichts?"
Ben hatte das hintere Fenster des Autos aufgekurbelt und streckte seinen Kopf raus. Seine Haare waren wieder vollständig verwuschelt und ich musste das Verlangen unterdrücken, sie ihm aus dem Gesicht zu streichen.
„Besser ein altes Brot als gar kein Essen", antwortete Mia und reichte ihrem Bruder ein Brot.
Ben machte einmal den Mund auf und verdrückte die Hälfte seines Brotes. Mit vollem Mund fragte er: „Gibt es hier irgendwo eine Toilette?"
Mia und ich zeigten auf den angrenzenden Wald. Ben guckte resigniert, schlang den Rest seines Brotes runter und stieg dann aus dem Auto aus, um in Richtung der Bäume zu gehen. Mia guckte auf das zerbeulte Auto, mit dem wir unterwegs waren, sagte: „Vor der nächsten Huckelfahrt geh ich auch lieber nochmal pinkeln." und eilte ihrem Bruder hinterher. Vorher drückte sie mir noch das letzte der vier Brote in die Hand. Kurz überlegte ich, hinter den beiden herzulaufen, entschied mich dann aber doch dagegen, weil ich Angst hatte, Jayden konnte einfach wegfahren und uns hier zurücklassen. Das würde ich ihm zutrauen. Er machte so etwas sicher regelmäßig. Einfach nur aus Spaß.
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