Noch mehr Geheimnisse und Lügen
14. Kapitel: Noch mehr Geheimnisse und Lügen
Ben
Jayden war blass wie die weiße Wand hinter ihm in der Cafeteria, in der wir saßen. Mia war vor einer Stunde abgehauen, keine Ahnung, was sie zu tun gedachte, und hatte mich mit Jayden alleine gelassen. Dieser wiederum hatte noch nicht viel gesagt, seit wir beschlossen hatten, uns zum Warten in die gut besuchte Cafeteria des Krankenhausen zu begeben. Er rührte nun schon seit zehn Minuten gedankenverloren in seinem schwarzen Kaffee rum und ich wagte es nicht, ihn aus seinen Gedanken zu reißen. Stattdessen hatte ich mir, zusammen mit meinem Cappucino, eine Zeitung gekauft und überflog die neusten Nachrichten. Immer wenn ich einen weißen Kittel aus dem Augenwinkel wahrnahm, schreckte ich auf und hoffte darauf, dass es mein Vater wäre, der uns berichten würde, wie Lunas OP gelaufen ist. Kurz hatte ich überlegt, ob ich meine Mutter informieren und fragen sollte, ob sie irgendwie die Nummer von Lunas Vater herausfinden könnte, denn es erschien mir doch äußerst ungerecht, dass seine Tochter mit einer schweren Verletzung im Krankenhaus lag und vielleicht sterben würde, während er nicht die Chance hat, sich von ihr zu verabschieden. Diesen Gedanken verwarf ich allerdings ziemlich schnell. Ich glaubte erst einmal nicht, dass es machbar wäre, in der kurzen Zeit von England nach Hamburg zu gelangen...und zweitens hatte ich Angst, die Möglichkeit das Luna sterben würde, dadurch realer zu machen, indem ich jemandem davon erzählte. Und es sollte nicht noch jemand die Todesängste ausstehen, die ich und die anderen gerade erlebten. Mit zittrigen Fingern blätterte ich meine Zeitung um und kam zu einem Artikel über das sportliche Scheitern des Hamburger Sportvereins. Ich seufzte wütend und genervt auf und klappte die Zeitung zu. Jayden rührte immer noch in seinem Kaffee.
Ich atmete tief ein und traute mich dann zu fragen: „Geht's dir gut?"
Jayden schüttelte sich kurz und sah dann zu mir auf. Ich rechnete schon fast mit einer schroffen, beleidigenden Antwort und war vollkommen überrascht, als etwas ganz anderes über seine, leicht zitternden Lippen kam: „Nein... eigentlich geht es mir nicht so gut..."
Ja, so sah er auch aus, so blass wie er war. „Ähmm...", ich war von seiner Ehrlichkeit nicht nur überrascht, sondern war auch ein wenig überfordert, damit, mir eine passende Antwort auszudenken. „Kann ich dir helfen?", fragte ich Jayden schließlich.
„Wenn du die Zeit nicht zurückdrehen kannst, dann nicht.", er guckte zu Boden und als ich einen kurzen Blick in seine Augen erhaschte sah ich darin... Angst und ein kleines bisschen Scham. Konnte man es ihm verübeln? Seine Mutter hatte schließlich auf ein sechszehnjähriges Mädchen geschossen, das gerade in Lebensgefahr schwebte.
Leise sagte ich: „Niemand kann etwas für seine Eltern Jayden."
„Das nicht.", erwiderte dieser genauso leise: „Aber ich hätte damit rechnen müssen, dass sie noch verrückter geworden ist...und sich eine Waffe angeschafft hat."
„Du wusstest also nichts von der Waffe?"
„Natürlich nicht.", entrüstete sich Jayden: „Glaubst du ich hätte euch in solche Gefahr gebracht?"
Ich erklärte ihm: „Das weiß ich nicht. Niemand von uns kann dich einschätzen Jayden. Wir wissen nicht was du für ein Mensch bist. Wir kennen dich nicht."
„Luna kanntet ihr doch auch bis vor kurzem nicht und vertraut ihr."
„Sie war ja auch freundlicher zu uns. Und immer ehrlich."
Jayden schwieg einen Moment. „Unehrlich war ich nie."
„Aber auch nicht freundlich. Wir wissen nicht was du für Ziele verfolgst."
„Das habe ich euch doch erklärt. Ich will das Buch, genauso wie ihr."
„Genau das ist das Problem. Du möchtest das Buch, wir möchten das Buch. Bis wir alle Seiten zusammen haben, arbeiten wir zusammen. Aber wenn wir sie haben...was wirst du dann tun?" Da fiel mir etwas ein: „Habt ihr eigentlich die Buchseite gefunden? Wo ist sie? Hast du schon sie schon angesehen?"
„Ob du's glaubst oder nicht", knurrte Jayden: „Bisher hatte ich anderes im Kopf, als diese beschissene Seite. Außerdem hat Luna sie..."
„Ben?", mein Vater stand vor unserem Tisch und blickte auf uns hinab. Erschrocken blickte ich auf. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er dort stand. Sofort sprangen Jayden und ich auf: „Und?", fragten wir wie aus einem Munde.
„Es geht ihr den Umständen entsprechend. Die Kugel hat zum Glück kein Organ getroffen, allerdings hat sie eine Menge Blut verloren und wird jetzt erst mal noch ein bisschen schlafen. Aber in ein paar Stunden sollte sie aufwachen und dann dürft ihr zu ihr? Wo ist Mia?"
Ich zuckte mit den Schultern da ich wirklich keine Ahnung hatte.
„Hör zu, Junge...", begann mein Vater: „Ich muss wissen, wie sie angeschossen werden konnte. Wo seid ihr da reingeraten?"
„Das können wir dir nicht sagen...", begann ich vorsichtig.
„Dann muss ich eure Mutter informieren." Nicht das schon wieder.
„Papa", begann ich: „Wir werden in zwei Monaten 18! Wenn du Mama unbedingt informieren musst, dann bitte, wenn wir wieder weg sind."
„Wo wollt ihr denn hin?", mein Vater klang ein kleines bisschen verzweifelt.
Jayden schaltete sich ein: „Hören Sie, wir können gerade wirklich nichts sagen und ehrlich gesagt, bezweifle ich auch sehr, dass Sie uns glauben würden..."
Entnervt stöhnte mein Vater. „Dann rufe ich jetzt deine Mutter an, Ben, denn dieses Affentheater geht mir echt auf die Nerven."
„Sag mal, hast du schon unseren Deal vergessen?", fragte ich ihn. „Du erzählst Mama nichts und wir tun es auch nicht. Denn ich glaube nicht, dass sie sehr erfreut wäre, wenn sie herausfindet, was du wirklich getrieben hast, während du Nachtschichten hattest. Und wie leicht es vor zwei Jahren war..."
„Okay Stopp!", rief Papa. „Ich finde es wirklich unmöglich, dass du mir drohst Ben, das hätte ich von deiner Schwester erwartet, aber ganz sicher nicht von dir!"
Ich wusste ganz genau, was er vorhatte. Ich sah es an dem verzweifelten Blick in seinen Augen. Einerseits wollte meine Mutter anrufen, um sich von der Last zu befreien, es ihr nicht erzählt zu haben, andererseits hatte er panische Angst, dass unsere Mutter einige Sachen erfuhr, die sie lieber nicht erfahren sollte. Mein Vater neigte seinen Kopf ein wenig nach links, dann ein wenig nach rechts, bevor er schließlich einwilligte: „Na schön. Aber glaub mir Ben, das wird ein Nachspiel haben."
„Solange du dich einfach nur um Luna kümmerst und uns in Ruhe lässt, ist mir das ziemlich egal."
Er kniff die Lippen zusammen und informierte uns noch, dass er Bescheid sagen würde, wenn wir zu Luna dürften, dann war er weg.
„Ich glaub dein Vater ist ein wenig beleidigt.", zog mich Jayden amüsiert auf. Sein Gesicht war, seit wir gerade erfahren hatten, daws Luna wieder gesund werden würde, deutlich weniger verkniffen.
„Damit muss er leben.", antwortete ich und stand auf, um mir noch etwas zu trinken zu holen.
Mia
Ich kannte dieses Haus beinahe wie mein eigenes. Es lag ein wenig abseits der Stadt und so wie es dastand, zwischen all den anderen Häusern, ein typisches Reihenhaus. 20 Minuten waren es mit der U-Bahn vom Krankenhaus bis zu dem Gehsteig, auf dem ich momentan stand, um das, von einem kleinen Vorgarten gesäumte, Haus zu betrachten. Ich wusste ganz genau, dass ich auf die dritte Stufe der Treppe dort drin, nicht so stark auftreten durfte, da sie unheimlich knatscht. Ich wusste, dass in der Küche immer der süßliche Geruch von frisch gebackenem Gebäck hing, genauso wie ich mir dessen bewusst war, dass dieses Haus zu meinen absoluten Lieblingsorten gehörte. Und ich wusste, dass dort einer meiner absoluten Lieblingsmenschen wohnte. Und ich wusste genau, dass ich diesen Menschen jetzt gleich entweder anlügen oder mal wieder verscheuchen würde, wenn ich an der Tür klingelte. Und doch tat ich jetzt genau dies, also ich klingelte.
Ein Junge, besser gesagt ein Mann, denn mit fast 20 war man wohl kein Junge mehr, öffnete mir die Tür. Wie immer hatte er über seine halblangen, blonden Haare eine rote Mütze gezogen, unter der jedoch einige seiner Strähnen rausragten. Dies war ein krasser Kontrast zu seinem eleganten, weißen Hemd und der schlichten Jeans. Als er mich sah, verzogen seine vollen Lippen sich zu einem breiten Lächeln. Die Sonne schien auf die Eingangstür weswegen seine blonden Haare mit seinen hellen Augen um die Wette strahlten, als er mich einmal fest umarmte und mir einen Kuss auf den Mund drückte.
„Mia!", rief er aus und wie immer steckte er so voller Leben und Freude, dass ich mit ihm mitstrahlen musste.
„Lässt du mich rein, Mirko?", fragte ich meinen Freund.
Galant hielt dieser mir die Tür auf und folgte mir dann ins Haus.
„Möchtest du etwas trinken?", fragte Mirko mich und zog mich hinter sich her in die Küche.
„Ein Wasser wäre nett."
„Kommt sofort."
Ich ließ mich auf einem der weißen Barhocker in der großen, hübsch eingerichteten Küche fallen und beobachtete Mirko dabei, wie er erst ein Glas aus einem der Holzschränke holte und dann Wasser eingoss. Er reichte mir das Glas lächelnd, betrachtete mich aber dann sorgenvoll: „Ist alles okay mit dir? Du wirkst so blass." Meine Kehle war so trocken, dass ich das Wasser in einem Schluck leerte, bevor ich antwortete: „Alles gut, ich habe einfach nicht sonderlich gut geschlafen heute."
Alles in mir sträubte sich dagegen, ihn anzulügen. Ich wusste, sollte ich ihm die Wahrheit sagen, würde er mir glauben, mir vielleicht sogar helfen. Aber er hatte mir in den letzten Jahren schon viel zu viel geholfen und es war besser, wenn ich ihn aus der Sache raushielt. Denn ich konnte ihn nicht auch noch mit in diese Sache reinziehen. Deshalb musste ich lügen. Später würde ich ihm vielleicht alles erzählen können, aber jetzt mussten wir erst einmal hoffen, dass Luna überlebte. Und wenn sie überleben sollte, dann würden wir etwas brauchen, das sich hier befand.
„Wieso bist du denn vorbeigekommen?", fragte Mirko und zwinkerte mir dann zu: „Wolltest du mich einfach mal wiedersehen, nachdem du mich in den letzten Wochen so oft versetzt hast?"
Er lachte und doch merkte ich, dass er ein kleines bisschen böse auf mich war. Tatsächlich hatte ich in den letzten Wochen jede unserer Verabredungen kurzfristig abgesagt. Das lag nicht daran, dass ich ihn nicht sehen wollte, nein auf gar keinen Fall, ich war nur manchmal ein kleines bisschen zu verpeilt, um meine Termine zu regeln.
„Tut mir leid.", schuldbewusst verzog ich das Gesicht und sah Mirko an: „Ich hab es einfach nicht geschafft, weil meine Mutter mich zum Lernen verdonnert hat und ich hab das leider immer wieder vergessen und dann hat sie mich wieder dran erinnert und dann hab ich mich an unsere Verabredung erinnert und dann..."
„Stopp!", Mirko legte mir seine Hände auf die Schultern: „Hol mal Luft Mia. Ich bin nicht sauer auf dich."
„Aber du warst es..."
„Nur ein kleines bisschen. Also, was möchtest du?"
Ich biss mir auf die Unterlippe: „Also ehrlich gesagt möchte ich gerne mein T-Shirt abholen..."
Jetzt schaute mein Freund ein kleines bisschen verwirrt drein: „Oookay. Welches denn? Du hast hier ja beinahe schon eine ganze Sammlung deiner Klamotten."
Kurz dachte ich nach bevor ich antwortete: „Das rosa Shirt. Mit dem Elefanten, weißt du?"
„Klar.", grinste Mirko: „Das ist mein Lieblingshirt, deshalb würde ich es ja auch so gerne behalten."
Empört schnappte ich nach Luft: „Trägst du es etwa? In der Öffentlichkeit?" Bei dem Gedanken musste ich meine Kiefer fest aufeinanderpressen, um nicht laut loszulachen.
„Natürlich nicht. Also, nicht in der Öffentlichkeit."
Ich riss meine Augen auf: „Aber ICH will es heute Abend in der Öffentlichkeit tragen!"
„Ohh?", jetzt hatte sein Interesse geweckt: „Wo gehst du denn hin?"
„Ich gehe...", ich musste kurz überlegen: „Mit einer Freundin in ein Café." Schnell bemühte ich mich glücklich zu strahlen.
Mirko wirkte ein wenig misstrauisch: „Mit einer Freundin? Das ist ja etwas ganz neues!"
„Ja, ich weiß.", plapperte ich: „Aber...sie ist neu bei uns auf der Schule und weiß noch nichts über..."
Er legte mir den Arm um die Schultern und fragte: „Wie heißt sie denn?"
„Luna!", es war der erste Name, der mir in den Sinn kam.
„Luna... Solange du mich nicht betrügst, kannst du machen was du willst.", Mirko lachte und drückte mir dann einen Kuss in die Haare.
Oh nein, dachte ich, ich betrüge dich nicht. Nicht so, wie denkst, auf jeden Fall. In meinem Kopf schrie eine Stimme: LÜGNERIN. Ich ignorierte sie.
„Daran würde ich niemals denken.", murmelte ich und lehnte mich an ihn. Wir schwiegen einen Moment.
„Was trägst du da denn eigentlich?", unterbrach Mirko die Stille und musterte mich von oben bis unten.
Ups! Ich trug immer noch den hässlichen Pulli von Lunas Großmutter.
„Einen alten Pulli, von meinem Vater, glaube ich. Ich sollte den Keller aufräumen und habe mir dieses Ding dann überzogen, weil es kann ja schmutzig werden."
„Aha. Du weißt das er...naja eher mäßig aussieht?"
„Pahh weißt du was mäßig aussieht? Du in meinem pinken T-Shirt!"
„Das weißt du doch gar nicht. Du hast mich niemals darin gesehen. Vielleicht sehe ich ja auch total sexy aus?"
Ich lachte und stieß mich vom Barhocker hoch: „Könntest du mir mein T-Shirt wohl holen? Wenn ich mich beeile, kann ich es Zuhause nochmal schnell in die Wäsche schmeißen. So oft, wie du es wohl angezogen hast..."
Mirko knuffte mich in die Seite und stand dann auf: „Gib mir fünf Minuten, ich muss erst einmal mein Zimmer durchforsten."
Perfekt! Fünf Minuten, in denen ich schnell in das Arbeitszimmer von Mirkos Mutter huschen konnte.
„Fünf Minuten halte ich durch.", sagte ich also und wartete bis ich Schritte auf der Treppe hörte, bis ich schnell ins Wohnzimmer mit den hellblauen Sofas huschte, und schnell durch eine Tür in das kleine, aber ordentliche Arbeitszimmer lief. Ich wusste genau, wo ich suchen musste, denn Mirko hatte mir einmal erzählt, dass seine Mutter alle ihre alten Dienstwaffen in der Schreibtischschublade aufbewahrte. Ja okay, vielleicht ist es dumm, was ich hier mache. Es ist sogar ziemlich dumm, aber nun einmal auch ziemlich nötig. Es ist nötig, dass wir uns verteidigen können. Ich öffnete die oberste der drei Schubladen des, aus schwerem Eichenholz gefertigten, Schreibtisches und musste ein enttäuschtes Seufzen unterdrücken, als dort keine Waffe war. Deshalb öffnete ich sofort die zweite Schublade, welche auch nicht abgeschlossen war. Aber das war klar. Ich kenne Mirko schon, seit Ben und ich in die erste Klasse kamen. Er war zwei Klassen über uns und hat mich einmal auf den Boden geschubst, weil ich ihn einen Blödkopf genannt hatte. Er war vorher aber auch ein Blödkopf gewesen, denn er hatte mich angerempelt und das Eis, welches ich von meiner Klassenlehrerin bekommen hatte, weil ich jede Woche den Fegedienst übernahm, war runtergefallen. Ich kann mich noch ganz genau daran erinnern, wie sehr ich mich darauf gefreut habe, dieses Eis zu essen. Nicht einmal, weil es meine Lieblingseissorte war (es war ein Mini-Milk Eis und wurde für die Geburtstagsschüler im Lehrerzimmer 1aufbewahrt), sondern weil ich so stolz darauf war, dass ich mir dieses Eis verdient hatte. Jedenfalls stand ich, super stolz, auf dem Schulhof und aß mein Eis, als Mirko der hinter einem seiner Freunde herjagte, direkt auf mich zugeschossen kam und mich umgerannt hat. Daraufhin war ich so sauer, dass ich mich aufgerichtet habe und ihm gesagt hatte, er sei der „blödeste Blödkopf, der mir je begegnet ist". Er hat einfach nur gelacht und mich aus dem Weg geschubst, wobei ich noch einmal hingefallen bin und angefangen habe zu weinen. Eine Lehrerin hatte den Vorfall genau beobachtet und anscheinend mit Mirko ein Hühnchen gerupft, denn am nächsten Tag kam er noch vor der Schule zu mir und hat mir ein Eis gebracht. Da haben wir uns angefreundet. In den Jahren danach haben Ben und ich Mirko ständig besucht und dabei auch seine Eltern gut kennengelernt. Sein Vater, ein liebenswürdiger Mann mit den gleichen, strahlenden Augen wie sein Sohn, arbeitete halbtags in einem Kindergarten in diesem Viertel von Hamburg. Er war es auch, der kochte, wenn Ben und ich bei Mirko zum Mittagessen vorbeikamen. Immer wenn seine Mutter kochte, mussten wir uns eine Ausrede überlegen, warum wir schon satt waren, denn ihr Essen war...eher nicht so gut (und das ist ziemlich nett ausgedrückt). Außerdem passierten ihr immer sehr komische Dinge in der Küche, wie, dass sie den Zucker mit dem Salz verwechselte oder sich in den Finger schnitt und wir Blut im Essen hatten. Bei den ganzen Küchenunfällen von Mirkos Mutter, konnte man gar nicht glauben, was für eine gute Polizistin sie in Wirklichkeit war. Als ich sie das erste Mal gesehen habe, hatte sie noch eine Uniform an und war gerade erst ganz am Anfang ihrer Karriere, und nun war sie schon seit ein paar Jahren bei der Kriminalpolizei und arbeitete sozusagen „undercover". Ich mochte Mirkos Eltern sehr, sie waren in all den Jahren immer herzlich und freundlich gewesen. Als Mirko und ich dann vor drei Jahren zusammengekommen sind, sind sie komplett ausgerastet. Also im positiven Sinne. Damals war ich gerade beim Karatetraining gewesen und eigentlich sollte mein Vater mich abholen. Er kam aber nicht und so stand ich im Dunkeln in einem der etwas unsicheren Vierteln der Stadt. Als mein Vater dann nach einer halben Stunde immer noch nicht aufgetaucht ist, mich schon mehrere betrunkene Leute angesprochen hatten und es auch noch zu regnen begann, rief ich Mirko an. Eigentlich hatten wir zu diesem Zeitpunkt gar nicht mal so viel miteinander zu tun gehabt, da er eine Freundin hatte (seine erste feste Freundin), die ihn durchgängig in Beschlag nahm. Allerdings war Mirko zu diesem Zeitpunkt der einzige meiner Freunde, der ein Fahrzeug hatte, welches er auch schon allein fahren durfte, nämlich ein Motorrad. Und so rief ich ihn an und bat ihn, mich abzuholen. Zuerst dachte ich, er würde ablehnen, aber er sagte sofort zu und war kurze Zeit später da. Als wir daraufhin durch die Straßen fuhren genoss ich meine erste Motorradtour so sehr, dass ich Mirko fragte, ob wir noch einen kleinen Umweg fahren konnten. Er stimmte zu und fuhr daraufhin aus der Stadt raus, so weit, bis wir keine Häuser, sondern nur noch Bäume und Wiesen sahen. Irgendwann machte das Motorrad dann merkwürdige Geräusche und wir hielten auf einem kleinen Parkplatz zwischen der huckeligen Straße und einer Wiese. Als Mirko sich das Motorrad genauer angesehen hatte, stellte er fest, dass das Benzin alle war. Anstatt auszurasten und Panik zu bekommen, weil wir irgendwo im Nichts gestrandet waren, zuckte er nur mit der Schulter und lächelte mich dann an.
„Das kommt davon, wenn ich dich aus brenzligen Situationen befreien muss. Wir kommen immer in noch brenzligere.", sagte er, doch ich konnte mich gar nicht richtig konzentrieren. Ich stellte fest, dass ich genau diese Eigenschaft von ihm so gerne mochte, dass er, egal wie schlimm die Lage war, immer lächelte und Witze riss. In dem Moment sah ich nichts mehr außer ihm, obwohl ich auch ihn aufgrund der Dunkelheit nicht richtig sehen konnte, und sagte ihm genau das, was ich gedacht hatte. Aber statt zu lachen, blickte Mirko auf einmal ganz ernst drein und sagte, er freue sich auch, dass er mit mir Witze machen könne und dass er überhaupt mit keinem Menschen lieber gestrandet wäre als mit mir. Ich war daraufhin ziemlich dankbar dafür, dass es dunkel war und er mein feuerrotes Gesicht, welches sich sicherlich furchtbar mit meinen Haaren biss, nicht sehen konnte. Stattdessen hat er mich einfach geküsst. Als wir fertig waren mit unserem Kuss, rief Mirko seinen Vater an, ohne meine Hand loszulassen, und als dieser kurze Zeit später mit neuem Benzin vorbeikam, fand er zwei bis über beide Ohren grinsende Jugendliche mit roten Wangen und zerzausten Haaren vor. Mirko machte noch an diesem Abend mit seiner Freundin Schluss (ich hatte schon ein etwas schlechtes Gewissen, weil ich ihr den Freund wegnahm, war in dem Moment aber zu glücklich, um Rücksicht auf die Gefühle anderer zu nehmen) und wir wurden offiziell ein Paar.
Gut genug von früher. Ich wusste auf jeden Fall, dass Mirkos Mutter sich immer, wenn sie befördert wurde, eine neue Waffe anschaffte, sozusagen als Belohnung für ihre eigene Arbeit, und die alten Waffen immer in ihre Schreibtischschublade legte. Leider war sie eine so vertrauensselige und gutgläubige Person, dass sie diese nicht einmal abgeschlossen hatte. Und so fand ich zwei ausrangierte Waffen in der dritten Schublade von oben und packte eine der beiden schnell in meinen Hosenbund. Ich prüfte vorher noch, dass die Waffe ganz sicher nicht geladen war. Einige Male durfte ich Mirkos Mutter schon zum Schießtraining begleiten und ich musste schon sagen, dass ich gar nicht schlecht war.
Lass es trotzdem sein, Dummchen! ermahnte mich die Stimme in meinem Kopf, die ich aber schnell zum Schweigen brachte. Es ist notwendig, sagte ich mir immer wieder, vielleicht auch um mich selbst zu vergewissern, dass Richtige zu tun.
Ich hörte Schritte auf der Treppe und hechtete schnell zurück in die Küche. Im nächsten Moment kam Mirko, mein rosa Shirt in der Hand haltend, rein geschlendert.
„Bitteschön!", sagte er und machte ein gespielt wehmütiges Gesicht.
„Danke." Ich ging auf ihn zu und stellte mich auf die Zehenspitzen, um ihn zum Abschied zu küssen. Dabei achtete ich aber sorgfältig darauf, dass ich genug Abstand einhielt, damit er nicht die Waffe unter meinem Hosenbund spüren konnte.
„Ich muss los. Du musst mich in den nächsten Tagen nicht anrufen, ich habe mein Handy verloren und bin ab Morgen ein paar Tage bei meinem Opa, um ihm im Garten zu helfen."
„Hast du keine Schule?"
„Ferien.", nuschelte ich. Mirko hatte im Sommer sein Abitur gemacht und jobbte jetzt hier und da ein wenig, um seinen Eltern nicht auf den Taschen zu liegen, bevor er in den nächsten Monaten zu studieren anfing. Deshalb wusste er zum Glück auch nicht so genau, wann ich Ferien hatte.
„Ach so." Mirko guckte ein wenig misstrauisch, aber sagte nichts: „Ich werde dich vermissen."
„Ich dich auch."
„Ich habe nicht mit dir gesprochen, sondern mit dem T-Shirt."
„Spinner." Ich drehte mich um und ging zur Haustür raus und war schon wieder auf der Straße angelangt als er mir nachrief: „Aber dich werde ich auch ein bisschen vermissen!"
Ich grinste und warf meinem Freund eine Kusshand zu, bevor ich mich auf den Rückweg zum Krankenhaus machte.
Luna
Das Licht strahlte mir in die Augen und war viel zu hell. Auch als ich die Augen wieder schloss, hatte ich das Gefühl, noch immer leuchtende Punkte vor diesen zu sehen. Ich startete noch einen Versuch und diesmal funktionierte es besser. Ich konnte meine Augen so lange aufhalten, dass ich die weiße Bettwäsche sah, in der ich lag. Als sich meine Lider wieder runterklappten, nahm ich den beißenden Geruch von Desinfektionsmittel war, der nur im Krankenhaus existierte. Wo war ich hier? Dann schossen die Erinnerungen mit einem Schwall zurück in meinen Kopf und ich zuckte zusammen, als ich plötzlich den Schmerz an meiner Hüftewahr nahm. Langsam hob ich die Bettdecke an und blickte auf meinen Unterkörper Ein riesiges, festes Pflaster prangte dort.
„Sei froh, dass du jetzt erst guckst.", nahm ich eine Stimme neben mir wahr und drehte ruckartig den Kopf. Sofort tat dieser weh, wie sonst was und ich hielt mir eine Hand an die Schläfe. Jaydens grüne Augen funkelten mich an, als ich fragte: „Wieso?"
„Vorhin.", antwortete Jayden und kreuzte seine Beine übereinander. „War dort noch deutlich mehr Blut."
„Ich hoffe, du bist nicht ohnmächtig geworden."
„Er war kurz davor.", erklang eine wärmere Stimme vom Fußende meines Bettes. „Er ist schon ganz bleich geworden und ich hatte echt Panik, dass ich ihn Mund zu Mund beatmen muss."
Ben lachte und ich wollte es ihm gleichtun, aber als ich den Mund verzog, schmerzte mein ganzer Körper. Sofort hörte Ben auf zu lachen und fragte: „Alles gut? Hast du Schmerzen?"
„Natürlich hat sie Schmerzen.", knurrte Jayden. „Sie wurde angeschossen, Blondchen."
„Das weiß ich auch.", zischte Ben zurück. „Aber ich frage wenigstens nach und mache nicht nur blöde Sprüche über ihre Verletzung."
„Stopp!", rief ich und versuchte mühsam mich aufzusetzen. Sofort stand Ben neben mir und half mir dabei, indem er meinen Oberkörper stützte und dann ein Kissen unter diesen schob.
„Danke.", murmelte ich und fragte dann: „Wo sind wir hier?"
„In Hamburg.", antwortete Ben sofort.
„Und wie sind wie hierhergekommen?", hakte ich nach.
„So wie du vor ein paar Tagen auch hierhergekommen bist."
„Mit dem Globus?"
Ben nickte.
„Wo ist Mia?", fragte ich dann, als mir auffiel, dass nur Jayden und Ben in diesem Raum waren.
„Gute Frage. Ich habe keine Ahnung, vorhin ist sie einfach rausgestürzt, ohne zu sagen, wohin sie geht. Sie weiß auch noch gar nicht, dass es dir wieder besser geht. Ich gehe mal nach unten, dann kann ich sie abfangen und herbringen, wenn sie zurück ins Krankenhaus kommt." Und schon war Ben aus der Tür gewuselt.
Nun, dann musste Jayden halt meine Fragen beantworten. „Wurde ich operiert?"
„Ja.", sagte dieser.
„War es...war es...knapp?"
Jayden biss sich auf die Lippen. „Ein wenig schon, ja."
„Ohh."
Jayden machte den Mund auf, als wollte er irgendwas sagen, schloss ihn aber dann wieder. Ich tat das gleiche mit meinen Augen.
„Es tut mir leid.", hörte ich Jayden schließlich ganz leise neben mir flüstern.
„Du musst dich schon konkretisieren.", erwiderte ich, ohne die Augen zu öffnen.
„Dass...dass du meinetwegen angeschossen wurdest."
Ich atmete tief durch, schlug die Augen auf und drehte mich zu ihm um. Jayden wirkte tatsächlich sehr schuldbewusst und mit einem Mal so viel jünger, wie er so dasaß, die Beine gekreuzt, genauso wie die Arme und komplett in sich zusammengesunken.
Es schien ihm wirklich leid zu tun. Es wirkte nicht so, als sagte er das nur, um von mir bestätigt zu kriegen, dass er nicht schuld sei. Es schien, als sei er komplett überzeugt davon, ganz allein für alles verantwortlich zu sein, was passiert war.
„Ich war mir des Risikos voll und ganz bewusst. Ich weiß nicht, ob es Mia und Ben auch so ging, aber ich wusste, seit ich davon erfahren hatte, dass meine Mutter vermutlich umgebracht wurde, in welcher Gefahr wir schwebten. In welcher Gefahr wir SCHWEBEN. Und deshalb denke ich...", ich musste schlucken und es fiel mir unheimlich schwer, die nächsten Worte auszusprechen: „Es ist besser, wenn ich ab jetzt allein weiter suche..."
„Bist du dumm?" Jayden richtete sich auf und funkelte mich jetzt unverhohlen wütend an. „Du wurdest vorhin angeschossen! Wenn du allein gewesen wärst, dann wärst du jetzt tot, du dumme Kuh!"
Ich setzte mich weiter auf und blickte in Jaydens starre, grüne Augen: „Ich bin nicht dumm! Aber ich weiß einfach nicht, ob ich diese ganze Sache mit euch durchziehen möchte. Oder ob ich sie überhaupt durchziehen möchte..."
Mit einem Mal stand Jayden ganz nah vor mir und beugte sich über mich. „Du wirst diesen Scheiß zu Ende führen."
„Und wieso?", rief ich wütend aus. „Meine Mutter ist eh tot. Es bringt sie nicht zurück, wenn ich diese blöden Seiten zusammensuche!"
„Nein!", Jayden war genauso wütend wie ich. „Aber weißt du, wie vielen Menschen du helfen könntest? Weißt du wie viele Menschen du davor bewahren könntest, so zu werden, wie meine...", er zögerte und spuckte das nächste Wort dann aus: „Mutter!"
„Aber wieso ich? Wenn es dir so wichtig ist, mach du es doch!"
Jetzt blickte Jayden betreten zu Boden. „Würde ich ja, aber das geht nicht."
„Und wieso?"
„Weil der Globus nicht auf mich hört."
„Woher willst du das denn wissen?"
„Weil er DICH gefunden hat. Dich und nicht mich. Hier ist so viel mehr Magie im Spiel, als man denkt und sie ist überall. Er hat dich gefunden, niemand anderen. Deshalb musst du ihn auch benutzen."
„Boah! Magie! Scheiß auf Magie! Wir haben doch schon eine Seite, reicht das nicht?"
Da fiel mir etwas ein. Vorhin hatte ich die Seite achtlos in meine Hosentasche gestopft. Aber ich trug momentan ein Krankenhausnachthemd, weil ich ja operiert worden war. Wo war meine Hose?
„Wo sind meine Klamotten?", ich wurde panisch und versuchte aus dem Bett aufzustehen. Sofort wurde mir aber schwindelig und ich musste mich wieder setzen. Das waren hoffentlich noch Nachwirkungen der Narkose.
„Ich weiß es nicht. Da müssen wir Mias und Bens Vater fragen.", antwortete Jayden und ließ sich wieder auf den Stuhl zurücksinken.
„Was? Wieso denn der Vater der zwei? Was hat der mit der ganzen Sache zu tun?"
„Er hat dich operiert. Deshalb sind wir ja in Hamburg."
Oh, das ergab Sinn. Eine Sache gefiel mir allerdings ganz und gar nicht daran: „Weiß ihre Mutter, wo wir sind? Dann erfährt es sicher auch mein Vater bald!"
„Keine Panik.", Jayden trank einen Schluck von dem Wasser, welches auf meinem Nachttisch stand. „Blondchen hat das geregelt."
„Wie?"
„Er hat seinem Vater gedroht, er würde seiner Mutter irgendetwas verraten. Keine Ahnung, um was es ging, ehrlich."
Ich runzelte meine Stirn. Ich hatte seit heute Morgen versucht, nicht über Mias merkwürdigen Traum nachzudenken oder über den davor, weil das ganze ihre Privatsache war und ich, nachdem ich schon ihre Träume gesehen hatte, diese nicht auch noch analysieren wollte... Aber ich glaube, dass etwas in letzter Zeit passiert war und dass dies Mia noch ziemlich belastete. Und vielleicht, ganz vielleicht, hatte das, womit Ben seinem Vater gedroht hatte, auch irgendwas mit der Sache zu tun. Auf jeden Fall war ich mir ziemlich sicher, dass es das ein oder andere dunkle Geheimnis in der Vergangenheit der Zwillinge gab und ich nahm mir fest vor, Mia darauf anzusprechen. Wir waren zwar nicht direkt Freunde und vielleicht würde sie es mir gar nicht verraten, aber neugierig war ich schon.
„Ich hätte trotzdem gerne meine Klamotten wieder." Ich sank in meine Kissen.
Jayden erhob sich. „Ich kümmere mich drum. Aber vorher würde ich dich gerne noch etwas fragen."
Er deutete mein Schweigen als Zustimmung weiter zu reden: „Kannst du dich noch an den Moment erinnern, in dem du angeschossen wurdest?"
Kurz schloss ich meine Augen und versuchte, mir das Szenario wieder ins Gedächtnis zu rufen. Jayden und ich waren die Treppe hochgerannt, als seine Mutter geschossen hatte. Der Schuss war von der Wand abgeprallt, glaube ich, und dann war irgendwie alles nebelig. „Worauf willst du hinaus?"
„Als meine Mutter...", Jayden schluckte und man konnte den Knoten in seinem Hals förmlich sehen, der seine Stimme ein wenig kratzig werden ließ „als sie dich erschießen wollte...also, als du am Boden lagst...das Regal, es ist auf einmal durch die Luft geflogen...sonst wärst du gestorben. Weißt du, wie zum Teufel das möglich war?"
Ich schüttelte den Kopf. Nein ich hatte gar keine Ahnung, wie das möglich war. Vielleicht hatte es einen heftigen Luftstoß gegeben, als Jayden die Tür aufriss? Aber das war unmöglich. Ein bisschen Wind hätte kein so großes Regal verschieben können.
„Hast du denn eine Vermutung?", fragte ich also Jayden, der mich gespannt und abwartend anblickte.
„Kann schon sein...", murmelte dieser und wandte den Blick von mir ab, um zur Tür gucken zu können. „Ich glaube Ben hat Mia gefunden", gab er Auskunft.
Ich zog nur fragend eine Augenbraue hoch. „So schrecklich dieses Gedankenlesen auch ist.", erklärte mir Jayden. „Die Gabe ist auch sehr nützlich dafür, wenn man etwas wissen möchte oder herausfinden möchte, wann jemand in den Raum kommt."
Tatsächlich riss Mia, just in diesem Moment, die weiße Tür des Krankenzimmers auf und stürmte auf mein Bett zu. Sie hatte ein anderes Oberteil als heute Morgen an und trug jetzt ein pinkes Shirt, welches sehr lustig zusammen mit ihren wilden, roten Locken aussah. Mia beugte sich zu mir runter und umarmte mich erleichtert. So sehr ich mich auch freute sie wiederzusehen, das tat dann doch ein wenig weh.
Als ich ein bisschen aufstöhnte vor Schmerzen ließ mich Mia sofort los und sagte: „Oh Gott, es tut mir leid, ich wollte dir nicht weh tun... ich war nur so froh dass...naja, dass du noch lebst."
„Und dann bringst du sie gleich um, indem du ihr die Luft abschnürst?", lachte Ben, der hinter sie getreten war und eine Hand auf ihre Schulter legte.
„Ich freue mich auch, dich zu sehen.", sagte ich zu Mia. Diese lächelte und setzte sich an das Fußende meines Betts.
„Was ist unser weiterer Plan?", fragte sie in die Runde.
„Vielleicht sollten wir erst einmal warten, was Papa sagt, wie lange Luna noch im Bett bleiben muss, bis wir weiter machen.", erklärte Ben seiner Schwester.
Mia blickte ein wenig besorgt zu mir und knickte dann sehr schnell ein: „Das stimmt wohl...soll ich mal unseren Vater holen gehen und ihn fragen, wann sie wieder einsatzfähig ist?"
Ben nickte ihr zu, woraufhin Mia aufsprang und aus dem Raum eilte.
Ein unbehagliches Schweigen entstand, weshalb ich äußerst erleichtert war, dass Mia nur eine Minute später zurückkehrte, einen Mann mit hellen, leicht angegrauten Haaren im Schlepptau der Ben so ähnlichsah, dass jedem sofort klar wurde, wer dieser Mann war.
„Hallo", begrüßte er mich mit einem leichten, professionellen Lächeln auf den Lippen, dass seine Augen nicht erreichte. „Ich bin Dr. Winter." Winter? Teilten Mia und Ben wohl den Nachnamen ihres Vaters?
„Kannst du mir sagen was passiert ist?", fragte mich Dr. Winter, woraufhin Ben herumwirbelte und ihn wütend anfunkelte.
„Ich habe dir gesagt du sollst nicht mehr nachbohren!", knurrte er wütend und starrte seinen Vater nieder. Dieser hielt seinem Blick stand und erwiderte gelassen: „Medizinische Neugier. Hat der Schuss dich direkt getroffen..." Er blickte kurz auf das Tablet in seiner Hand: „Luna?"
Ich musste kurz nachdenken. „Nein, ich glaube nicht...", kurz zögerte ich und überlegte, wie viel ich ihm verraten sollte. „Er ist an einer Wand abgeprallt."
„Ah ja.", Mias und Bens Vater schien nicht überrascht zu sein. „Du hattest Glück, hätte dich der Schuss ein paar Zentimeter weiter oben getroffen, dann wäre deine Leber beschädigt worden."
Mia zuckte merklich zusammen, sah ihrem Vater dann aber fest in die Augen. „Wann darf Luna wieder aus dem Krankenhaus raus?"
„Das dürfte noch einige Tage dauern und danach sollte sie es auch erst einmal langsam angehen lassen. Bisher heilt die Wunde erstaunlich schnell, wir müssen beobachten, ob das so weitergeht, denn mit einer Schusswunde ist nicht zu spaßen. Deine Sachen sind übrigens so blutig, dass sie erst einmal gewaschen wurden. Die Schwester hat dieses Blatt Papier in deiner Hosentasche gefunden." Er reichte mir die Seite, für die ich beinahe mein Leben aufs Spiel gesetzt habe und ich versuchte, nicht allzu erleichtert auszusehen.
„Danke. Also nicht nur hierfür...", ich hielt das Blatt hoch. „Sondern auch dafür.", ich zeigte auf die ungefähre Stelle, an der meine Wunde sein musste.
„Das ist mein Job. In zwei Stunden kommt jemand zum Verbandswechseln. Ben, Mia kommt ihr bitte mal mit?" Dr. Winter bedeutete seinen Kindern ihm nach draußen zu folgen.
„Tja wieder allein.", Jayden zwinkerte mir zu, aber mir war gerade nicht nach Späßen zumute. Ich schaute auf die Seite, die in meiner Hand lag. Sie war völlig leer. Auch auf der Rückseite stand nichts drauf. Mir schossen die Tränen so schnell in die Augen, dass sofort mein Blickfeld vernebelt war.
„Es steht nichts drauf.", flüsterte ich und spürte wie mir die erste Träne die Wangen runterlief. „Es ist sicher nur eine einfache Seite...deine Mutter muss gewusst haben, dass sie jemand versuchen würde zu stehlen...vielleicht ist das eine Attrappe. Ich bin...ich bin fast gestorben für nichts!"
Jayden erhob sich von seinem Stuhl und nahm mir sanft die Seite aus der Hand. Dann umfasste er diese und sah mir in die Augen. Er sagte aber nichts, sondern saß einfach nur so da.
„Für nichts!" Immer mehr Tränen rannen aus meinen Augen. „Kapierst du das Jayden?"
„Sag mir, Luna." Jaydens Stimme war sehr ruhig „Was steht denn in dem Buch drin?"
„Nichts..."
„Und glaubst du nicht, dass wenn in dem Buch auch nichts steht..."
„Es ergibt erst am Ende einen Sinn.", flüsterte ich „Erst wenn alle Seiten wieder mit dem Buch vereint sind, kann man es lesen. Deshalb bringt einem eine Seite nichts und auch das Buch ist nutzlos, wenn etwas fehlt."
„Schlaues Mädchen." Jayden grinste mich an und fügte noch hinzu. „Ja, du bist beinahe gestorben...aber für nichts? Nein, das stimmt nicht."
Ich lächelte, weil seine Worte so einfach waren, und doch irgendwie ziemlich viel bedeuteten. Gerade wollte ich ihm das sagen, als ein heftiger Schmerz meinen Bauch durchzuckte. Ich keuchte leise auf und krümmte mich, wobei ich Jaydens Hand losließ. Es tat so weh! Aber es kam nicht von der Wunde, nein die war weiter unten. Außerdem hatte ich diese Art von Schmerzen schonmal gespürt...
Jayden war schon auf dem halben Weg zur Tür. „Ich rufe einen Arzt..."
„Nein!"
Was war das? Es stach und schmerzte und es hörte nicht auf. Da hörte ich eine Stimme in meinem Kopf (nein nicht die Art von „ich werde verrückt und höre Stimmen"), sondern die Art von Stimme, die einem spezielle Momente, in speziellen Situationen, noch einmal ins Gedächtnis ruft: Sie wusste immer, wenn er da war. Mias Mutter hatte dies gesagt. Meine Mutter wusste immer, wenn ER in der Nähe war. Sie wusste es, wenn er schon vor ihr irgendwo war. Und dies war vermutlich das Gefühl, das sie dann hatte. Diese Bauchschmerzen! Keine Ahnung woher ich das wusste, aber ich war mir zu beinahe 100 Prozent sicher, dass ich richtig lag. Es fühlte sich so falsch an, es passte nicht in meinen Körper, es waren keine normalen Bauchschmerzen. Aber wenn das stimmt, dann war auch ER vor ein paar Tagen in meiner Nähe gewesen. In meiner unmittelbaren Nähe, vielleicht sogar im Haus... aber was viel wichtiger war...er ist auch jetzt in meiner Nähe. In unserer Nähe.
„Wir müssen hier weg.", keuchte ich und versuchte aufzustehen. Jayden war sofort neben mir und drückte mich wieder auf das Bett „Nein Luna, du darfst nirgendwo hin. Du bist verletzt. Du musst im Bett bleiben..."
„Das ist mir egal!", ich bekam Angst. Der wahrscheinliche Mörder meiner Mutter war in der Nähe und ich war ihm in diesem Krankenbett nutzlos ausgeliefert: „Bitte!", ich flehte Jayden jetzt an. „Hol Mia und Ben und den Globus..., wenn wir nicht bald verschwinden...bitte!"
Er sah mich zwar an, als wäre ich verrückt, vermutlich wurde ich auch langsam verrückt, aber er schien auch zu merken, wie ernst es mir war. Jayden rannte zur Tür und hinaus in den Flur.
Jetzt war ich allein. Die Tür stand offen, aber draußen war alles still. So still. Ich hatte Angst. Meine Bauchschmerzen wurden immer stärker. Jetzt hörte ich Schritte vor der Tür, schwer und schleifend und meine Nackenhärchen stellten sich auf. Die Schritte kamen auf mein Zimmer zu. Unaufhörlich, langsam, schleppend. Ich sprang auf und missachtete die ganzen Schläuche um mich herum. Irgendwo musste doch etwas sein mit dem ich mich verteidigen konnte. Die Seite hielt ich fest umklammert. Ganz fest, damit sie mir niemand wegreißen konnte. Die Person musste jetzt nur noch zwei Schritte entfernt sein, denn ihre Schritte wurden immer lauter.
Da hörte ich andere Schritte. Schneller, leichter von mehreren Personen und im nächsten Moment stürzten Mia, Ben und Jayden zur offenen Tür hinein.
„Scheiße!", fluchte Jayden. „Du bist ja leichenblass."
„Habt ihr ihn gesehen? Draußen im Flur?! Ist er da?"
„Ist da wer?", fragte Mia und sah mich ein wenig verwirrt an.
„Ich weiß es nicht. Ist da irgendwer?"
„Nur das übliche Krankenhausgewusel ist vor der Tür, Luna. Soll ich noch einmal nachschauen gehen?"
„Nein bist du irre?" Vermutlich war gerade eher ich diejenige, die sich irre anhörte. Ich wollte hier einfach nur weg. „Wo ist der Globus?!"
Mia streckte ihre Hand aus und ich atmete erleichtern auf, als ich den kleinen Globus darin liegen sah. Ich griff danach und hielt ihn von mir gestreckt.
„Worauf wartet ihr?" Ungeduldig blickte ich die anderen an, damit sie ihre Hände auf den Globus legen.
„Du darfst jetzt nicht reisen Luna...", begann Mia vorsichtig: „Eigentlich darfst du nicht mal aufstehen."
„Ich erkläre euch gleich alles, aber wir müssen hier weg.", schon wieder liefen mir diese verdammten Tränen über die Wangen.
„Aber du hast nur das Krankenhaushemd an.", versuchte Ben halbherzig mich umzustimmen.
„Selbst, wenn ich gar nichts anhätte, jetzt packt eure Hände auf diesen Globus und lasst uns abhauen, sonst..."
Mia sah zu mir, dann wieder zu dem kleinen Globus bevor sie ihre Hand auf ihn legte und Ben mit einem so drängenden Blick taxierte, bis dieser das gleiche tat. Jayden blickte uns einen Moment lang an, bevor er meinen Arm packte, um mich zu stützen und ebenfalls nach dem Globus griff. Dann flogen wir mal wieder durch die Welt und hatten keine Ahnung, wo wir landen würden. Es war mir aber egal, solange wir aus Hamburg wegkamen.
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