Mia und Ben
Vorsichtig ging ich einen Schritt zurück und versuchte Abstand zu gewinnen. Nicht, dass er mir zu nahekam.
Oder dass ich IHM zu nahekam.
„Ich... ich... denke nicht, ich muss... los...also...ähm... nach da hinten." Der Junge blickte irritiert auf das Gebäude auf das ich gedeutet hab und fragte: „Du musst in einen Tattooladen?"
„Ähh... ja genau"
„Und was genau willst du dort?"
„Ein Tattoo?", klang mehr wie eine Frage als alles andere.
„Was denn für eins?"
„Weiß ich noch nicht.", ich ging ein paar Schritte.
„Ich glaub dir nicht."
Verdutzt drehte ich mich um: „Wie bitte? Und überhaupt, was geht dich das eigentlich an? Ist ja sehr nett von dir das du mir helfen willst, aber du solltest echt mal mit jemandem darüber sprechen, dass du viel zu aufdringlich bist."
Der Junge kam wieder näher an mich ran und machte so den Sicherheitsabstand, den ich aufgebaut hatte, zunichte. Er ignorierte meinen fiesen Kommentar. „Eben, du hast ziemlich viele Menschen etwas gefragt, ich weiß nicht was, aber du sahst verwirrt aus."
„Hast du mich beobachtet?"
„Ja, aber du hast dich so merkwürdig verhalten, dass es schwierig war dich nicht zu beobachten. Du warst ja völlig orientierungslos."
„Ich muss jetzt echt los. Und DU solltest wirklich mal mit jemandem sprechen, der dich über dein Helfersyndrom aufklärt", ich versuchte meine Stimme genervt und nicht verängstigt klingen zu lassen.
Doch der Typ stellte sich mir in den Weg, nicht einmal aufdringlich, hätte ich gewollt wäre ich sicher an ihm vorbeigekommen. Aber ich wollte nicht. Warum auch immer. Vielleicht weil er der Einzige war, der mich freundlich behandelte. Vielleicht weil ich nicht wusste, wo ich hier war. Oder warum ich hier war. Oder auch nur, was das alles zu bedeuten hatte. Vielleicht blieb ich deshalb stehen.
„Wo kommst du her?"
„Warum?"
„Dein Akzent, hört sich Britisch an."
„Liegt daran, dass ich aus England komme." Ich seufzte.
Er ging nicht auf meinen Tonfall ein und fragte: „Was machst du hier, in Hamburg?"
Hamburg? Ah, ich war in Hamburg. Also hatte ich recht, Deutschland, Fluss, Großstadt. Da hatte sich doch zumindest schonmal eine meiner vielen Fragen geklärt.
„Das weiß ich selbst nicht", und dann, es war echt nicht beabsichtigt, aber mir wurde alles zu viel. Ich habe meine Großmutter und meinen Onkel wiedergesehen, dann war da dieser komische McCarter, dieser Bauchschmerzanfall, meine merkwürdigen Träume, in denen dieser Junge, der jetzt vor mir stand, vorkam, das Grab und schließlich war ich HIER gelandet, hatte das Raum-Zeit-Gesetz überwunden und wollte einfach nur nach Hause. Zu Dad. Zu Mary. In mein vertrautes Zuhause! Jedenfalls begann ich mit einem Mal zu schluchzen und ich heulte nun schon zum zweiten Mal an diesem Tage wie ein Schlosshund.
Oh Gott, was dachten denn nun alle von mir?
Naja, schlechter als gerade eben konnten sie wohl nicht von mir denken.
Der Junge holte mich nach ein paar Metern ein und zog mich am Handgelenk zurück: „Was ist los?", fragte er verunsichert und ich heulte nur noch lauter.
„Komm mit!", sagte er dann energisch und zog meine Hand mit sich. Was hatte ich denn zu verlieren?
Fünf Minuten gingen wir durch die Gegend, bevor der Typ mich eine Treppe runterschob und das Licht um mich herum gedämpfter wurde. Suchte er einen Ort an dem er mich loswerden könnte? Es wäre verständlich. Ich hörte Stimmengewirr, es wurde wärmer und ich wurde auf einem harten Sitz abgesetzt.
„Gehts wieder?", jemand fuhr mir mit einem Tuch über die Augen.
„Ja Danke", schniefte ich, blickte mich um und stellte fest das wir in einem halbvollen U-Bahn Abteil saßen. Auf einem Vierersitz, der Typ mir gegenüber.
„Wo fahren wir denn hin?"
„Zu mir nach Hause. Ich bin übrigens Ben."
„Luna. Zu dir nach Hause?"
„Ja noch fünf Stationen. Wo kommst du genau her Luna?"
„Aus Hastings, das ist eine Stadt in England", warum erzählte ich das? Wir fuhren zu ihm nach Hause, was wenn er mich umbringen möchte? Aber das kann ich mir nicht vorstellen, dafür war er einfach zu...nett. Tja, aber meist merkte man den Leuten nicht an, ob sie Mörder waren oder nicht. Im Gegenteil. In Dokumentationen über Serienmörder wurden meist die Nachbarn befragt, die immer aussagten, dass sie dem Mörder (oder der Mörderin) diese Taten niemals zugetraut hätten. Dass sie niemals etwas Merkwürdiges an diesem Menschen bemerkt haben.
„Cool. Hab noch nie von der Stadt gehört, ist aber sicher schön." Er grinste. Nein, Ben war ganz sicher kein Mörder.
„Na ja. Eigentlich ziemlich langweilig weißt du?", ich seufzte, stieg auf seinen Smalltalkversuch ein und versuchte zurück zu Grinsen, was mir sogar fast gelang.
Ben beugte sich vor und sah plötzlich ganz ernst drein, als er fragte: „Versprichst du mir ruhig zu bleiben und mir zu erzählen warum du hier bist?"
Ich atmete einmal tief durch und begann. Ich erzählte ihm alles, auch auf die Gefahr hin das er mich für total übergeschnappt hält: „Ich weiß es klingt total irre, aber ich schwöre dir hoch und heilig das nicht lüge", beendete ich meine Erzählung.
Wir stiegen aus, stellten uns auf die Rolltreppe und fuhren nach oben.
Die ganze Zeit dachte ich nur: Oh mein Gott, er muss mich für total verrückt und übergeschnappt halten und ich kann es ihm ja nicht einmal verübeln. Sicher findet er nicht jeden Tag ein komplett verwirrtes Mädchen, welches auf der Straße fremde Menschen anspricht, um sie zu fragen wo sie ist, danach anfängt wie verrückt los zu heulen und ihm dann erzählt sie sei erst in London gewesen und dann ganz plötzlich in Hamburg.
Draußen war es genauso voll wie vorhin und Ben umschloss meine Hand ein wenig fester.
„So und du sagst, dass du auf einmal hier in Hamburg warst und vorher in London?"
„Ja", ich wurde ein wenig rot, weil er sich jetzt vermutlich über mich lustig machen würde. Zumindest musste er davon ausgehen, ich sei verrückt.
"Hast du vielleicht...", er schien zu überlegen wie er das, was er als nächstes sagen wollte, möglichst gefühlvoll ausdrücken konnte: „Ähhm...einen Schlag auf den Kopf bekommen. Oder irgendetwas konsumiert...?"
Ich war nicht mal überrascht, dass er so etwas fragte. Vermutlich würde ich in seiner Situation genau das Gleiche tun. "Nein", erklärte ich also: "Ich weiß, du glaubst mir nicht, ich würde mir auch nicht glauben, aber bitte, ich kann mich nur daran erinnern. Glaub mir, dass ich sonst auch keine fremden Menschen auf der Straße anspreche und ihnen so eine Story erzähle. Nur ich weiß wirklich nicht was ich tun soll. Ich weiß nicht wo ich hin soll", meine Stimme klang jetzt wohl ein wenig hysterisch. Das schloss ich daraus, dass Ben meine Hand NOCH fester drückte, um mich zu beruhigen. Verdammt, warum hielt ich seine Hand überhaupt? Ich kannte ihn doch erst seit ein paar Minuten und schon hielt ich seine Hand und ging mit zu ihm nach Hause. Wäre die Situation nicht so verrückt, wäre sie wohl beinahe irgendwie...romantisch?
„Bitte", meine Stimme war jetzt nicht mehr hysterisch und ich flüsterte einfach nur: "Ich bin wirklich nicht aufmerksamkeitssüchtig oder so. Ich bin einfach nur verzweifelt."
„Dann versuche ich mal, dir zu glauben."
„Das meinst du nicht ernst?", erstaunt blickte ich zu ihm hoch.
„Oh doch sicher", Ben ging beim Reden weiter und ich versuche mit ihm Schritt zu halten: „Ich meine du hast ja wirklich keinen Grund dir das auszudenken. Ich bitte dich nur versichere mir ernsthaft, dass das hier keine Wette ist, bei der du irgendwem eine verrückte Geschichte auftischen musst."
„Ich schwöre es sogar!" Ich hielt zwei Finger der Hand, welche sich nicht in Bens Klammergriff befand, hoch.
„Hier links", Ben dirigierte uns in eine etwas leerere Nebenstraße: „Aber wie erklärst du dir das?"
„Wenn ich das wüsste", ich runzelte die Stirn und ließ die Zeit auf dem Friedhof sowie meine Zeit in Hamburg nochmal vor meinem inneren Auge ablaufen. Was war passiert? Hatte ich etwas Seltsames getan? Etwas, dass meinen plötzlichen Ortswechsel würde erklären können? Da fiel mir etwas ein. Natürlich, warum war ich nicht schon früher darauf gekommen? Es war so einfach, aber auch so unrealistisch. Dabei...es ist ja auch irgendwie unmöglich, dass ich jetzt hier war. Also musste die Erklärung genauso unrealistisch sein, wie die Tatsache, dass ich mich in Hamburg befand. Und es gab nur eine Sache, die ich gemacht hatte, bevor ich hier gelandet war. Ich hatte nach einem goldenen Schimmer gegriffen: Der Globus! Natürlich, ich hatte ihn angefasst und dann war auf einmal hier gewesen. Sollte ich Ben das sagen?
Gerade öffnete ich den Mund, als Ben die Hand hochhob und die Klingel von einem modern aussehenden Hause, ganz am Ende der Straße drückte.
„Ja?", meldete sich eine weibliche Stimme.
„Mia ich bin's. Ben. Ich habe wen mitgebracht."
Der Summer brummte und Ben drückte die Tür auf.
„Komm rein!"
Und so betrat ich ein großes, durch die hellen Wände gemütlich wirkendes, Haus und wurde von Ben in die Küche geleitet.
„Hey!" Ein ca. siebzehnjähriges Mädchen mit leuchtenden roten Locken und einem breiten Grinsen kam fröhlich auf mich zu und ich bekam den gefühlt hundertsten Schreck heute. Obwohl man doch würde meinen können, dass mich so langsam nichts mehr aus der Fassung bringt.
Auch sie hatte ich schon in meinem Traum gesehen, aber das konnte ich doch nicht erzählen. Das würde sich doch irgendwie dämlich anhören: Ach übrigens, ich habe von euch geträumt und Ben ist dabei irgendwie gestorben.
Ne, das konnte ich nicht machen. Dann würde meine Glaubwürdigkeit ja noch tiefer sinken. Und Ben war doch gerade dabei, mir zu glauben.
„Wolltest du nicht zu Frau Link?", fragte das Mädchen.
Dann bemerkte sie mich: „Oh. Hi, ich bin Mia, Bens Zwillingsschwester", lächelnd streckte sie mir ihre Hand hin.
Stimmt, wenn ich die beiden so ansah, hatten sie schon ziemlich viel Ähnlichkeit miteinander (Naja halt so viel, wie Jungen und Mädchen haben können): Die gleichen Augen und das gleiche offene Lächeln.
„Ich bin Luna."
„Lustiger Dialekt, kommst du aus Amerika?"
„Nein aus England."
„Cool!", ihre braunen Augen leuchteten auf: „Ich wollte schon immer mal jemanden aus England kennenlernen."
Ihre gute Laune war ansteckend und ich musste lachen, weil Mia so begeistert klang.
„Was machst du denn hier?"
Ben suchte meinen Blick und als ich nickte, dann erzählte er Mia die ganze Geschichte.
Mias Lächeln erlosch immer weiter bis sie mich schließlich geschockt anstarrte: "Das ist doch ein Witz, oder?", sie lachte wieder: "Nein Ben, du willst mich schon wieder reinlegen. Genau wie damals am ersten April, als du mir diese merkwürdige Geschichte mit den Flamingos in der Schule erzählt hast.", doch ihr Grinsen schwand, als sie mich anblickte und wich erneut einem Ausdruck des puren Schocks und Unglaubens: "Das ist doch ein Scherz, oder? Bitte sagt mir, dass ihr mich nur auf den Arm nehmt."
Bedauernd schüttelte ich meinen Kopf. Irgendetwas in mir wollte, dass die beiden mir glaubten. Es war vermutlich der Teil von mir, der sich am verlorensten und am ratlosesten fühlte. Der Teil, der unbedingt seine Geschichte mit jemandem teilen musste und wollte, dass ihm jemand glaubte. Und ihn nicht für verrückt erklärt.
"Glaub mir Mia, ich wäre nicht hier, wenn ich wüsste wie ich wegkommen würde. Ich würde euch diese Geschichte nicht auftischen, wenn ich wüsste, was ich als nächstes tun soll. Ihr habt jedes Recht der Welt mich für verrückt zu erklären und jetzt ein Foto von mir auf Instagram zu posten mit der Bildunterschrift: Irres Mädchen aus London denkt sie wäre in der Welt herum gehopst. Ihr kennt mich nicht und naja ich kenne euch auch nicht. Ich bitte euch aber trotzdem einfach darum...nein ihr müsst mir nicht mal glauben...bitte HELFT mir einfach!", ich war kurz davor auf die Kniee zu gehen, um die beiden anzubetteln mir zu sagen wie ich hier wegkomme, ich war auch kurz davor, wieder anzufangen, zu weinen, da fragte Mia:
„Weißt du...hast du eine Idee, womit dein "Städtesprung" zu tun haben könnte?", sie wirkte nicht so, als würde sie mich für verrückt halten. Nein sie klang ehrlich interessiert und schien die Antwort auf ihre Frage wirklich wissen zu wollen.
Erleichtert atmete ich auf.
„Ehrlich gesagt ich kann es mir auch nicht erklären."
Mia blickte ein wenig enttäuscht und ich fügte schnell hinzu: "Aber vielleicht...", ich holte den kleinen Globus raus: „Hat es etwas damit zu tun?"
„Woher hast du den?", flüsterte eine Stimme von der Tür aus.
Wir fuhren alle drei zusammen und drehten uns nach hinten um.
Im Türrahmen lehnte eine Frau mit hellen Locken.
„Mama!", rief Mia: „Was machst du hier? Ich dachte du bist schon los zur Arbeit?"
Ohne auf Mia einzugehen, trat die Frau auf uns zu und fragte: „Luna Millow?"
DAS war jetzt wirklich beängstigend. Was passierte hier? Aber mal ernsthaft: Konnte mich heute überhaupt noch irgendetwas überraschen? Trotzdem stammelte ich mehr schlecht als recht: „Was...wie...woher wissen Sie das? Woher wissen Sie wer ich bin?"
„Ich kannte deine Mutter."
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