Kurzschlussreaktion
Mit meinen Gedanken immer noch bei den Weiten der irischen Landschaft zuckte ich zusammen, als Mary hochfuhr und leise: „Mist", murmelte.
„Was ist los?", ich hob meinen Kopf träge und blickte meine Freundin fragend an.
„Da ist Sam." „Oh nein!", stöhnte ich und schob meine Sonnenbrille in die Haare, um besser sehen zu können.
„Oh doch. Duck dich, er kommt mitten auf uns zu", Mary wirkte panisch: „Schnell lass uns gehen!"
„Aber ich möchte noch kurz ins Wasser...", protestierte ich.
„Hallo Ladys."
Ich zischte leise: „Zu spät" und versuchte, möglichst freundlich zu gucken.
Mary gab sich nicht mal die Mühe, ein künstliches Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern und sah bloß grimmig drein.
„Das ist ja ein Zufall, dass wir uns hier treffen", sagte Sam und ließ sich ungefragt auf mein Handtuch sinken. „Habt ihr das heute Morgen mit Mrs.Taylot mitbekommen? Die hat gekreischt. Meine beste Aktion diese Woche."
Seine Brust schwoll an vor Stolz und ich hätte wetten können, dass nicht mehr viel fehlte, bevor er sich selbst auf die Schulter klopfte.
„Dann will ich nicht wissen, was deine schlechteste war."
„Mittwoch in Mathe. Mr. Grinwell hat nicht einmal gezuckt, als er sich auf das Pupskissen gesetzt hat."
„Das war jetzt eigentlich keine Frage...", murmelte ich.
Piep. Mein Handy. Nicht schon wieder. Dad machte sich sicher furchtbare Sorgen, weil ich nicht antwortete. Gut, dass war jetzt zumindest eine gute Ausrede.
„Entschuldigt", murmelte ich und zog mein Handy hervor.
Sam begann nun auf Mary einzureden die mir einen strafenden Blick zuwarf als ich auf mein Handy blickte.
Einunddreißig neue Nachrichten.
Aber nur eine davon stammte von Dad.
Luna hat alles geklappt? Muss jetzt ins Meeting und daher mein Handy ausschalten.
Hab dich lieb.
Dad.
Okay, aber von wem waren dann die anderen Nachrichten? Ich scrollte auf dem Display nach unten, dreißig SMS. Schön, aber von wem? Ich guckte, wer die Nachrichten abgeschickt hatte. Unterdrückte Nummer. Wer schrieb mir denn bitte schön mit unterdrückter Nummer? Und vor allem was schrieb mir diese Person? Mein Finger drückte auf den Bildschirm.
Dreißigmal dieselbe Nachricht.
334a Oxfordstreet, London.
Oxfordstreet 334a. Ich glaubte zu wissen wen ich dort finden würde. Aber was wollten sie von mir? Wir hatten seit Jahren nicht mehr miteinander gesprochen. War etwas passiert? Wieso riefen sie dann nicht Dad an? Und was war das mit den Zugtickets? Wenn wirklich etwas passiert war, fuhr man doch nicht in eine andere Stadt, um in eine Wohnung einzubrechen und Zugtickets zu deponieren. Es sei denn man wusste, dass dies der einzige Weg war, jemanden dazu zu bekommen, die Reise anzutreten. Der Anrufer appelierte an meine Neugier und diese war schon immer meine Archillesferse gewesen. Außerdem war klar: verwählt hatte sich der Anrufer nicht.
Während ich noch nachdachte begann mein Smartphone zu piepen.
Jemand rief mich an.
Unterdrückte Nummer.
Mit zitternden Fingern nahm ich den Anruf entgegen und eine raue Stimme erklang: „334a Oxfordstreet. Komm sofort. Zugtickets liegen auf dem Küchentisch."
„Wer...wer sind Sie? Was...was...wollen Sie?"
Doch wer auch immer am anderen Ende der Leitung war hatte schon aufgelegt. „Luna!", holte mich Marys Stimme zurück in die Realität. „Was ist los? Du bist ja kreidebleich. Also noch blasser als sonst."
„Nett", meinte ich abwesend: „Hör zu Mary, mir ist nicht gut, wollen wir das Schwimmen auf morgen verschieben und nach Hause gehen?"
Mary ignorierte Sams enttäuschten Blick, willigte erleichtert ein, stopfte ihr Handtuch in ihre Tasche und schulterte sie.
Als wir uns ein paar Meter vom Strand entfernten, flüsterte sie: „Alles in Ordnung mit dir? Wer war da eben am Telefon?"
„Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Es war jemand, der meinte ich soll nach London kommen. Er meinte auch, dass die Zugtickets schon in unserer Küche bereitliegen würden."
"Moment!", Mary starrte mich entgeistert an: "Meinst du, jemand ist in eure Wohnung eingedrungen? Wieso nach London? War ein Mann oder eine Frau am Telefon?"
"Ein Mann. Vermutlich muss jemand bei uns eingebrochen sein. Ich weiß es nicht!", ich raufte mir die Haare: "Der Anrufer meinte ich solle in die Oxfordstreet kommen."
"Möchte er mit dir shoppen gehen? Ein heimlicher Vereher?"
"Ich denke nicht. Ich glaube es handelt sich um ein Wohnhaus", teilte ich meine Gedanken mit Mary.
"Und wer genau wohnt in diesem Wohnhaus?"
"Ich habe so eine Ahnung. Weißt du, bevor wir nach Hastings gezogen sind, haben wir in London gelebt. Ganz sicher bin ich mir nicht, ich war zu jung, aber ich glaube...", meine Worte ergaben kaum Sinn. Das einzige was ich die ganze Zeit in meinem Kopf hörte war: Oxfordstreet. Oxfordstreet.
"Hör zu Mary", begann ich: "das klingt jetzt vermutlich total verrückt und dämlich...aber denkst du ich sollte nach London fahren?"
Nachdenklich runzelte Mary die Stirn: "Ich weiß nicht. Dein Vater wäre davon nicht besonders begeistert. Er lässt uns ja nicht einmal am Wochenende zusammen nach London fahren. Da hätte er bestimmt ziemlich viel dagegen einzuwenden, wenn du alleine dort hin fährst. Bei deinem Orientierungssinn."
Da hatte sie recht. Allerdings: "Vergiss nicht, ich habe früher einmal in London gelebt".
"Bis du drei Jahre alt warst. Das zählt nicht. Du warst doch noch nie in einer Großstadt. Und dann direkt London. Aber das ist ja gar nicht der Punkt", fiel ihr dann wieder ein und sie schüttelte den Kopf: "Du kannst doch nicht einfach nach London fahren, nur weil es dir so ein komischer Typ, den du im Übrigen nicht kennst, befehlt."
"Ich weiß ja! Aber irgendwie will ich auch wissen was dahinter steckt...", gab ich zu.
"Oh nein! So etwas geht nie gut aus, meine Liebe!"
"Okay ich ändere meine Aussage: ich MUSS wissen was dahinter steckt. Verstehst du?"
Ich biss mir auf die Unterlippe. Ich wusste genau, es wäre an Dummheit kaum zu übertreffen, würde ich nach London fahren. Ich wusste genau, mein Vater würde das ganze nicht gutheißen. Aber verdammt! Wenn diese Karten tatsächlich auf dem Küchentisch lagen, was im übrigen ziemlich gruselig wäre, wenn jemand tatsächlich in unsere Wohnung eingebrochen war...dieser jemand wollte wahrscheinlich wirklich, dass ich nach London fahre. Und ich wusste nicht, ob er Ruhe geben würde. Er konnte ich unsere Wohnung einbrechen! Was war, wenn er mich im Schlaf nach London schleppte?
Okay, ich schüttelte den Kopf. Jetzt nicht paranoid werden Luna! Atmen. Atmen und denken! Ich wollte nach London! Ich musste nach London! Sonst würde ich niemals herausfinden, was hier vor sich ging.
"Ich muss einfach nach London", flüsterte ich also: "es tut mir unfassbar leid, ich weiß das ist vollkommen unklug, aber..."
Mary betrachtete mich eingehend: "Bist du sicher?"
Ich konnte einfach nur nicken. Meine beste Freundin schien zwar nicht besonders überzeugt von meinem Vorhaben, doch sie wusste auch, dass ich mich nicht würde davon abbringen lassen. Manchmal konnte ich sturer sein als einer der Ziegenböcke auf dem Hof von Marys Großeltern.
"Ich finde die Idee gar nicht gut!", Mary sah mich noch immer kritisch an.
"Sie ist auch ganz beschissen", gab ich ihr recht.
"Einfach so nach London fahren?"
"Ich muss", erwiderte ich. Mary verstummte, aber ich sah ihr deutlich an, dass sie mich nicht verstand. Ich verstand mich ja selbst nicht. Mein gesamter Körper stand unter Strom. Mein Kopf und mein Bauch riefen gleichzeitig: "Oxfordstreet". Es schien als würde etwas in mir nach London ziehen. Als würde jeder Schritt, den ich ging, so oder so nach London führen. Wie gesagt, ich konnte es nicht definieren. Deshalb musst ich es heraus finden. Meine Füße führten mich nach London. Aber als erstes führten sie mich in unsere Wohnung.
Ich riss die Tür auf und machte mir gar nicht erst die Mühe, diese zu schließen, als ich eintrat. Schnell ging ich in die Küche und bemerkte, dass tatsächlich eine Fahrkarte auf dem Tisch lag. Rasch nahm ich sie in die Hand und besah die darauf gedruckte Uhrzeit. Dann fluchte ich. Der Zug würde schon in siebzehn Minuten abfahren.
Mir blieb keine Zeit mehr. Obwohl ich mich schon durch eine Stunde Sport gequält hatte, zog ich noch einmal mein Tempo an. Ich rannte durch die Straßen, die verwirrten Blicke der Leute, die sich auf den Weg zum Strand machten, auf mir. Drei Minuten bevor mein Zug fahren würde erreichte ich den Bahnhof.
"Gleis drei, Gleis drei", vor mich hinmurmelnd, ging ich durch die Halle und suchte nach dem richtigen Gleis.
Als ich es gefunden hatte sprintete ich die Treppen hoch. Der Zug stand schon da. Die Türen schlossen sich gerade. Noch einmal meine gesamte Energie zusammennehmend, rannte ich auf den Zug zu. Verdammt, nur noch zwei Türen waren geöffnet. Ich würde es nicht mehr schaffen, die Türen waren zu weit weg.
In diesem Moment sah ich, wie sich eine Frau zwischen die sich gerade schließende Tür stellte und mich zu sich winkte. Mit einem Hechtsprung landete ich im Wagon und bedankte mich schnaufend wie überschwänglich bei der Frau.
Sie quitierte meinen Dank mit einem Schulterzucken und ging weiter.
Ich fing mir ein paar verärgerte Blicke der anderen Passagiere ein, da sie wegen mir eine Minute später loskamen. Deswegen machte ich mich so schmal und unsichtbar wie möglich, bevor ich mich auf einen Sitz plumpsen ließ.
Oh Gott, der Zug fuhr los. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Oder konnte ich doch noch einmal die Notbremse drücken?
Aber der wütende Blick des älteren Herrn neben mir sagte mir, dass ich bei der Verursachung einer weiteren Verzögerung froh sein konnte, mit meinem Leben davonzukommen.
Um dem, zugegeben wirklich angsteinflößendem, Blick des Herrn zu entgehen, vergrub ich mich noch ein wenig tiefer im Sitz.
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