Eine Frage des Vertrauens


„Und da war wirklich ein Loch im Boden?", fragte Mia und starrte uns mit großen Augen an.

„Wenn ich's doch sag!", ich nickte eifrig.

Ben hatte sich über die Karte gebeugt und fuhr die Linien mit seinen langen Fingern entlang. Jayden und ich hatten die beiden im zweiten Stock in einem Schlafzimmer gefunden. Die Gardinen hier waren zwar zerrissen und das Bett und der Schrank umgekippt, dennoch war dieser Raum unverkennbar ein Schlafzimmer.

„Ich denke", sagte Ben langsam: „das ist ein Grundriss dieses Hauses."

„Blitzmerker.", bemerkte Jayden trocken. Ben funkelte ihn an, aber ich kam ihm zuvor, als er gerade den Mund öffnen wollte.

„Vermutlich ist irgendwas ziemlich Wichtiges dort und eigentlich würde ich ja vorschlagen, dass wir sofort danach suchen, aber ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten." Tatsächlich fühlten sich meine Beine an wie Wackelpudding, da sich so langsam Müdigkeit und Erschöpfung in mir breit machten.

„Dann lasst uns Morgen auf Schatzsuche gehen!", schlug Mia vor und legte sich einen meiner Arme um die Schulter, wie um mich zu stützen.

„Ähm Mia, ich kann noch stehen.", erklärte ich zögernd, doch sie schüttelte energisch den Kopf: „Gerade noch Luna, gerade noch! Wir bringen dich jetzt ins Bett. Jungs", befahl sie: „Dreht das Bett um!"

Zwar tauschten Ben und Jayden einen genervten Blick, jedoch packten beide an einer Seite des Bettes an und drehten dieses so um, dass es wieder in der Position stand, in der ein Bett normaler stehen musste.

„Perfekt.", Mia grinste und chauffierte mich zum Bett, ohne auf meine Proteste zu achten.

Als ich lag, zog sie mir die zerschlissene Decke bis zum Kinn. „Ich bin doch kein Kleinkind mehr!", ich richtete mich auf, war aber zu müde, um noch weiter zu protestieren. Dieser Tag hatte mir echt jegliche Energie gestohlen. Es war schon lange dunkel draußen und ich hatte keine Ahnung wie spät es war. Außerdem hatte mir der viele Einsatz meiner Fähigkeiten, das letzte bisschen Kraft geraubt. Also schloss ich nur die Augen. Das letzte was ich mitbekam war, dass Mia die Decke an meinen Füßen hob und mir die Schuhe von diesen zog. Gerade als ich etwas sagen wollte, ob Dankeschön oder Beschwerde, fiel ich in die lähmende Ruhe des einsetzenden Schlafes.

Meine Träume waren wirr. Meine Mutter kam darin vor, jung und mit dunklen Haaren. In einem Moment lächelte sie, im nächsten sah sie schmerzerfüllt aus. Ihr Bauch wuchs innerhalb von Sekunden und jetzt verwandelte sich der Ausdruck auf ihrem Gesicht und sah trauriger und ängstlicher aus, als dass ich dachte, dass es möglich wäre. Meine Großmutter, streng und unnachgiebig stand vor ihr und sprach auf sie ein: „Du musst die Kinder weggeben Fiona. Es ist die einzige Möglichkeit. Die einzige Möglichkeit."

Meine Mutter weinte. Jetzt veränderte sich ihr Körper erneut, anstatt in ihrem Bauch, lagen jetzt zwei winzige Babys in ihren Armen. Sie lächelte und sie weinte gleichzeitig.

Ich stand vor ihrem Bett und schrie sie an: „Wieso?", fragte ich. Und dann: „Wie? Wie kann man seien eigenen Kinder weggeben? Wie? Wie? Wie?"

„Es steht alles im Ordner!" Meine Mutter verschwand. Ich schrie. Ich brauchte diesen Ordner. Ich brauchte Antworten! Ich brauchte die verdammte Wahrheit!

„Luna!", jemand rüttelte an meiner Schulter.

Ich fuhr hoch, noch immer schreiend. Der Ordner. Ich brauchte ihn. Eine Hand packte mein Kinn zwangen meine Augen, in ein Paar grüner zu sehen.

„Jayden", murmelte ich: „Ich brauche den Ordner! Die Wahrheit. Ich muss die Wahrheit wissen!"

„Ich weiß." Jayden packte mich und drückte meinen Kopf an seine Brust. Anscheinend hatte er neben dem schmalen Bett gelegen, denn dort war eine Decke. Jetzt saß er allerdings an meinem Bettrand und strich mir beruhigend über den Rücken. Dieser war schweißnass. Genauso wie meine Haare, die an mir klebten. Zum Glück waren wir allein im Raum, denn hätten mich Mia und Ben in diesem Augenblick gefragt was los wäre, hätte ich nicht lügen können.

„Wo sind...?", fragte ich, noch immer an Jaydens Brust gedrückt.

„Ich habe darauf bestanden, bei dir im Zimmer zu schlafen. Eigentlich wollten Mia und Ben beide hierbleiben, nötigenfalls auch auf dem Boden, aber ich habe sie davon überzeugt, dass das überflüssig ist, da es noch ein zweites Schlafzimmer auf der anderen Seite des Flurs gibt. Mia wollte eigentlich hierbleiben, aber ich war...sehr unwirsch. Ich dachte mir schon, dass so etwas passieren würde und dass du nicht bereit wärst, dir in einem solchen Moment irgendwelche Erklärungen einfallen zu lassen."

Erleichtert atmete ich aus: „Danke.", flüsterte ich dann.

„Nicht dafür.", Jayden löste sich von mir, aber nur damit ich das leise Lächeln auf seinem Gesicht sehen konnte: „übrigens habe ich die Zwillinge mal gefragt, wann sie denn achtzehn werden."

„Und?", gespannt sah ich ihn an.

„Nach einer langen Diskussion darüber, welcher Tag überhaupt heute ist, haben wir festgestellt, dass in fünf Tagen achtzehn werden."
„Das gibs doch nicht.", zweifelnd sah ich Jayden an: „Das ist irgendwie...zu viel des Guten? Erst treffe ich die beiden zufällig in Hamburg und dann werden sie auch noch in fünf Tagen achtzehn. Das kann doch kein Zufall sein."

„Ich glaube auch nicht, dass es sich bei alledem um Zufall handelt." Jayden schüttelte den Kopf und stand auf. „Aber ich weiß, wie wir an mehr Informationen kommen." Er sah durch das Fenster, durch das noch keine Sonne ins Zimmer drang.

„Jetzt?", fragte ich.

„Wann denn sonst? Blondie und Rotschopf"

„Ben und Mia!", korrigierte ich und sah ihn genervt an während ich mich vom Bett erhob.

„Ja ja wie auch immer.", Jayden machte eine wegwerfende Handbewegung: „Die beiden schlafen jedenfalls noch und werden hoffentlich nicht aufwachen in den nächsten Stunden."

„Lass uns aber was zu essen mitnehmen." Ich zwang meine, vom Schlaf verstrubbelten, Haare in einen Zopf und wollte in meine Schuhe schlüpfen.

„Zieh die erst einmal noch nicht an.", befahl Jayden und nahm sein eigenes Paar in die Hand: „Dann sind wir leiser."

Wir nahmen uns ein wenig von dem Essen, dass wir uns eingepackt hatten auf die Hand mit und schlichen nach draußen. Es war stockduster auf der Terrasse. Es war so dunkel, dass ich kaum Jaydens Umrisse neben mir sehen konnte.

„Wir können bei dieser Dunkelheit doch nicht in den Wald gehen.", zweifelte Jayden an seinem eigenen Plan.

„Das müssen wir auch nicht. Wie du dich vielleicht erinnerst, habe ich den Ordner extra so versteckt, dass er von nichts zurückgehalten wird, sollte ich ihn zu mir rufen. Hast du mir denn nicht zugehört?"

„Doch doch...aber", ich musste schmunzeln, als Jayden begann rum zu stottern.

„Jetzt brauche ich aber einmal deine Hilfe", wies ich ihm an und schloss die Augen: „Bitte versuch dich noch einmal zu erinnern, wo der Ordner versteckt liegt und beschreibe mir dann den Weg dorthin."

Kurz schwieg Jayden und ich konnte es förmlich in seinem Kopf rattern hören: „Wir sind geradeaus gegangen", begann er dann und ich folgte seiner Stimme und ging den Weg in Gedanken noch einmal nach: „rechts neben uns stand der komisch verwinkelte Baum und wir mussten den gesamten Weg über aufpassen, dass wir die gelben, kleinen Blumen nicht zerstören. Dann sind wir ein wenig nach rechts abgebogen. Da war der Baumstamm, auf dem wir gesessen haben. Überall lagen Blätter zerstreut und unter denen hast du den Ordner auch versteckt. Ganz nah beim Baumstamm."

Tatsächlich gelang es mir, den Ordner in Gedanken zu ertasten. Ich zog ihn an einer Art unsichtbaren Schnur zu uns heran, die Lippen und Augen zusammengepresst. Mein ganzer Körper war angespannt. Ich konnte diesen Gegenstand nicht sehen, aber ich musste ihn um die vielen Bäume und Hindernisse entlanggeleiten. Er kam immer näher. Dong!

Alarmiert riss ich die Augen auf und sah nur noch den Umriss von Jaydens Körper zu Boden sinken. Niedergeschlagen von einem klobigen, fliegenden Ding.

„Oh mein Gott Jayden!", ich ließ mich auf die Kniee fallen und ertastete ihn neben mir: „Entschuldige!"

„Wirklich?", fragte Jayden und erleichtert stellte ich fest, dass er seiner Stimme den üblichen, genervten Klang verliehen hatte und sich auch schon wieder aufsetzte. „Schon wieder, Luna?", fragte er mürrisch und rieb sich vermutlichen den Kopf: „So langsam nehme ich es persönlich!"

„Hat er deinen Kopf getroffen?", fragte ich vorsichtig und ließ meine Hand seine Stirn langfahren.

„Mhhm", knurrte Jayden, aber sein Ton klang jetzt nicht mehr ganz so genervt wie noch vor ein paar Sekunden. Ein Sonnenstrahl erhellte sein Gesicht und wir blickten beide überrascht zum Himmel auf. Anscheinend stand die Sonne jetzt so hoch am Himmel, dass sich auch durch die dichten Bäume einige ihrer Strahlen stehlen konnten.

„Tut es doll weh?", mit schuldbewusst verzerrtem Gesicht drehte ich mich zu Jayden um, nur um festzustellen, dass er mich anlächelte.

„Alles gut bei dir?", fragte ich also verwirrt, aber anstatt einer Antwort überbrückte er die letzten Zentimeter zwischen uns und drückte mir einen federleichten Kuss auf den Mund.

„Ich schlag dich nieder und du küsst mich.", ich schüttelte verlegen den Kopf.

„Wieso hast du Jayden niedergeschlagen?", ertönte in diesem Moment eine Stimme hinter uns und wir fuhren herum. Hinter uns standen Mia und Ben.

„Also es ist nicht so, dass ich das nicht vollkommen nachvollziehen kann, aber ihr beiden scheint euch doch SEHR gut zu verstehen.", Mia zog die Augenbrauen hoch. Dann fiel ihr Blick auf den Ordner, der noch immer neben Jayden lag.

„Ah da ist er ja. Ich habe ganz vergessen zu fragen, wo er denn ist. Habt ihr ihn euch schon angeguckt? Warum hier draußen? Was steht darin? Darf ich mal?", bombardierte sie uns mit Fragen. Dabei lehnte sie sich rüber und schien sich den Ordner angeln zu wollen.

„NEIN!", rief ich, zog den Ordner an mich, sprang auf und ging ein paar Schritte von den Zwillingen weg.

„Was ist denn los?", Ben musterte mich besorgt, Mia bestürzt.

„Ihr dürft nicht wissen was darin ist. Jedenfalls jetzt noch nicht."

„Guter Witz.", Mia grinste und machte einen Schritt auf mich zu: „Aber jetzt gib ihn mal her!"

„Es geht nicht!", vor lauter Panik und Überforderung, traten mir mal wieder Tränen in die Augen.

„Aber...wieso? Was ist denn?", Mia wirkte vollkommen aus dem Konzept gebracht.

„Hier...hier steht etwas drin. Ihr dürft es erst erfahren, wenn ihr achtzehn seid." Ach du scheiße, hörte sich das lächerlich an.

„Ist es etwa nicht jugendfrei?", zwar lachte Mia, aber es klang eher bitter und konfus, als alles andere.

„Das ist es nicht. Ich garantiere euch, ich würde es nicht verheimlichen, wenn es eine andere Möglichkeit gebe."

„Wir haben uns bisher doch immer alles erzählt, auf dieser Reise.", jetzt wurden auch Mias Augen verräterisch wässrig: „Wir haben doch zusammengearbeitet. Wir sind doch ein Team!"

Ich biss mir auf die Lippe: „Das sind wir auch. Das sind wir auf jeden Fall..."

„Aber du vertraust uns nicht, oder was?", fuhr Mia jetzt auf. Die Jungen standen einfach nur daneben. Ben wirkte ebenfalls verletzte, aber in seinem Gesicht spiegelte sich noch etwas anderes wider. Eine Art...Verständnis? Genauer konnte ich diesen Ausdruck nicht definieren. Jayden dagegen schien angestrengt nachzudenken. Außerdem hatte er sich uns ein kleines bisschen genähert, für den Fall der Fälle, nahm ich an.

„Doch ich vertraue euch! Aber...", begann ich.

„Wieso erzählst du es uns nicht einfach?", flüsterte Mia.

„Weil ich es nicht kann. Weil die ganze Sache so viel mehr mit euch zu tun hat als du ahnst. Ich werde es euch erzählen. Fünf Tage, in fünf Tagen werde ich es euch erzählen."

„Dann musst du es uns doch recht erzählen. Und überhaupt, das macht das für einen Unterschied? Diese fünf Tage?"

„Es macht einen großen Unterschied. Glaub mir.", flüsterte ich genau so leise, wie sie.

„Und bis dahin sollen wir dir weiter blind vertrauen? Dir bei einer Sache helfen, bei der du uns wichtige Informationen verschweigst?"

„Ich verschweige euch keine Informationen Mia!"

„Du erzählst uns nichts. Das ist genau die Definition von verschweigen. Hast du es ihm erzählt?", Mia deutete auf Jayden.

„Er war dabei, als ich mir den Ordner angeguckt habe, ja."

„Vertraust du ihm mehr als uns?"

„Verdammt Mia! Das ist keine Frage des Vertrauens. Ich verschweige euch das ganze auch nicht, weil ich denke, dass ich euch so schützen kann. Ich vertraue euch nach all den Wochen, nach allem was passiert ist, mehr als ich den meisten Menschen vertraue. Es ist unfair zu behaupten, ich würde euch nicht vertrauen!"

„Du musst dir aber schon eingestehen, dass alles danach aussieht."

„Ich weiß! Ich weiß wie das gerade aussieht. Ich verspreche euch absolute Ehrlichkeit. In fünf Tagen. Wenn ihr achtzehn seid."

Mia sah mich durch ihre braunen Augen lange und durchdringend an. Ich hielt ihrem Blick stand. Nach ein paar Sekunden, es hätten auch Minuten sein können, so genau konnte ich das nicht sagen, senkte sie ihre Augen und murmelte: „Okay. Ich versuche dir zu vertrauen."

Erleichtert sackte ich ein wenig zusammen. Mir war gar nicht aufgefallen, dass ich meinen ganzen Körper vor lauter Anspannung versteift hatte. Dann suchte ich Bens Blick. Auch dieser nickte mir langsam zu und seine Mundwinkel umspielte sogar ein sanftes Lächeln.

„Danke!", flüsterte ich nur, da ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte.

Mia dagegen schon. Sie klatschte in die Hände und rief so laut, dass wir alle zusammenzuckten: „Dann lasst uns jetzt mal auf Schatzsuche gehen."

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