Die liebe Verwandtschaft

Als der Zug am Bahnhof in London ankam, standen mit mir alle anderen Gäste auf, denn dies war die Endstation.

Die Tür ging auf.

Dass es hier so voll sein würde, hätte ich nicht gedacht. Normalerweise, so ist es zumindest in Filmen immer dargestellt, holt man Luft, sobald man aus dem Zug aussteigt und genießt diese. Doch zum Luft holen blieb mir keine Zeit. Im Gegenteil. Ich war so sehr zwischen den Leuten eingequescht, dass zum Ausdehnen meines Brustkorbs vermutlich nicht genug Platz dagewesen wäre.

Die Menschen versuchten sich in den Zug zu quetschen, ohne Rücksicht auf die, die aussteigen wollten, zu nehmen. Und man sagte den Londonern ja immer nach, dass sie so höflich seien. Pah! Hier war der Gegenbeweis!

„Dürfte ich vielleicht erst einmal aussteigen?!", versuchte ich es, doch nicht einer drehte auch nur den Kopf in meine Richtung. Dann musste es anderes gehen: Ich streckte meine Ellbogen weit von meinem Körper weg und schlug sie den Leuten in den Bauch. Das geschah ihnen Recht.

Gut das ich keine Tasche dabei hatte. Die Frau da vorne hatte einen Kinderwagen und noch eine große Reisetasche. Die Arme.

Ich verließ die Bahnhofshalle und sah mich suchend um. Auch hier waren viele Menschen, doch es herrschte nicht ganz so ein Gedränge wie drinnen.

In diesem Moment sah ich auf der anderen Straßenseite ein Taxi anfahren und legte einen kurzen Sprint hin damit ich es noch rechtzeitig bekam. Definitiv hatte ich heute zu viel Sport gemacht.

Ich zwang mich durch die Tür auf die Rückbank und beantwortete die Frage des Taxifahrers: „Wohin soll es denn gehen?", mit: „334aOxfordstreet", woraufhin der Fahrer nickte und den Motor startete.

„Ähm", ich tippte dem Fahrer von hinten auf die Schultern woraufhin er erschrak und fragte: „Wie heißt diese Straße hier?"

„Oxfordstreet."

„Ohh dann sind wir ja schon da", rief ich erfreut.

„Denkste", nuschelte der Fahrer und grinste mich kurz durch den Rückspiegel an. „Verdammt lange Straße ist dies, weißte?"

„Okay."

„Warst wohl noch nicht oft in London, ne?"

„Doch, doch eigentlich habe ich hier früher gelebt", während ich diesen Satz sprach, wurde meine anfängliche Vermutung immer mehr bestätigt. Ich war mir beinahe sicher wem ich in der Nummer 334a begegnen würde.

„Mhh", grummelte der Taxifahrer und meinte: „Muss ja schon lang her sein. Wir sind da."

Die Straße, durch die wir eben fuhren, war voll bunter und großer Läden, sowie Menschen, welche sich in diese zwängten. Am Ende der Strecke war mein Taxifahrer aber in eine leicht abzweigende Seitengasse eingebogen. Auch hier waren noch kleine Läden, diese waren aber deutlich nicht so bunt und auffällig wie die Geschäfte gerade eben. Rasch bezahlte ich den Taxifahrer und stieg aus.

Trotz des einsetzenden Regens war auch dieser Teil der Straße gut besucht von unzähligen Menschen. Einige davon spannten jetzt ihren Regenschirm auf.

Schnell, um der Kälte und dem Regen zu entkommen, ging ich die Straße entlang auf der Suche nach der Nummer 334a.

Ein großes altes Steinhaus erstreckte sich vor mir und ich starrte es entzückt an. Es hatte nichts mit dem modernen Haus, in dem wir eine Wohnung hatten, gemein.

Die Tür war aus schwerem dunklem Holz gefertigt und statt mit einer Klingel, mit einem altmodischen, bronzefarbenen Türklopfer ausgestattet.

Einen Moment atmete ich tief durch und zögerte, bevor ich nach dem Klopfer griff und dreimal anklopfte.

„Jeff, hast du wieder deinen Schlüssel vergessen?", hörte ich eine genervt klingende Stimme und die Tür schwang quietschend auf und meine Großmutter trat hinaus.

Stockstarr blickte mich die hochgewachsene alte Frau an und schlug sich eine Hand vor den Mund.

„Hi", sagte ich, weil mir nichts anderes einfiel: „Würdest du mir die Güte erweisen und mich reinlassen? Ist verdammt nass hier draußen."

Ich blickte an ihr vorbei in die das Haus. Seit dreizehn Jahren war ich nicht mehr hier gewesen. Seit mein Vater und ich nach dem Tod meiner Mutter nach Hastings gezogen waren.

Doch meine Großmutter bewegte sich nicht und ich traute mich nicht einfach reinzugehen.

„Was...was...", oh sie hatte eine Stimme: „Was zur Hölle machst du denn hier Luna? Verdammt, hat dein Vater das erlaubt?"

Eine herzliche Begrüßung. „Ja...", sagte ich vorsichtig. „Ich...wollte...dich", cool bleiben Luna, sagte ich mir: „Ich wollte dich mal wieder besuchen! Wir haben uns ja nicht mehr gesehen seit...na du weißt schon. Ich bin erstaunt, dass du mich überhaupt wiedererkannt hast."

Ich hätte schwören können, ein leichtes Zucken in ihrem faltigen Gesicht zu erkennen, doch ihre Stimme war eiskalt: „Ich kann dich aber gerade nicht gebrauchen. Und ich frage dich noch einmal: Weiß dein Vater, dass du hier bist??"

Was sollte das denn? Sprach man so mit seiner Enkelin: „Nein, nein natürlich weiß er es nicht und wenn du es genau wissen möchtest: ich weiß nicht mal, warum ich hier bin, aber sich nicht wegen DIR!", kam das jetzt ein bisschen heftig rüber? Egal. Was konnte sie schon machen? Mich wegschicken?

Aber was sie in diesem Moment machte überraschte mich mehr als jeder Wutausbruch: Sie kam auf mich zu und UMARMTE mich. Ja wirklich, meine Großmutter drückte mich ganz fest an sich.

Merkwürdige Frau.

„Darf ich jetzt reinkommen?" Ich drückte mich, ohne eine Antwort abzuwarten an ihr vorbei.

„NEIN!", schrie meine Großmutter (oh Gott die hat ja echt Stimmungsschwankungen, doch ich war schon eingetreten.

„Wow", ich pfiff durch die Zähne und sah mich im großen Raum um. Die Wände waren ungeschmückt und aus Stein und ein riesiger Kamin stand an der Wand vor mir.

Auf dem Boden war ein breiter, dunkelroter Teppich ausgebreitet, den ich gerade mit meinen nassen Sachen voll tropfte.

„Geh sofort wieder raus, Luna. Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät", den ersten Satz sagte sie mit lauter und überdeutlicher Stimme. Den zweiten murmelte meine Großmutter vor sich hin.

„Aber...aber... wieso? Du kannst mich doch nicht einfach im Regen stehen lassen! Und findest du das hier nicht ein wenig...überdramatisch? Also, was du hier abziehst?"

„Dein Vater weiß nicht, dass du hier bist und ich werde deinen kleinen London Trip ganz sicher nicht unterstützen."

„Was habe ich dir getan? Warum bist du so...so fies?", ich biss mir auf die Unterlippe, da mein Kiefer zu schmerzen begann, was ein sicheres Anzeichen dafür war, das ich gleich losheulen würde. „Früher warst du nicht so?" Glaubte ich. Ich konnte mich natürlich nicht mehr erinnern, da ich drei war, als wir hier weggezogen sind.

Aber es wirkte. Einen Augenblick wurde das Gesicht meiner Großmutter weich, doch dann sagte sie mit noch härterer Miene als zuvor: „Früher hättest du dir so eine Aktion auch nicht erlaubt. Ist es so schwer anzurufen und zu sagen: Hey ich möchte dich mal wieder besuchen?" Es wirkte FAST.

„Ja das ist es. Ich habe nämlich nicht einmal deine Telefonnummer.

„Ich werde mich nicht auf deine kindischen Spielchen einlassen!"

Abermals ich versucht, sie noch mehr zu provozieren, indem ich sie fragte, von welchen "Spielchen" sie sprach. Aber das würde mir auch nicht so viel bringen.

„Ich werde nicht gehen.", sagte ich stattdessen.

"Ich bin hier, möchte wissen was hier vor sich geht und ich werde nicht gehen. Schon aus Prinzip!", ich redete mich wie so oft in Rage und meine Stimme war wohl ein paar Oktaven höher geworden, denn in diesem Moment flog die Tür hinter mir auf und ein Mann mit grauem Stoppelbart und Glatze trat wütend ein, und ich taumelte vor Schreck ein wenig zurück.

„Was zum Teufel ist hier los Anne?", fragte er knurrend.

Autsch, ich verstand die Antwort meiner Großmutter nur undeutlich, da ich auf einmal einen heftigen Bauchkrampf bekam. Schnappend versuchte ich ein zu atmen, doch es wollte nicht funktionieren.

Dann traf der Blick des Mannes meinen und ich schaute in die kältesten grauen Augen, die ich je gesehen hatte. Eine leichte Gänsehaut überzog mich.

„Was macht sie hier?", zischte er und deutete auf mich.

„Wieso?", fragte ich und meine Stimme klang erstaunlich schwach, da ich noch immer gegen furchtbare Bauchschmerzen zu kämpfen hatte.

„Geht dich nichts an", zischte der Mann noch einmal.

Meine Großmutter sagte: „Hör mal John, sie ist hier."

„Muss ich dir die Situation noch einmal erklären, Anne? Muss ich dir nochmal sagen was ich von diesem Familienzusammentreffen halte?!"

„Ich weiß das doch alles..."

„Dann kennst du auch die Umstände."

„Grandma...", das erste Mal, dass ich meine Großmutter so ansprach und sie drehte sich erstaunt um.

Krach. Die Eingangstür ging wieder auf und ein Mann um die 40 mit dunkelbraunem Haar stellte seinen Rucksack auf dem Tisch ab.

Dann drehte er sich um, entdeckte uns alle versammelt, und sprang freudig auf mich zu, bevor er mich an sich riss und einmal rumschwenkte. Nicht gerade förderlich für meinen Bauch.

„Luna!", rief er und ich war ehrlich erfreut, dass wenigstens einer von meinem Spontanbesuch begeistert war.

„Onkel Jeff", schrie ich freudig und vergaß meine Bauchschmerzen für einen Moment.

Jeff war der ältere Bruder meiner Mutter. Ich erinnerte mich kaum noch an ihn, denn nachdem meine Mutter gestorben war, ist Dad sofort mit mir nach Hastings gezogen und wir hatten weder Kontakt zu meiner Großmutter noch zu meinem Onkel.

Was machst du hier?"

„Ich...", verdammt meine Bauchkrämpfe wurden immer schlimmer. Ich krümmte mich nach vorne und fiel auf die Knie.

„Luna?", hörte ich die besorgte Stimme meiner Großmutter.

„Hast du Schmerzen?", Onkel Jeff kniete sich neben mich.

„Ich bring sie in das Gästezimmer", ich wurde von zwei Armen angehoben und spürte, wie ich eine Minute später auf ein Bett gelegt wurde.

„Geht's wieder?", ich spürte eine Hand an meiner Stirn. „Hast du Fieber?", fragte mich mein Onkel, der mich wohl hergetragen hatte.

„Weiß ich nicht...", brachte ich nur hervor.

„Was war denn gerade los?"

„Bauchschmerzen...", murmelte ich und tastete vorsichtig mit meiner Hand nach meinem Bauch. Inzwischen hatten sich meine Schmerzen wieder ein wenig gelegt.

„Hast du das öfters?", erkundigte sich mein Onkel und ich schüttelte den Kopf.

„Sollen wir vielleicht zu einem Arzt fahren? Oder im Krankenhaus vorbeischauen?"

Kurz dachte ich nach. "Nein so schlimm ist es nicht. Ich bekomme sicher nur meine Periode oder so...", nuschelte ich obwohl ich es eigentlich besser wusste. Natürlich hatte ich jedes Mal, wenn ich meine Tage bekam Schmerzen, aber irgendwie waren diese hier anders.

„Ja vielleicht", sagte mein Onkel und betrachtete mich kurz. „Ich spreche mit meiner Mutter und lege ein gutes Wort dafür ein, dass du ein paar Tage hierbleiben darfst."

„Okay.", sagte ich. „Ich weiß, dass es ziemlich dämlich von mir war, hier einfach so aufzutauchen aber..." Ich beendete meinen Satz nicht. Was hätte ich auch sagen können? Ich hörte darauf, wenn mir irgendein Typ, den ich nicht einmal kenne, komische Nachrichten schrieb, mich anrief und diese Adresse hier nennt.

Als mein Onkel schwieg, wagte ich, ihn etwas zu fragen: „Du, Onkel Jeff. Warum war deine Mutter" (die Worte "meine Großmutter" kamen mir nach ihrem Verhalten eben nur sehr schwer über die Lippen) „so abweisend? Ich finde es ja verständlich, dass sie überrascht, und vielleicht nicht so ganz erfreut, über mein Kommen war. Aber..., dass eben das...naja es wirkte ein wenig so als würde sie mich wirklich HASSEN. Aber irgendwie auch nicht. Ist zwischen meinem Vater und ihr vielleicht irgendwas vorgefallen? Gab es einen Streit oder so?"

Kurz stockte Jeff bevor er langsam antwortete: „Ich glaube, ich bin nicht der Richtige, um mit dir darüber zu sprechen. Ich kann dir aber sagen, dass deine Großmutter dich nicht hasst. Sie ist einfach kein besonders...spontaner Mensch und war vermutlich einfach ein wenig...überrascht?", es klang eher wie eine Frage als eine beruhigende Antwort.

„Überrascht??? Sie wirkte eher stinkwütend! Und worüber solltest du mit mir nicht sprechen? Bitte, ich will es wissen!"

„Bitte bedräng mich nicht weiter, ich darf dir nichts sagen Luna!"Jeff wirkte ein wenig verzweifelt und ich seufzte genervt auf.

„Dann sag mir doch wenigstens, wer dieser andere im Flur war."

„Sein Name ist John McCarter und er ist schon vor 12 Jahren in die Wohnung im Erdgeschoss eingezogen. Anne und ich wohnen im ersten Stock, in eurer alten Wohnung."

Mein Onkel und lächelte. „Geht es dir denn jetzt wieder besser?"

Ich nickte nur, ja meine Bauchschmerzen waren tatsächlich fast komplett verschwunden, und stellte dann noch eine Frage: "Wo arbeitest du eigentlich?"

„Bei der Bank. Hab mich hochgearbeitet, darf jetzt die Kundengespräche führen." Onkel Jeff grinste.

„Und warum hat deine Frau dich verlassen?", die Wangen meines Onkels färbten sich ganz leicht rosa als er murmelte: „Haben nicht zusammengepasst. Wie läuft es denn bei dir so? Ich hab dich ja nicht mehr gesehen seid du drei warst. Und damals warst du ein kleines pummeliges Kind mit Hasenzähnen."

„Pah. Ich hatte keine Hasenzähne."

„Ne. Du HAST noch welche."

„Hey!" Ich warf ein Kissen nach meinem Onkel es aus der Luft fing und zurückwarf.

„Jetzt erzähl mal... wie läuft es bei dir? Geht's dir gut?"

„Mhh."

„Aufschlussreiche Antwort. Hör mal, ich geh jetzt in die Küche und bearbeite meine Mutter, damit du wenigstens ein paar Tage bleiben kannst. Hast du morgen Schule?"

„Morgen ist Samstag."

„O ja, stimmt.", er fasste sich an die Stirn: „Dein Onkel wird so langsam vergesslich, Luna. Bleib einfach noch ein wenig liegen."

Nachdem mein Onkel die Tür hinter sich zugezogen hatte, schloss ich die Augen und versuchte ein wenig zu schlafen, um meine Bauchschmerzen loszuwerden.

„Luna.", meine Grandma streckte den Kopf ins Zimmer. "Hör mal, ich habe mit deinem Vater telefoniert und wir haben uns darauf geeinigt, dass du bis morgen hierbleiben darfst, weil er dich heute noch nicht abholen kann. Er ist aber ziemlich sauer, ich glaub ihr habt noch einiges zu besprechen."

„Apropros besprechen ich habe da ein paar Fragen an dich..."

„Du hast ja noch ganz nasse Haare...", unterbrach sie mich.

„Woher wohl...", murmelte ich.

„Geh dich föhnen! Das Bad ist nebenan und der Föhn liegt unterm Waschbecken. Ich lege dir ein paar Kleidungsstücke raus." Meine Großmutter klang wie eine Geschäftsfrau bei der Arbeit und nicht wie eine Frau, die mit ihrer Enkelin redet.

„In 30 Minuten gibt es Essen. Geh dich jetzt föhnen."

Bevor ich noch etwas sagen konnte, war sie aus dem Zimmer verschwunden.

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