Die drei Kinder
Kapitel 29: Die drei Kinder
„Puhh", sagte ich und löste mich von Jayden, allerdings nur, um ihn anzugrinsen: „Ich hätte nicht gedacht, dass du Gefühle besitzt. Und sogar noch darüber sprechen kannst!"
Anstatt sauer zu werden, zog Jayden nur die Mundwinkel und Augenbrauen hoch: „Ich habe halt mehr Talente, als du dir vorstellen kannst."
Ich stieß ihm nur spielerisch gegen die Schulter, aber als Jayden sich wieder zu mir hinüberbeugte, drehte ich mich weg, um den Ordner wieder aufzuheben und mich auf den Baumstamm niederzulassen.
„Hey!", beschwerte sich Jayden und ließ sich auf den Baumstamm sinken. Vielleicht waren seine Knie ja genauso weich wie meine, sodass er nicht länger stehen konnte? Das bezweifelte ich ehrlich gesagt. Aber nach dem, was er eben zu mir gesagt hatte...mein Herz hopste einmal kurz in meiner Brust, etwas, dass mir völlig neu war, aber es war ein verdammt schönes Gefühl.
Ich schüttelte einmal kurz meinen Kopf, wie um die Gedanken der letzten Minuten daraus ausschütteln zu können. Egal was zwischen Jayden und mir war, es änderte nichts an der Tatsache, dass mein Vater just in diesem Moment von einem verrückten Irren festgehalten wurde und wir alles daran setzen mussten, an die Seiten zu kommen. Der erste Anhaltspunkt hierfür war der Ordner, den ich jetzt aufschlug. Mein Atem stockte, als ich die erste Seite sah, die mit derselben feinen Handschrift beschrieben war, wie das Gedicht, welches im Globus gesteckt hatte. Jaydens warmer Atem, der mir in den blies, verriet mir, dass er sich über meine Schulter beugte, um ebenfalls mit in den Ordner zu linsen.
Wenn du das hier liest, musst du dazu bereit sein, Luna. Ich habe den Ordner nicht ohne Grund in Island aufbewahrt, in Island und nicht in England. Du wirst durch diesen Ordner an deine Grenzen stoßen und ich hasse mich dafür, ihn dir geben zu müssen, aber ich weiß, dass du damit umgehen kannst.
Wir spielen ein Spiel, in dem es nicht nur gut und böse gibt. Wir spielen hier ein Spiel, in welchem das Gute nicht unbedingt gut für einen selbst ist. Es ist letztendlich deine Entscheidung, für was du einstehen möchtest. Es ist nicht meine Pflicht, dich davon zu überzeugen, was richtig ist, es ist meine Pflicht, dir dabei zu helfen, zu erkennen, was für DICH richtig ist. Und manchmal ist das, was für dich richtig ist, falsch für andere. Manchmal gibt es kein Richtig und kein Falsch. Nur weil ich mich dazu entschlossen habe, die Geheimnisse, die schon seit Jahren in dieser Familie bestehen, aufzudecken, musst du nicht das Gleiche tun. Aber wenn du dies hier liest, dann hast du dich vermutlich schon längst entschieden. Du liest dir jetzt am besten die Informationen durch, die ich in den letzten Jahren gesammelt habe und entscheidest dann bitte ganz für dich selbst, was für dich Richtig ist.
Und bitte vergiss nie, dass ich dich immer lieben werde.
Fiona Millow
Ich atmete einmal tief durch und versuchte mich nicht aus der Fassung bringen zu lassen. So etwas ähnliches hatte ich schon erwartet, ich wusste schließlich schon, dass meine Mutter diesen Ordner zusammengestellt hatte. Aber ihre Handschrift brachte mich doch mal wieder aus dem Konzept. Das ist schon immer so gewesen. Schon früher, wenn ich ein Foto von meiner Mutter in irgendeiner Kiste gefunden habe, hatte ich das Gefühl, ich müsste diese Frau kennen, die da fotografiert war.
Vor elf Jahren, da war ich fünf, habe ich mir mit meinem Vater zusammen ein Fotoalbum angesehen. Mein Vater blätterte die Seiten um, daran konnte ich mich ganz genau erinnern, weil ich gerade einen riesigen Schokoladenriegel aß und meine Finger mit diesem dunklen, klebrigen und sehr leckeren Zeugs überzogen waren. Jedenfalls war auf einer der Seiten im Fotobuch eine Frau mit dunklen Haaren und einem strahlenden Lächeln, die mich im Arm hielt. Ich musste bei der Aufnahme des Fotos, circa zwei Jahre alt gewesen sein. Als ich dieses Foto gesehen habe, drehte ich mich erschrocken zu meinem Vater um und fragte, wieso mich denn eine fremde Frau auf dem Arm halte. An die großen Augen, die er in diesem Moment gemacht hat und die sich mit Tränen gefüllt haben, konnte ich mich noch ganz genau erinnern.
„Das ist deine Mama, Luna.", erklärte er mir.
„Aber ich habe keine Mama, Papa.", meinte ich. Mein Vater hat das Fotobuch zugeklappt und sich über die Augen gewischt. Abends habe ich dann mitbekommen, wie er sich leise mit einem seiner Freunde am Küchentisch unterhalten hat. Eigentlich hätte ich zu diesem Zeitpunkt schon im Bett sein müssen, aber ich kam noch einmal in die Küche, da ich nicht schlafen konnte und als ich hörte, dass mein Vater meinen Namen nannte, kauerte ich mich hinter einem Schrank zusammen, bevor die beiden mich hören konnten.
„Weißt du, Lerry", hat Papa gesagt: „Luna weiß nichts über ihre Mutter. Sie weiß noch nicht einmal, dass sie eine Mutter hatte."
„Natürlich. Sie erinnert sich nicht an sie. Fiona starb, da war Luna drei."
„Aber es kann doch nicht sein, dass sie nichts von ihr weiß. Es ist nicht fair. Es ist nicht fair.", hatte mein Vater gesagt und ihm war eine Träne über die Wange gerollt. „Fiona war die großartigste Frau, die jemals in dieser Welt gelebt hat. Wieso waren mir so viele Jahre mit ihr vergönnt und Luna kann sich nicht einmal an sie erinnern?"
„Vielleicht ist das ja gut so. Guck dir nur mal an, wie sehr du gelitten hast, wie sehr du immer noch leidest. Möchtest du wirklich, dass deine Tochter genauso leidet?"
„Ich möchte, dass sie sich an ihre Mutter erinnern kann. Dass sie weiß, dass sie eine Mutter hatte.", flüsterte Papa.
„Du verdrängst Fiona seit ihrem Tod aus deinem Leben. Das ist völlig verständlich, weil du es sonst vermutlich nicht aushalten würdest, aber in dieser Wohnung hängt kein einziges Bild von ihr. Woher soll Luna denn wissen, dass sie eine Mutter hatte, wenn diese komplett aus ihrem Leben verdrängt wird?"
Seit diesem Moment, diesem Gespräch, hing ein Bild von meiner Mutter an der Wand. Nur ein einziges, das Bild, dass ich schon im Fotoalbum gesehen hatte. Aber Dad stellte sich regelmäßig mit mir davor und erzählte mir etwas über meine Mutter. Seit Jahren. Er meinte, ich kann mich zwar nicht an sie erinnern, aber ich kann zumindest etwas über meine Mutter wissen, denn sie hat schließlich existiert.
Deswegen ist auch dieser Brief etwas Besonderes für mich. Dieser Brief ist nicht nur ein Beweis dafür, dass meine Mutter am Leben war, er ist FÜR mich geschrieben. Zwar werde ich meine Mutter niemals kennenlernen und so wie sie wirklich war, war sie vermutlich eine ganz andere Person als die Mutter, die ich mir in meinem Kopf vorstellte, deshalb würde die wirkliche Fiona für mich wohl immer eine Fremde bleiben, aber dieser Brief bewies, dass ich zumindest keine Fremde für sie war. Ich war, nein ich bin ihre Tochter.
„Was ist los?", Jayden sah mich zwischen zusammengezogenen Augenbrauen von der Seite aus merkwürdig an und riss mich somit aus meinen Gedanken.
„Alles gut.", sagte ich hastig und blätterte den Ordner um.
„Ist das ein bisschen viel?", fragte mich Jayden leise.
„Wie kommst du drauf?", murmelte ich. „Lass uns einfach weiterlesen."
Ich spürte wie sich Jayden neben mir ein wenig versteifte. „Sorry", nuschelte ich also und sah ihn an. „Aber das ist ein wenig merkwürdig alles und ich möchte jetzt wirklich wissen, was hier drinsteht. Ich wollte dich nicht anpampen."
„Ist ja nicht so, dass du mich sonst nicht ‚anpammpst' ", meinte er belustigt.
Empört zog ich die Luft ein. „Du bist jetzt aber auch kein Kind von Traurigkeit, mein Lieber!"
„Wohl nicht.", Jayden lachte ein wenig. „Lass uns jetzt aber wirklich mal weiterlesen, bevor wir uns wieder so sehr streiten, dass wir es vergessen."
Ich musste auch kurz grinsen. Dann richtete ich meinen Blick wieder auf den Ordner. Die Schrift auf dieser Seite war eine andere als die meiner Mutter. Vermutlich hatte sie bei ihrer Informationssuche auch verschiedene Dokumente an sich genommen.
Die Familie Millow
Thesen und Behauptungen sind gänzlich einwandfrei bewiesen durch John McCarter.
Ich schnappte hörbar nach Luft. John McCarter. Das war der Typ mit den gruseligen grauen Augen, der im Haus meiner Großmutter lebte. Lebte er nur dort, um Forschungen über unsere Familie anzustellen? Wussten Grandma und Onkel Jeff darüber Bescheid? Ich richtete meine Augen wieder auf das Blatt:
Diese höchst sonderbare und zweifelsohne mit Magie gesegnete Familie, hat keine Ahnung in welcher Gefahr sie sich befindet. Diese Gefahr geht nicht etwa von außen aus, nein, die Gefahr rührt von der Mitte heher. Das Innere dieser Familie wird sich langsam nach außen durchfressen und all diejenigen zerstören, die sich ihr den Weg stellen, auch denen die es nicht tun, kann niemals Sicherheit garantiert werden, sollte die Gefahr nicht in den Griff bekommen werden. Dies ist die wahre Geschichte der Familie der Spiegel.
Vor langer, langer Zeit lebte ein Mann. Christopher Millow. Er war bettelarm, so arm, dass er weder sich selbst durchbringen konnte, noch die Frau, die er liebte und die ein Kind von ihm erwartete. Das Problem war, dass Rowan körperliche Arbeit nicht lag. Nicht, weil er faul war, sondern weil er einen verkrüppelten Fuß und eine schwache Lunge besaß. Er konnte somit keiner anstrengenden Arbeit nachgehen und im Besitz der, für eine geistige Arbeit erforderlichen, Bildung, war er ebenfalls nicht. Christopher und seine Frau, Rose, standen damals beide knapp vor dem Hungertod. Schließlich wurde er von einem adeligen Grundbesitzer, dem Herzog, zu sich gerufen, was ihn erstaunte, da er eigentlich nie für eine Arbeit bei ihm infrage gekommen ist.
Der Herzog war in der damaligen Zeit ein Mann, der für seine wissenschaftliche Arbeit berühmt war. Allerdings war er nicht beliebt. Den Gerüchten nach soll er keine Scheu vor dem Gebrauch von Menschen für seine Experimente gehabt haben. Und bei seinen Experimenten war Magie im Spiel, so sagte man.
Christopher Millow war also nicht nur verwundert, als ihn der Herzog rief, sondern auch verängstigt. Allerdings waren er und seine Frau inzwischen so verzweifelt und hatten nicht nur Angst um ihre, sondern auch um das Leben ihres ungeborenen Kindes, dass Christopher selbst den furchterregenden Herzog aufsuchte, da die Möglichkeit bestand, er könne ihm ein Angebot unterbreiten. Tatsächlich tat der Herzog das. Er unterbreitete ihm sogar ein sehr gutes Angebot. Er meinte, er würde alle Schulden seines Untertanen begleichen und dafür sorgen, dass er und seine Familie nie wieder würden hungern müssen.
Dieses Angebot hatte aber seinen Preis. Der Preis war Roses Körper, besser gesagt, das Kind in ihrem Bauch. Christophers Frau musste einen Trank einnehmen, so lautete die Bedingung. Außerdem sollten die beiden in eine Hütte, nahe beim großen Gutshaus des Herzogs, ziehen und zulassen, dass dieser sowohl Experimente an Rose wie auch am Kind durchführen durfte. In ihrer Verzweiflung versprachen Rowan und seine Gemahlin dem Herzog alles, was er wolle. Dieser hielt dann sein Versprechen und rettete das junge Ehepaar.
Ein paar Wochen später gebar Rose nicht nur ein Kind, sondern zwei. Sie tauften die beiden Clarissa und Mathew. Sie liebten die Beiden über alles, konnten aber nicht übersehen, dass in Clarissas Augen etwas Merkwürdiges lag. Etwas Böses. Etwas, dass weder Rose und ihr Mann in Worte fassen konnte.
Der Herzog tauchte auch regelmäßig auf. Allerdings führte er keine weiteren Experimente an Rose und ihren Kindern durch, sondern beobachtete sie nur stundenlang und machte sich Notizen. Ein Jahr später wurde Rose wieder schwanger und gebar erneut einen Jungen, den sie Will nannte. Will war viel zarter geraten als seine Geschwister und seine Eltern sorgten sich beinahe jeden Tag um ihn, da er auch, nachdem ein halbes Jahr vergangen war, kaum an Größe und Gewicht dazugewonnen hatte.
Eines Nachts schlief Will ein, während seine Mutter an seinem Bett saß, da er stundenlang zum Einschlafen gebraucht hatte und einfach nicht aufgehört hatte zu schreien. In dieser Nacht starb Will. Er starb aber nicht wegen seiner mangelnden Größe oder seinem leichten Untergewicht. Er starb, weil er umgebracht wurde. Er wurde mit bloßen Händen erwürgt und das von niemand geringerem als seiner dreijährigen Schwester, Clarissa.
Als die Sonne am nächsten Morgen aufging, waren Christopher und Rose fassungslos, als sie den toten Körper ihres Kindes auffanden. Sie wussten aber nicht, dass die Person, die für seinen Tod verantwortlich war, noch seelenruhig im Nebenzimmer schlief. Aber der Herzog wusste es. Denn er stand nur ein paar Minuten nach Sonnenaufgang vor der Tür des Ehepaar Millows und nahm den toten Körper von Will mit. Rose und Christopher konnten nicht dagegen tun, denn sie hatten ihm die Körper ihrer Familie schließlich überlassen. Rose ahnte schon damals, dass der plötzliche Tod ihres Kindes etwas mit dem merkwürdigen Trank des Herzogs zu tun gehabt haben musste, aber sie wagte es nie, diesen Gedanken gegenüber ihrem Mann zu erwähnen. Genauso wie Will niemals wieder erwähnt wurde.
Als Mathew und Clarissa erwachsen wurden, entdeckte Clarissa, dass sie magische Fähigkeiten besaß. Allerdings setzte sie diese nicht ein, um ihrer Familie zu helfen, sondern...
Die nächsten Seiten gaben noch einmal die Geschichte wieder, die uns die Mutter der Zwillinge schon erzählt hatte, weshalb ich weiter blätterte und die Absätze mit den Augen kurz überflog, bis ich auf etwas Neues stieß, etwas das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ:
Mathew und Clarissa hatten zum Zeitpunkt ihres Todes, beide eine Familie. Beide hatten zwei Kinder. Und beide hatten einmal drei Kinder, doch jedes ihrer Kinder starb im Alter von einem halben Jahr. Jedes ihrer Kinder war schwach und klein. Beide Kinder wurden erwürgt und niemand wusste, niemand wollte wissen, wer sie erwürgt hat. Aber zum Zeitpunkt ihres Todes, waren immer nur ihre Geschwister in ihrer Nähe.
Mathew und Clarissa bekamen übrigens auch beide Zwillinge. Der einzige Unterschied zwischen ihren Familien war, dass bei Mathew eines seiner Zwillingskinder starb, das jüngste seiner drei Kinder und auch bei Clarissa starb ihr jüngstes Kind, aber dieses hatte keinen Zwilling.
Dies führte sich fort. Fast jedes Kind der Millows, welche über die gesamten fünf Jahrhunderte Kinder bekam, bekam drei Stück, zwei davon Zwillinge, eines der Kinder starb immer. Und immer brachte eines der Kinder das andere um.
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