Kapitel 31: Der Wald
„Das darf nicht wahr sein!" Jayden schlug sich eine Hand vor den Mund. „Das kann nicht wahr sein!"
„Hier steht", sagte ich zitternd: „die Zwillinge dürfen nichts vom Fluch und ihrer Herkunft erfahren, wenn sie noch nicht achtzehn sind." Ich hatte wieder eine Seite zurückgeblättert.
„Bedeutet das...das alles..., dass wir..." Mit großen Augen starrte ich Jayden an, nicht mehr dazu in der Lage, noch einen vernünftigen Satz herauszubringen.
„Es passt alles.", flüsterte Jayden und legte seinen Arm um mich.
„Die ganze Zeit...ich wusste nicht...meine Mutter..." Ich schlug mir einmal kräftig gegen den Kopf, um mein Sprachvermögen wiederherzustellen.
„Sie muss die Beiden weggegeben haben."
„Nein. Nein. Nein!", etwas anderes konnte ich anscheinend nicht mehr sagen.
„Ich weiß es doch auch nicht. Denkst du, dass du in der Lage bist, weiter zu lesen? Vielleicht erfahren wir dann, was wahr ist."
Ich nickte einfach nur und Jayden blätterte den Ordner wieder um. Die nächste Seite wurde wieder von der feinen, schrägen Handschrift meiner Mutter überzogen.
Als ich acht Jahre alt war, Jeff war ein paar Jahre älter, kam dieser Mann vorbei. Er hatte graue Augen, die mir die Nackenhaare zu Berge stehen ließen. Er hat mit meiner Mutter gesprochen. Zwei Stunden lang haben sie sich im Wohnzimmer unterhalten. Als die Beiden wieder hinauskamen, hatte meine Mutter rote, geschwollene Augen und hat erst Jeff, dann mich ins Wohnzimmer gerufen. Der Mann, sein Name war John McCarter, hat mir die Geschichte des Herzogs erzählt. Er hat mir erzählt, dass die weibliche Linie in unserer Familie danach immer drei Kinder geboren hat und dass alle verflucht waren.
Ich habe erst einmal nicht richtig verstanden, was das bedeutete. Ich habe nicht verstanden, was McCarter mir erzählen wollte. Dann hat sich meine Mutter vor das Sofa gehockt, auf dem ich gesessen habe und erklärt: „Wir sind verflucht, Fiona. Du kannst dich nicht daran erinnern, aber du hattest eine Schwester. Eine Schwester, die am gleichen Tag geboren wurde, wie du. Sie hat nicht lange überlebt. Nur neun Monate."
„Aber wieso?"
In diesem Moment hat meine Mutter einen Blick mit McCarter gewechselt. Sie hatte wieder diese Tränen in den Augen, die ich vorher noch nie bei ihr gesehen hatte und schüttelte verzweifelt den Kopf. „Es reicht, dass wir dem Jungen die Wahrheit gesagt haben, Mr. Sie ist zu jung, es würde sie zerstören."
„Sie ist doch schon längst zerstört Mrs. Millow. Wir müssen herausfinden, wer es von den Beiden war, wer es IST!"
„Sie ist zu jung."
„Ich weiß.", hatte McCarter traurig erwidert: „Sie sind alle zu jung."
Dann haben sie es mir erzählt. Sie haben mir schonungslos erzählt, dass ich entweder meine Zwillingsschwester getötet habe, als ich neun Monate alt war, oder dass Jeff sie umgebracht hat.
Denn das ist das Problem mit dem Teufelskind. Niemand weiß, wer es ist. Außer ihm selbst. Aber dazu kommen wir später. Erst einmal muss ich erklären, warum passiert ist, was passiert ist:
Als ich Jahre später erfahren habe, dass ich schwanger war, war ich überglücklich. Wir haben uns unglaublich doll auf dieses Kind gefreut. Aber ich meiner Mutter von meiner Schwangerschaft erzählte, hat sie getobt. Sie fragte mich, ob ich denn überhaupt nichts verstanden hätte, ob ich denn überhaupt nicht wisse, in welcher Gefahr meine Kinder schweben würden, wenn ich welche bekäme. Ich war genauso wütend wie sie und erklärte ihr, dass sie die Gefahr schließlich auch in Kauf genommen hat und dass sie kein Recht hätte, mir irgendetwas zu verbieten, was sie selbst getan hatte. Sie hielt dagegen in dem sie mich anschrie und brüllte, sie hätte damals doch nichts vom Fluch gewusst. Aber ich wusste es. Und ich hatte verantwortungslos gehandelt. Zu diesem Zeitpunkt, hatte ich schon eine der Seiten gefunden und meine Mutter meinte, würde ich wollen, dass der Fluch mich nicht betrifft, dann würde ich schleunigst auch die anderen Seiten finden müssen. Allerdings versuchte ich dies schon seit Jahren und ER war immer vor mir an den Orten, an denen die Seiten versteckt lagen. ER musste mindestens zwei Seiten besitzen, dass wusste ich. Und ich wusste auch, dass dies meine einzige Möglichkeit war, diese Seiten waren meine einzige Möglichkeit den Fluch zu brechen. Deshalb habe ich ihn gesucht. Ich habe jede freie Minute daran gearbeitet, diese Seiten zu bekommen, denn ich hatte unfassbare Angst, dass meine Kinder mit derselben Last würden aufwachsen müssen. Würden sie überhaupt aufwachsen. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich schon, dass ich nicht nur ein Kind, sondern zwei Kinder bekommen würde...
„Luna?!", kam es in diesem Moment von irgendwo aus dem Wald und ich hob erschrocken meinen Kopf: „Jayden?! Wo seid ihr?" Das war ganz eindeutig Mia. Mia, meine...
Erschrocken sah ich Jayden an und sprang im gleichen Moment wie er vom Baumstamm runter. „Sie dürfen es nicht erfahren!", erklärte ich leise. Dabei sah ich mich nach einem Ort um, an dem wir den Ordner verstecken konnten.
„Gib her.", Jayden nahm mir den Ordner aus der Hand und begann ein Loch im Boden zu graben.
„Das ist nicht so schlau.", sagte ich hastig, während die Stimmen von Mia und Ben, die nach uns riefen, immer näherkamen: „Am besten wir verstecken ihn nur unter ein paar Blättern, dann kann ich ihn einfach wieder zu uns rufen."
Jetzt war ich diejenige, die Jayden den Ordner aus der Hand nahm, ihn ganz eng am umgekippten Baumstamm postierte und dann mit Blättern bedeckte. Natürlich nicht, ohne vorher noch schnell die dritte Seite aus dem Ordner herauszunehmen und in meiner Hosentasche zu verstauen.
„Warte mal kurz...", Jayden hatte die Stirn gerunzelt, als ich mich wieder zu ihm umdrehte und es schien, als würde ihm so langsam etwas dämmern. „Wenn sie es erfahren...wenn der Fluch doch...ähm ausbricht..., dann wird einer der beiden versuchen dich zu töten, oder?"
Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Ich war viel zu geschockt von der Tatsache, noch zwei Geschwister zu haben und noch viel geschockter davon, dass ich seit Wochen mit ihnen unterwegs war, ohne irgendetwas zu ahnen. Hätte ich es irgendwie spüren müssen? Hätte ich es wissen müssen? Da fiel mir mein Traum wieder ein, den ich in der Nacht im Haus meiner Großmutter gehabt hatte. In diesem Traum waren Mia und Ben vorgekommen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich die beiden aber noch nie gesehen. Wusste mein Unterbewusstsein vielleicht schon damals, dass ich meinen Geschwistern begegnen würde? Jetzt musste ich diese Neuigkeit aber erst einmal vor eben jenen geheim halten.
„Das seid ihr ja!", Mia kam hinter einem Busch hervorspaziert, ihr Bruder (UNSER Bruder, aber ich sollte das jetzt wohl erst einmal schnell aus meinen Gedanken verbannen, bevor sie mir irgendetwas anmerkten) trottete hinter ihr her.
Jayden und ich gingen ertappt ein paar Schritte vom versteckten Ordner weg. Mia sah unsere schuldbewussten Blicke, schien sie aber anders zu deuten: „Na, was habt ihr denn so getrieben, meine kleinen Schnuckelmäuse?"
Ben schnaubte auf und schaffte es nicht, sein Grinsen zu unterdrücken.
Jayden dagegen wirkte nicht ganz so belustigt: „Ich verbitte mir erst einmal, dass du mich jemals wieder „Schnuckelmaus" nennst."
„Dann verhalte dich bitte auch nicht wie eine. Du hast ja eben wirklich schnuckelig rumgedruckst."
Ich wagte einen Seitenblick auf Jayden und stellte zufrieden fest, dass dieser zartrosa anlief. „Wir konnten unsere Streitigkeiten klären", erzählte ich Mia also: „Aber was ich interessanter finde: habt ihr irgendetwas gefunden im Schuppen?"
„Nichts.", erklärte Ben unzufrieden: „Wir haben nicht einmal einen Anhaltspunkt gefunden, wo wir gerade sein könnten."
„Wir auch nicht. Hier ist nur dieser Wald."
„Der ist irgendwie beunruhigend, findet ihr nicht auch?", fragte Mia und schauderte dramatisch.
„Er ist anders als jeder Wald, den ich bisher gesehen habe.", stimmte ich ihr zu. „Ich weiß nicht was es ist..."
„und es macht mich wahnsinnig. Und ich glaub dir nicht, dass da gar nichts ist."
Perplex sahen wir Mia an. Diese zuckte aber nur verlegen mit den Schultern: „Tut mir leid. Von AnnenMayKantereit. Ein Lied. Du hast genau die Liedzeilen aufgesagt und ich musste es einfach zu Ende führen."
Ich lachte, doch Jayden und Ben sahen genervt aus: „Sehr zielführend.", meinte Jayden grummelig und ich stieß ihm meinen Ellbogen in die Seite.
„Jedenfalls ist dieser Wald düster.", beendete ich dann meine Aussage von eben.
„Ich sag's dir.", murmelte Ben: „Wollen wir einfach mal rumgehen und schauen, ob wir irgendeinen Anhaltspunkt darauf finden, wo wir momentan sind, oder ob wir einen Hinweis auf eine Seite finden?"
Da dies ein vernünftiger Vorschlag war, dem niemand etwas entgegenzusetzen hatte, starteten wir tatsächlich. Auf dem Weg durch den unebenen Wald, in dem es höchstens mal einen winzigen Weg gab und der sonst dicht bewachsen und beinahe unberührt von Menschenhänden wirkte, ließ ich mich zurückfallen. Einerseits wollte ich einmal in Ruhe über alles nachdenken. Einerseits darüber, was ich den Zwillingen erzählen sollte, wenn sie nach dem Ordner fragen würden und das werden sie tun, da war ich mir beinahe sicher. Andererseits ließ ich aber auch jede Situation, die wir bisher auf unserer Reise erlebt hatten, noch einmal Revue passieren. Hätte ich in irgendwann merken müssen, dass die Verbindungen zwischen mir, Mia und Ben auf mehr als Sympathie beruhte? Vielleicht lag es daran, dass ich die Gedanken von Mia so mühelos hatte lesen können. Naja, mühelos nach einiger Übung. Aber ihr Kopf war der erste, in den ich eingedrungen war, wenn auch anfangs unabsichtlich. Wie sollte ich den Zwillingen das mit dem Ordner erklären? Mein Kopf brummte. Meine Gedanken drehten sich im Kreis.
„Alles gut bei dir?", Ben, der anscheinend auf mich gewartet hatte und jetzt neben mir lief, sah mich besorgt an, als ich mein Kopf in den Händen verbarg.
„Ist dir schwindelig? Hast du dich überanstrengt?"
Ich schüttelte bloß den Kopf.
„Ist es wegen Jayden? War er wieder gemein?"
Jetzt drehte ich meinen Kopf leicht zur Seite, um Ben anzugucken und lächelte ein wenig: „Nein war er nicht."
Erst wirkte Ben ein wenig verwirrt, dann lächelte auch er. Er sah zu Jayden hin, der einige Meter vor uns ging und versuchte Mia davon abzubringen, ihm all ihre Lieblingslieder von der Band „AnnenMayKantereit" vorzusingen. Viel konnte man von hier hinten nicht verstehen, aber anscheinend erklärte er Mia, dass sie einen schlechte Musikgeschmack habe und dass sie das mit dem Singen doch besser lassen solle.
Mia hingegen erklärte lauthals, Jayden habe keine Ahnung von Musik, gab dann aber doch zu, dass es mit ihren Gesangskünsten nicht so weit her war. Es würde sich viel besser anhören, erklärte sie, würde sie Jayden ihre Lieblingslieder auf seinem Handy vorspielen. Jayden entgegnete er habe hier eh kein Internet und hätte er welches, würde er es ganz sicher nicht für diesen Schrott verbrauchen.
„Uhhh.", Ben sog die Luft ein, als Mia ihre Stimme hob und die Hände in die Hüften stemmte.
„Die armen Tiere.", murmelte ich, als vorne eine hitzige Debatte entstand.
„Jetzt erzähl aber", verlangte Ben: „Ich möchte wissen was da zwischen euch vorgefallen ist."
„Najaaa.", ich lief ein wenig rot an.
„Jetzt komm schon.", Ben stupste mich an: „Meintest du nicht ein schwuler bester Freund sei großartig, um Mädchenkram zu besprechen."
„So habe ich das nicht gesagt!", protestierte ich, doch Ben überhörte mich einfach.
„Ich biete mich jetzt als schwuler bester Freund an und du solltest diese Chance auch nutzen!"
„Aber es ist schon unangenehm...", druckste ich herum.
Ben warf gespielt weiblich seine imaginären langen Haare zurück und meinte mit piepsiger Stimme: „Das ist nicht schlimm, Darling, ich liiieebe unangenehme Geschichten."
Ich lachte laut auf. Das war so untypisch für Ben, aber anscheinend hatte er sein Ziel erreicht, denn er grinste nun zufrieden.
„Bitte sag nie wieder Darling.", prustete ich.
„Ich sage es nie wieder, wenn du mir jetzt endlich erzählst, was da los war!"
„Na gut, na gut! Aber du weißt, dass nicht jeder homosexuelle Mann gleich weiblich sein muss?"
„Lenk nicht ab! Erzähl!", sagte Ben bestimmt und fügte murmelnd hinzu: „Außerdem bin ich nicht weiblich."
Und dann erzählte ich Ben leise die ganze Geschichte, während Mia und Jayden sich vorne stritten. Ich erzählte ihm von der Party und von unserem Kuss. Allerdings erzählte ich nicht von den genauen Gründen, da ich ihm sonst von Ethan hätte berichten müssen und dies schien ein Vertrauensbruch zu sein. Ich erzählte einfach, wie aufgewühlt Jayden gewesen ist und schob meinen Kuss auf „Auchnüchterungszwecke".
Ben hörte die ganze Zeit gespannt zu, riss an einigen Stellen die Augen auf und lachte an anderen Stellen meiner Erzählung. Manchmal murmelte er auch einmal nur: „Idiot", worüber ich dann wiederum lachen musste. Als ich schließlich von unserem Gespräch vorhin berichtete, stockte ich ab und zu und sprach nochmal leiser, damit Jayden auf gar keinen Fall irgendetwas hören konnte. Eigentlich war ich mir ziemlich sicher, dass er auch vom restlichen Gespräch nichts mitbekommen hatte, da ich sehr leise redete und er vorne noch immer lautstark mit Mia diskutierte, aber man wusste ja schließlich nie.
„Und", fragte Ben, als ich am Ende meiner Geschichte angekommen war: „seid ihr jetzt zusammen oder so?"
Eine gute Frage, dass musste ich schon zugeben. Aber ich musste auch zugeben, dass auf dieser Frage nicht mein Hauptaugenmerk in der letzten Stunde lag, deswegen zuckte ich nur die Achseln: „Weiß ich nicht."
„Möchtest du denn überhaupt, dass ihr zusammenkommt?"
„Ich weiß es doch nicht!", rief ich so laut, dass Mia und Jayden sich vorne erstaunt umdrehten und zu uns sahen.
„Was weißt du nicht?", Mia blieb stehen und ging dann auf meiner anderen Seite weiter.
„Vieles.", murmelte ich und wurde ein bisschen rot.
„Ahaaa", meinte Mia bloß und tauschte einen bedeutungsschwangeren Blick mit ihrem Bruder. „Darüber reden wir später noch mal.", flüsterte sie mir zu, als Jayden sich auch noch zu uns gesellte.
„Sag mal", begann Ben in diesem Augenblick und sah mich mit gerunzelter Stirn an: „Was war denn jetzt eigentlich in diesem Ordner drin? Wo ist er denn überhaupt?"
Doch bevor ich den Mund öffnen und mir irgendeine Ausrede einfallen lassen konnte, deutete Jayden mit dem Zeigefinger auf etwas Dunkles, dass zwischen den Bäumen versteckt direkt in unserer Richtung lag. Ich kniff die Augen zusammen und musterte dieses Ding angestrengt. Es war ein Haus.
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