Der Schuppen

Kapitel 28: Der Schuppen

Diesmal war etwas anders. Bisher waren wir zwar jedes Mal irgendwo gelandet und wussten nicht wo, aber wir hatten uns die vorherigen Male immer umschauen können und wir konnten Leute fragen, die uns sagten, wo wir waren. Diesmal ging es nicht. Denn diesmal waren wir nicht irgendwo in einer verlassenen Landschaft gelandet. Wir waren aber auch nicht umgeben von Leuten. Tatsächlich war hier niemand außer uns. Außerdem befanden wir uns mitten in einem Raum. Er war aus Holz gebaut und durch die Bretter, die als Wände dienten, schimmerte noch ein wenig Licht von draußen herein. Dadurch konnte ich erkennen, dass in dem kleinen Raum überall Geräte rumstanden. Ich entdeckte einen uralten Rasenmäher und einige Werkzeuge für die Gartenarbeit, die wir auch Zuhause in unserem Keller aufbewahrten, wenn auch selten nutzten, da unser Garten sehr, sehr klein war und die Gartenarbeit meist eh von der älteren Dame übernommen wurde, die ein Stockwerk unter uns wohnte. Zwar benutzten wir unsere Geräte nicht oft, dennoch waren sie nicht so verstaubt wie diese hier. Auf jedem einzelnen Gegenstand hier im Raum, ich vermutete stark, dass es sich hierbei um einen Schuppen handelte, hatte sich eine so tiefe Staubschicht gelegt, dass sie beinahe weiß und unförmig aussahen.

"Puh!", sagte Mia und nieste einmal laut. "Hier sind aber sehr viele Staubmilben in der Luft!" Sie nieste ein weiteres Mal.

"Sei leise.", zischte Jayden und ging ein paar Schritte in Richtung der Tür, um auf den Lichtschalter neben dieser zu drücken. Zu unser aller Erstaunen flammte auf einmal ein Licht an der Decke auf und als wir unsere Köpfe hoben, konnten wir eine nackte Glühbirne erkennen, die zwar schwach und ein wenig flackerig leuchtete, aber sie leuchtete zumindest.

"Denkst du wirklich, jemand hätte sich in den letzten Jahren hierher verirrt?", fragte Mia wobei sie sich nicht die geringste Mühe gab, ihre Stimme zu senken.

"Nein.", gab Jayden zu.

Dieser Schuppen machte wirklich den Eindruck, als sei er in den letzten Jahren dezent vernachlässigt, wenn nicht sogar vergessen worden. Ein vergessener Ort, an dem seit Jahren schon niemand mehr war.

Ich merkte, dass Ben neben mir ebenfalls nachdenklich zu sein schien, denn er hatte noch nichts gesagt seit wir hier waren. Während Mia und Jayden sich ankeiften, sahen wir uns an.

"Glaubst du...?", fragte ich leise.

"Ich würde es auf jeden Fall nicht ausschließen."

"Hey!", unterbrach ich Mia und Jayden und räusperte mich vernehmlich. "Wenn niemand in letzter Zeit hier war...denkt ihr, hier könnte die nächste Seite versteckt sein?"

Mia und Jayden blickten mich beide an, auch wenn Jayden meine Schulter anstatt meines Gesichts fixierte, scheinbar unwillig, mir in die Augen zu schauen.

"Spürst du denn etwas?", fragte Mia. Ich schüttelte den Kopf: "Nein, aber das muss nichts bedeuten. Auch bei den anderen Seiten habe ich nur selten etwas gespürt."

"Dann lasst uns suchen." Mia klatschte in die Hände, offenbar begeistert davon, eine Aufgabe zu haben.

"Der Schuppen ist ziemlich klein", murmelte Jayden. Ich hatte mich schon hinuntergebeugt, um einen Eimer umzudrehen und darunter nachzuschauen, als ich mich wieder langsam zu ihm umdrehte. Jayden hatte die Hände in den Taschen versenkt und schaute beinahe...verlegen. "jedenfalls denkt ihr nicht, dass es eine gute Idee wäre, wenn nur zwei von uns hier drinnen suchen und sich die anderen beiden einmal draußen umschauen. Vielleicht kann man dabei ja auch herausfinden, wo wir uns gegenwärtig aufhalten.", fuhr er hastig fort.

"Und wie möchtest du die "Gruppen"", Mia krümmte jeweils den Zeige- und Mittelfinger ihrer linken und rechten Hand, um Anführungszeichen um das Wort zu setzten "einteilen."

"Ähhhm...naja... ich dachte du und Ben könnt euch ja hier drinnen umsehen und Luna und ich können mal draußen gucken..." Ungläubig starrte ich ihn an, während er ein wenig rot anlief und zu Boden guckte.

"Das ist eine gute Idee.", sagte Ben in dem Versuch, eine ernste Miene zu ziehen. Allerdings wechselte er dann doch einen amüsierten Blick mit seiner Schwester. "Wir sind ja auch Zwillinge, da ist die Teamarbeit doch immer leichter." Mia kicherte nur.

"Ist das für dich okay?", fragte sie mich.

Ich zuckte mit den Schultern. Keine Ahnung, was Jayden mit dieser Aktion bezwecken wollte, aber da wir uns heute schon angeschrien und geküsst hatten, na gut ICH hatte IHN geküsst, konnte es wohl nicht noch schlimmer werden. Als Jayden die Tür aufstieß und hinausging, presste ich also den Ordner, den ich immer noch in den Armen hielt, weiter an meine Brust und folgte ihm.

Wir schienen in einem Wald gelandet zu sein, mal wieder. Dieser Wald war aber nicht mystisch und wunderschön wie in Island. Die Bäume waren zwar riesig und hoch aufragend, aber sie wirkten auch wild und alle drei Meter war einer abgestorben. Wir waren direkt mitten in einem Wald und nicht auf einer Lichtung gelandet, weshalb man die eintretende Dämmerung am Himmel, nur teilweise durch die Baumkronen erahnen konnte. Durch den dichten Wald war es sehr kühl hier draußen und ich hätte meine Arme um mich geschlungen, wäre da nicht der große Ordner gewesen, den ich in der Hand hielt. Insgesamt wirkte dieser Ort durch die Kühle und die hohen, dicht zusammenstehenden Bäume merkwürdig erdrückend.

"Lass uns mal ein Stück weitergehen. Hier ist ja nichts außer Wald", meinte Jayden. "Außerdem müssen wir reden und...", jetzt sprach er laut und deutlich: "Ich werden den Verdacht nicht los, dass Mia ihr Ohr an die Wand gedrückt hat, um uns zu belauschen." Aus dem Inneren des Schuppens, der von außen beinahe noch trostloser und heruntergekommener aussah, als von innen, erklang ein Fluch, den ganz eindeutig Mia ausstieß und ein unterdrücktes Lachen, das ganz klar von ihrem Bruder kam.

"Sag mir erst, worüber du mit mir reden möchtest." Stur erhob ich das Kinn und funkelte Jayden an.

"Das sag ich dir gleich.", quetschte dieser durch zusammengebissene Zähne raus. "Lass uns einfach ein paar Schritte weitergehen! Bitte!" In seiner Stimme lag ein flehender Unterton.

"Worüber möchtest du mit mir reden?", weigerte ich mich einzuknicken.

"Über alles, was heute passiert ist."

"Ohhh! Da hast du aber sehr viel Auswahl! Besonders wenn du gedenkst, dich zu entschuldigen!"

Aus der Hütte waren leise Stimmen zu hören.

"Luna", sagte Jayden, dessen Augen nicht vor Zorn funkelten, wie ich eigentlich angenommen hatte. "Ich möchte kurz mit dir reden und dabei möchte ich nicht, dass die Beiden", er deutete auf die Hütte "alles mitbekommen."

„Na gut." Ich drückte den Ordner noch fester an mich, während ich nach links maschierte und mich von der Hütte entfernte. Das leise Trampeln, das zu meinen Schritten noch zusätzlich zu hören war, bestätigte mir, dass Jayden mir auf den Fuß folgte. Als wir uns weit genug entfernt hatten, stellte ich mich neben einen großen, umgefallenen Stamm auf und blickte Jayden an.

"Was ist?"

"Willst du nicht vielleicht den Ordner weglegen? Du hältst ihn so in der Hand, als würdest du ihn als Schutzschild gegen mich verwenden wollen."

"Ich halte den Ordner so lange in der Hand, wie ich es möchte! Und komm zum Punkt, denn ich würde mir gleich gerne einmal durchlesen, was dort dringeschrieben steht!"

Jayden atmete einmal tief durch, wobei sein gesammter Oberkörper erzitterte und trat einen Schritt auf mich zu. Ich wollte ausweichen, aber meine Kniekehlen stießen an den Stamm hinter mir und ich konnte mich gerade noch fangen, bevor ich umstürzte.

"Was ist?", fragte ich noch einmal, aber diesmal mit leiser, zitternder Stimme. Der Ausdruck in Jaydens Augen machte mir Angst. Ich hatte sie noch nie so grün leuchten sehen, selbst in den den Momenten, in denen er vor Zorn beinahe explodierte.

"Weißt du", sagte er und seine Stimme war rauer als jemals zuvor. "Der Tag, an dem wir zu meiner...Mutter gefahren sind. Als wir im Auto saßen...ich habe dir Dinge erzählt, die ich vorher noch nie jemandem erzählt habe. Dir, nachdem ich dich nur für ein paar Stunden kannte. Das mache ich sonst nicht. Ich erzähle nichts. Nie...", seine Stimme wurde erst ein wenig schwacher, aber dann räusperte sich Jayden und sprach weiter: "Dann wurdest du angeschossen und es ging mir dreckig. Ganz ehrlich, richtig dreckig. Ich dachte, es liegt daran, dass ich Schuldgefühle hatte, weil es doch meine Mutter war, die dich angeschossen hat. Und tatsächlich mag das auch eine Rolle gespielt haben. Aber dann ist mir klar geworden, dass ich dich...ganz nett finde...Verdammt, ich mag dich Luna! Ich mag dich so sehr, ich konnte es nicht ertragen, wie Riaan mit dir geflirtet hat und deshalb habe ich getrunken, okay?! Ich habe mich völlig danebenbenommen, wie das letzte Arschloch habe ich mich aufgeführt, aber nicht, weil ich dir nicht helfen wollte und du mir egal bist, sondern weil ich ein egoistischer Arsch bin, der sich lieber verhält wie ein Schwein, als dir einfach zu sagen, was los ist...oder dir zu helfen."

Jayden fuhr sich mit der Hand durch die Haare, sodass sie wild vom Kopf abstanden. Als ich den Mund aufmachte, um etwas zu sagen, oh Gott, ich wollte wohl noch nie in meinem Leben lieber etwas sagen und war unfassbar froh, dass es jetzt noch dunkler war im Wald und Jayden meine Gesichtsfarbe nicht erkennen konnte, legte Jayden die Hand, die gerade noch durch seine Haare gewandert war, auf die Stelle zwischen meiner Schulter und meinem Hals und bat leise: "Darf ich bitte weitersprechen?" Ich nickte. Ich wollte hören, was er noch zu sagen hatte.

"Dann habe ich dir von Ethan erzählt. Das war jahrelang mein größtes Geheimnis und ich wollte, nein, ich konnte, es bisher noch niemandem erzählen. Aber dir habe ich es erzählen. Ich will dir so vieles erzählen, ich will dir alles erzählen, was es zu erzählen gibt. Und ich möchte sehen, wie du dabei reagierst, denn deine Reaktion bedeutet mir mehr, als die der meisten anderen Menschen. Ich kann dir nicht sagen, warum. Doch dann hast du mich geküsst und glaub mir, ich bereue nicht, dass du es getan hast. Ich bereue nur, dass unser erster Kuss kein romantischer, sondern ein Kuss aus Mitleid gewesen ist..."

"Oh mein Gott, Jayden!", fuhr ich ihn in diesem Moment an: "Sag mal, wie schwer bist du eigentlich von Begriff? Ich habe dich nicht aus Mitleid geküsst. Ich hätte dich auch umarmen können! Meine Güte, du offenbarst hier gerade, dass du doch nicht der Eisklotz bist, der du vorgibst zu sein und auch Gefühle besitzt und dann bist du nicht in der Lage zu erkennen, dass ich dich nicht aus Mitleid geküsst habe? Möchtest du dir das noch weiter einreden oder dich aus deiner Selbstmitleidsnummer herausziehen und einsehen, dass ich dich auch ganz nett finde, um es in deinen Worten auszudrücken?"

Jaydens Augen schienen kurz aufzuleuchten. Ein leichtes Grinsen stahl sich auf seine Lippen, während er mit seinem Gesicht immer näher an meines herankam und er murmelte: "Ich bin ja auch ganz nett." Dann beugte er sich endgültig zu mir herüber, legte eine Hand an meinen Hinterkopf und drückte seinen Mund auf meinen. Mir wurde schwindelig. Dies war kein Mitleidskuss, ganz sicher nicht, dachte ich, ließ den Ordner auf den Boden fallen und drückte mich näher an Jayden.

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