Der Globus

Der Himmel über uns hatte sich zugezogen, als wir den Friedhof betraten. Es war düster und wolkenverhangen. Die Luft war feucht und verhangen. Das Wetter war beinahe so deprimierend, wie dieser Ort es war.

Das Grab meiner Mutter war aus dunklem Mamor gefertigt. Zudem rankten viele und bunte Blumen um das Grab herum. Sie wirkten aber nicht verwildert, sondern so, als sollten sie genauso aussehen, wie sie es taten.

"Wer pflegt denn das Grab?", fragte ich meine Großmutter.

„Das bin ich meiner Tochter schuldig", erwiderte diese nur: "Ich muss einmal kurz mit dem Wärter sprechen", erklärte sie mir dann: "ich bin gleich wieder da."

Ich schloss meine Augen. Schon seit wir den Friedhof betreten haben, hatte sich meine Kehle zugeschnürt und ich hatte das Gefühl jede Sekunde losheulen zu müssen. Mein Kiefer schmerzte und in meinem Bauch zog es merkwürdig, als ich mich über das Grab beugte. Das Schlimme daran, dass meine Mutter nicht mehr lebte, war ja gar nicht, dass ich sie vermisste. Das Schlimme war, dass ich mich an NICHTS erinnerte, was ich überhaupt vermissen könnte.

Das Schlimme daran, wenn jemand stirbt, war, dass man diesen Menschen nie wieder zurückbekommen würde. Es entstand eine Lücke im Leben eines Zurückgelassenen, es fehlte etwas. Diese Menschen bekamen einen geliebten Menschen nie wieder. Aber für mich gab es kein WIEDER. Ich kannte meine Mutter nicht, ich hatte keine Erinnerungen an sie. Ich würde sie einfach nur niemals BEKOMMEN: Ohne wieder.

Ich fragte mich schon seit Jahren, ob ich überhaupt ein Recht hatte, um sie zu trauern. Mein Vater hatte jegliches Recht, dazu, genau wie meine Großmutter oder mein Onkel. Meinem Leben war aber nichts entrissen worden. Natürlich muss ich geweint haben, als meine Mutter starb. Aber vielleicht war es ja gut, dass sie so früh gestorben war. Vielleicht war es gut, dass mir nicht alles weh tat, wenn ich an sie dachte, weil ich ja gar nichts hatte, an dass ich denken könnte. Aber vielleicht war es ja dies das Schlimme daran, denn ganz ehrlich: Ich hätte lieber jeden Schmerz, jede Träne hingenommen, wenn ich eine Erinnerung an meine Mutter gehabt hätte.

Lieber hätte ich schmerzliche Erinnerungen, die immer wehtun, wenn ich sie hervorrief, als gar keine. Denn ich wusste, dass meine Mutter ein toller Mensch gewesen sein muss, der es nicht verdient hatte, vergessen zu werden. Vor allem nicht von ihrer Tochter. Aber eigentlich hatte ich sie ja nicht vergessen. Man kann nichts vergessen, wenn die Erinnerung niemals existiert hat. Oder?

In meinem Leben hat nicht nur der Tod meiner Mutter keine Rolle gespielt, sondern auch sie selbst. Sie war einfach niemals in meinem Leben und wird es auch niemals sein. Vielleicht war das auch der Grund, warum ich bisher noch nie an ihrem Grab war. Nicht, weil mein Vater es verboten hätte, weil wir dabei ja auf ein Familienmitglied treffen können. Sondern wegen meines schlechten Gewissens. Ich hatte ihn ja nicht einmal gefragt, ob wir hier vielleicht einmal hingehen könnten.

Mir liefen jetzt wirklich die Tränen übers Gesicht. Ich weinte wegen all der Erinnerungen, die wir hätten zusammen haben können. Ich weinte darum, dass sie so früh gestorben war und ich deshalb nicht mal richtig um sie trauern konnte. Ich weinte, weil ich es ihr schuldig war zu weinen. Ich weinte, weil ich niemals die Chance hatte, zu entscheiden, ob ich sie liebte oder hasste. Ich weinte, weil ich sie so dringen lieben wollte, aber niemanden lieben konnte, den ich nicht kannte. Ich weinte, weil ich nicht wegen ihr weinte, sondern meinetwegen.

Tausend Gründe. Tausend Gründe oder mehr könnte ich noch aufzählen, warum ich an diesem Grab stand und weinte als würde die Welt untergehen. Ich könnte weitere tausend Gründe aufzählen, warum ich mich in diesem Moment selbst hasste. Weil ich so egoistisch war. Weil ich weinte, und zwar aus den falschen Gründen. Ich könnte so viele Dinge aufzählen, die mir im Moment ungerecht erschienen, aber in diesem Moment fiel mir etwas ins Auge. Etwas das golden schimmerte und sich neben dem Grabstein im hohen Gras versteckte.

Meine Hände wurden von diesem Schimmern förmlich angezogen und bewegten sich immer weiter in die Richtung, von der es ausging.

Es war, als könnte ich nichts dagegen machen, als mein Zeigefinger das Gras wegstrich und ich das Ding, das da lag in meine Hand schloss.

Eine seltsame, beruhigende Wärme ging davon aus und ich erkannte, nachdem ich mir energisch über die Augen gestrichen und die Tränen abgewischt hatte, einen Globus. Einen in Gold gefertigten winzigen Globus, der perfekt in meine Handfläche passte. Dann wurde ich von den Füßen gerissen und hatte das Gefühl, als würde ich fliegen.

Langsam öffnete ich meine Augenlider, die schwer auf meinen Augen ruhten und blinzelte.

Der Untergrund war weicher als gerade eben und irgendwie... bröselig.

Ich zog meine Finger um den kleinen Globus zusammen und spürte wie mir dabei Sand in die Hände glitt.

Verdammt, was war hier los?

Mühsam richtete ich mich auf und guckte mich um, in Erwartung, den Friedhof zu sehen.

Aber nichts da, ich saß hier unfassbarer Weise am Strand eines Flusses.

Ein beißender Fischgeruch stieg mir in die Nase.

Wie zum Teufel war ich hierhergekommen?

Ich stand langsam auf und betastete meinen Körper: alles unversehrt.

Vorsichtig ging ich ein paar Schritte und alles funktionierte wie gewohnt. Ich war nur ein wenig wackelig auf den Beinen.

Etwas Hartes drückte von der Innenseite der Hosentasche an mein Bein.

Erleichtert atmete ich aus: Mein Handy.

Ich zog es aus meiner Hosentasche und stieß einen, ganz sicher nicht jugendfreien, Fluch aus.

Kaputt. Der Bildschirm hatte zahlreiche Risse. Außerdem ließ es sich nicht mehr anstellen.

Wütend steckte ich mein Smartphone wieder ein und drehte mich um mich selbst.

Um mich herum am Strand war nichts los, doch da hinten, ja das waren eindeutig Menschen.

Ich begann zu rennen, was im Sand gar nicht so einfach war, und fand mich schon nach ein paar Minuten im geschäftigen Morgen der Leute wieder.

Wen sollte ich fragen?

„Ähhm, entschuldigen Sie...", sagte ich zu einem kleinen Mann im Nadelstreifenanzug und mit Aktenordner.

„Was ist?", schnauzte dieser auf Deutsch.

„Das klingt jetzt vielleicht merkwürdig, aber wo sind wir hier?"

Pikiert sah er mich an: „Willst du mich verarschen?"

„Nein natürlich..."

Doch der Idiot drehte sich einfach um und ging weg.

Da ich nicht wusste, was ich sonst machen sollte, ging ich zur nächsten Passantin hin. Diesmal war es eine junge Frau.

"Entschuldigen Sie", begann und sie sah genervt von ihrem Smartphone auf.

"Was ist?"

"Das...das entschuldigung...", stammelte ich, vollkommen wirr im Kopf: "wo genau sind wir denn hier?"

"Hafencity", meinte sie knapp und machte Anstalten, weiter zu gehen.

"Nein, nein", hastig schüttelte ich den Kopf: "Ich meine...in welchem LAND sind wir hier?"

Die Frau legte ihre Stirn in Falten und sah sich suchend um: "Na schön", sagte sie dann ärgerlich: "wo stehen deine Freunde und Filmen uns?"

"Meine...meine was?"

Bevor ich die Frage beendet hatte, war sie in der Menge verschwunden.

"Hallo?", ich lief auf den nächsten Passenten zu, der nicht einmal anhielt.

"IDIOT!", rief ich in meiner Wut und Verzweiflung. Ein Fehler wie sich herausstellte. Denn jetzt wollte niemand mehr mit mir sprechen.

Wo war ich hier? Wieso war ich hier? Wie war ich hier gelandet?

„Kann ich dir vielleicht helfen?", fragte eine Stimme hinter mir.

Erschrocken fuhr ich herum und sah einen großen Jungen mit hellen Haaren vor mir. In meinem Kopf klingelte etwas, dieser Junge kam mir bekannt vor. Woher kannte ich ihn? Dann fiel es mir ein und ich musste meine Hand vor den Mund pressen, um nicht auf zu schreien. Dies war er, der Junge, der aus meinem Traum. Der, der sich vor mich geworfen hatte. Der, der im Traum gestorben wäre, hätte ich weiter geträumt.

Für mich wäre er gestorben.

Im Traum.




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