Auf in den Kampf


„Luna, wach auf!", drang eine Stimme in mein Ohr und ich öffnete meine Augen. Wir fuhren auf einer voll befahrenden Straße und draußen war es immer noch stockfinster. Ich hörte Mia auf dem Rücksitz leise schnarchen und Ben gleichmäßig atmen.

Wer hatte mich geweckt? Und warum? Langsam drehte ich meinen Kopf und sah Jayden an: „Was'n los?", fragte ich, immer noch nicht ganz wach. "Sind wir da?"

„Nein" Er schüttelte den Kopf. "Aber ich schlaf gleich ein."

„Wenn du mich jetzt fragst ob ich fahren kann...sorry, ich habe leider noch keinen Führerschein." Ich zuckte mit den Schultern.

„Nein, das wollte ich gar nicht. Lenk mich ab." Es klang wie ein Befehl und war vermutlich auch einer. Normalerweise hätte ich, wenn jemand in diesem Tonfall mit mir gesprochen hätte, schon aus Prinzip trotzig reagiert. Aber was war im Moment schon normal? Und außerdem war das meine Gelegenheit Informationen aus dem Jungen neben mir raus zu kitzeln.

Ich fragte ihn also: „Was ist mit deiner Mutter?"

Aus dem Augenwinkel nahm ich war, dass sich Jayden unmerklich versteifte und war schon darauf vorbereitet, rüde von ihm abgewiesen zu werden, doch er überraschte mich: "Sie ist...besessen."

„Inwiefern?", hakte ich nach.

„Das ist kompliziert und außerdem eine seeehr lange Geschichte."

„Und wir haben noch eine seeehr lange Autofahrt vor uns. Und wenn ich dich erinnern darf: du wolltest unbedingt eine Ablenkung."

Kurz schwieg Jayden, und ich wollte schon weiter nachfragen, als er den Mund öffnete und leise zu sprechen begann: „Du weißt, dass ich adoptiert bin, oder?"

Ich nickte und wagte es nicht, ihn zu unterbrechen, aus Angst, dass er dann wieder schweigen würde.

„Menschen suchen die Kinder, die sie adoptieren, aus den unterschiedlichsten Gründen aus. Manche entscheiden sich für diese Kinder, weil sie so süß sind. Andere Menschen, spüren einfach auf den ersten Blick eine tiefe Verbundenheit mit einem Kind. Meine ‚Eltern' ", er spuckte das Wort förmlich aus. „Haben mich ausgewählt, weil sie genauso ein Kind, wie mich gesucht hatten. Also nicht ein Kind, das so WAR wie ich..., sondern ein Kind, das meine Fähigkeiten besaß. Sie sind durch die ganze Welt gereist, um mich zu finden. Oder besser gesagt: jemanden WIE mich. Gefunden haben sie mich schließlich in Frankreich. In einem Vorort von Paris. Ständig haben sie mir erzählt, dass sie etwas Gutes getan hatten, als sie mich da weggeholt haben. Mein Vater das wohl auch tatsächlich geglaubt, aber meine Mutter...sie war wohl schon zu diesem Zeitpunkt nicht mehr ganz klar im Kopf. Du fragst dich sicher, warum meine Eltern überhaupt ein Kind wie mich gesucht haben, oder? Das war so: Meine Mutter konnte, kann ebenfalls Gedanken lesen. So wie du. Und ich. Aber sie ist auch daran zerbrochen. Sie konnte gar nicht mehr aus den Köpfen der anderen Menschen hinausgekommen. Sie hat die Gedanken von jedem gelesen, der ihren Weg gekreuzt hat. Ihr ist das dann zu viel geworden und sie hat sich jeden Tag nur noch gewünscht, allein zu sein. Allein, ohne die ganzen fremden Gedanken in ihrem Kopf. Sie dachte...naja sie dachte, dass ihr eigenes Kind vielleicht dieselben Fähigkeiten wie sie haben könnte...deshalb haben sie und mein Vater, der sie über alles liebt, versucht ein Kind zu bekommen. Es hat zwei Jahre lang gedauert, aber dann hielt meine Mutter ihr Kind im Arm. Leider hatte dieses Kind eine Herzschwäche. Es starb nur wenige Tage nach seiner Geburt. Aber diese Tage allein haben schon genügt, dass meine Mutter feststellen konnte, dass sie nicht in die Gedanken ihres Kindes eindringen konnte. Als es dann starb, hat sie mehr darum getrauert, jetzt wieder allem anderen ausgesetzt zu sein, als um das Kind selbst. Mein Vater hat um das Kind getrauert. Und um seine Frau, die jetzt völlig kaputt war. Dann machte er den Vorschlag, doch einfach ein Kind zu adoptieren, welches die gleichen Fähigkeiten wie sie besitzt. Und so suchten sie. Und fanden mich. Die ersten Jahre, in denen meine Mutter mich hatte, ging es ihr auch schon wieder besser. Und mir auch. Ich wurde gut behandelt von meinen Eltern. Ich habe sie geliebt. Meine Mutter taute auf. Doch dann hatte sie eines Tages immer dieses verdammte Blatt in der Hand...sie saß tagelang einfach nur da und starrte darauf. Damals war ich ungefähr 14 Jahre alt. Meine Mutter begann sich zu verändern. Vorher litt sie schon an leichten Depressionen und war oft verwirrt, aber sie hat mich immer gut behandelt. Wie ihr eigenes Kind. Dann fing sie an, mich anzuschreien. Sie schrie, ich sollte mir Mühe geben. Sie schrie, ich sei zu nichts zu gebrauchen und auch gar nicht ihr Kind. Ab und an wurde sie auch...handgreiflich. Mein Vater war verzweifelt. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte, dass seine Frau sich wieder so veränderte. Am Verhalten meiner Mutter änderte das nichts und schließlich...ging ich."

Während seiner Geschichte hatten sich meine Eingeweide schmerhaft zusammengezogen. Das war das schrecklichste, was ich je gehört hatte. Und dass das ausgerechnet von Jayden kam. Von Jayden, der vorhin noch so verschlossen wie eine ungeöffnete Sardinenbüchse gewirkt hatte. Es schien so, als wäre der Teil, den er mir erzählt hatte, noch nicht fertig. Aber ich wollte nicht weiter nachfragen. Vermutlich bereute er jetzt schon, wie viel er erzählt hatte.

Jayden blickte kurz und angespannt zu mir rüber. Ich musste etwas erwidern.

„Du bist also Franzose?", fragte ich also ein wenig hilflos. Was danach kam...nun ja, sagen wir so: DAMIT hatte ich nicht gerechnet. Jayden lachte. Und wie er lachte. Es war nicht dieses fiese, kaltes angsteinflößende Lachen, bei welchem man Angst vor ihm bekam und auch nicht das spöttische. Dieses Lachen hier schien echt zu sein, hörte sich rau an und...es stand ihm. Ja, wirklich! Sein ganzes Gesicht schien zu strahlen und es war ansteckend. So ansteckend,dass auch ich grinsen musste.

Kurz drehte ich mich nach hinten um, aber Mia und Ben schliefen noch immer seelenruhig. Jayden lachte noch immer. Ich stupste ihn an. „Hey alles gut?", fragte ich.

Sofort verstummte sein Lachen und seine Augen musterten mich wieder kalt und abschätzend.

„Hör mal...ich würde es sehr zu schätzen wissen...wenn du...naja, wenn du niemandem davon erzählen würdest, was ich dir gerade erzählt hab. Keine Ahnung, wieso ich es dir überhaupt erzählt habe aber...bitte.", er wirkte seltsam schuldbewusst und auch ein wenig peinlich berührt.

„Ehrensache. Was hälst du davon: Geheimnis für Geheimnis?", fragte ich ihn, um ihn auf andere Gedanken zu bringen.

„Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, ob ich deine Geheimnisse erfahren will..."

„Tja", sagte ich schnippisch. „Du hast aber leider keine Wahl. Ich habe Robbie Williams Poster über meinem Bett hängen."

„Pahh!", rief Jayden aus. „Das ist dein größtes Geheimnis?"

„Nee, natürlich nicht mein größtes, aber ich dachte, wir beginnen mal klein. Jetzt bist du dran."

In der vorderen Fensterscheibe des Autos wurde Jayden reflektiert, weshalb ich sehen konnte wie er genervt die Augen verdrehte. „Ich bin Vegetarier."

„Geht das denn überhaupt in Schottland? Ihr esst doch alle nur Haggis."

„Rassist!"

„Und überhaupt...warum ist das denn ein peinliches Geheimnis?"

Jayden zuckte nur mit den Schultern und drehte dann das Lenkrad herum. Wir fuhren jetzt auf einer kleinen Straße, voller Bäume an den Straßenrändern.

„Mal ehrlich, Jayden?", begann ich.

„Mhhh?", machte er, was ich als Aufforderung ansah, weiter zu sprechen.

„Warum hast du mir das alles erzählt? Du hättest es echt nicht tun müssen."

„Ich weiß nicht", murmelte er: „Ich hatte wohl einfach Angst, ihr würdet nochmal meine Sachen durchsuchen, wenn ich nicht zumindest etwas verrate."

„Das war eine berechtige Annahme", pflichtete ich ihm bei, weil wir wohl tatsächlich den ersten Moment, indem er uns abermals mit seinen Sachen allein gelassen hätte, genutzt hätten, um nach irgendwelchen Informationen über ihn zu suchen.

Jayden gähnte laut und hielt sich die Hand vor den Mund.

„Möchtest du vielleicht eine Pause machen?", fragte ich zögerlich.

Er grummelte: „Geht schon." Eine Sekunde später jedoch, verpasste er beinahe eine Ausfahrt und musste das Steuer so heftig herumreißen, dass Mia und Ben hinten erschrocken die Augen aufrissen.

„Alles okay da vorne?", erkundigte sich Mia während sie sich streckte.

Ben runzelte die Stirn. Er schien Jaydens müde Augen im Rückspiegel zu sehen, weil er sich ein wenig vorbeugte und fragte: „Soll ich vielleicht mal übernehmen?"

„Kannst du denn überhaupt fahren?", fragte ich und drehte mich zu ihm um.

„Klar. Führerschein mit 17."

„In Deutschland", erinnerte ich ihn.

„Ja und?"

„Rechts- und Linksverkehr."

„Besser, als wenn unser Fahrer am Steuer einschläft. Außerdem wollen wir doch keine Zeit beim Autofahren verplempern."

„Du weißt doch gar nicht, wo wir lang fahren müssen..."

Ben kniff kurz die Augen zusammen und schien nachzudenken. Dann zuckte er mit den Schultern und murmelte: „Stimmt. Was machen wir denn dann?"

Müde fuhr sich Jayden mit dem Handrücken über die Augen. „Lasst uns doch einfach am Straßenrand parken und ein wenig schlafen." Schon fuhr er auf die linke Seite der Straße und hielt das Auto an. In der letzten halben Stunde war weder ein Auto auf der Gegenspur an uns vorbei-, noch war ein Auto hinter uns gefahren. Das hieß auch, dass sich niemand an einem am Straßenrand parkenden Auto stören konnte. Ich hörte ein leises Schnarchen vom Fahrersitz: Jayden war anscheinend sofort eingeschlafen, als er das Auto gestoppt hatte. Na, dann ist ja gut, dass wir nicht weiter gefahren sind. Im Rückspiegel sah ich, dass Mia und Ben ebenfalls einen erleichterten Blick wechselten. Mia begann ihrem Bruder etwas zuzuflüstern. Was es war, verstand ich aber nicht, da auch ich nun in einen tiefen Schlaf hinüberglitt.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top