Kapitel 6 - Leise Pfoten

John wachte auf, weil etwas an sein Fenster geklopft hatte. Er richtete sich in seinem Bett auf und horchte nach, ob er das Geräusch noch einmal hören würde. Das tat er nicht. Mühsam stand er auf und schaute auf seinen Wecker. Es war vier Uhr am Nachmittag. Er musste etwa vier Stunden geschlafen haben! Aber trotzdem fühlte er sich noch müde. Am liebsten wollte er weiter schlafen. Aber er wollte auch dem Geräusch auf den Grund gehen.

John spähte durch die Ritzen der Rollläden. Wenn etwas gegen sein Fenster geflogen war - und das war im sechsten Stock wahrscheinlicher, als dass jemand ans Fenster geklopft hätte - dann würde am Glas ein Abdruck sichtbar sein. Das kannte er, wenn manchmal ein Vogel gegen sein Panoramafenster flog. Trotz der Aufkleber, die er auf der Scheibe angebracht hatte, donnerte ab und an ein Federtier dagegen. Aber da war kein einziger Abdruck.

Dann war das bloß ein Traum, erklärte es sich John und ließ die Rollläden hoch. Er ging ins Wohnzimmer. Dort stand er einen Moment einfach herum und überlegte, was er als nächstes tun würde. Obwohl er sich einreden wollte, dass er das Klopfen nur geträumt hatte, wollte es ihm nicht aus dem Kopf gehen. Es muss etwas anderes dahinter stecken, dachte er.

John zog sich seine Schuhe an und wollte nach draußen gehen, um nachzusehen, ob vielleicht unter seinem Fenster etwas lag, das ihm Aufschluss geben konnte. Im Gehen überlegte er, was denn alles infrage käme. Ob es vielleicht doch ein Vogel war oder ob jemand etwas an sein Fenster geworfen hatte? Wer sollte denn etwas an Johns Fenster werfen? Und dann auch noch ausgerechnet im sechsten Stock. 

Als John direkt unter seinem Fenster stand, sah er, dass einige Meter entfernt etwas Rundes lag. Es sah von weitem aus wie ein sehr großes Bonbon. Er ging näher heran und erkannte, dass es ein rundes in ein Tuch eingewickeltes Etwas war. John besah sich das Ding und überlegte, ob er es anfassen sollte. Es konnte sich ja auch um etwas Gefährliches handeln. Es konnte auch etwas Spitzes darin sein, woran er sich verletzen könnte.

Die Neugier siegte und John nahm das Ding vorsichtig an sich. Es fühlte sich nicht sehr schwer an und war recht hart. Vorsichtig wickelte John es aus dem Tuch und zum Vorschein kam ein kleiner Lautsprecher. John drehte ihn in der Hand. Auf der Rückseite war "WinkelmannWash" eingeprägt. John zog die Augenbrauen hoch. Solche Lautsprecher hatten sie in der Firma, in der er bis vor Kurzem noch gearbeitet hatte, als Werbegeschenke verteilt. Warum sollte ihm jetzt jemand so ein Ding ans Fenster werfen? Und vor allem: wer? Und warum ausgerechnet an Johns Fenster? 

Wenn jemand mit dem Lautsprecher unzufrieden ist, dann sollte er ihn doch eher an das Fenster von Winkelmann werfen, wo doch sein Name eingraviert ist, dachte John. Er wünschte sich, nicht nachgesehen zu haben, was an sein Fenster geflogen war, denn jetzt merkte er, wie ihn dieser simple Lautsprecher beunruhigte. Dieser banale Gegenstand hatte das Potenzial, in John eine innere Unruhe auszulösen, die er wirklich nicht gebrauchen konnte. Von innerer Unruhe hatte er selbst genug. 

Nun, es war weniger der Lautsprecher an sich, sondern die Tatsache, dass er gegen Johns Fenster geflogen war. Wer warf denn bitte einen Lautsprecher an Johns Fenster? Derjenige wusste also, wo John wohnte. Und zwar nicht nur die Adresse, sondern auch genau, in welcher Wohnung John zuhause war. Das war es, was John richtig nervös machte. Wer? Warum? Wie? Die Fragen spukten ihm durch den Kopf und seine Hände fingen an, zu zittern.

Unsicher schaute sich John um, aber hier unten im Garten waren keine anderen Leute zu sehen. Es würde vermutlich niemand mitbekommen haben, wer den Lautsprecher geworfen hatte. John ging eilig um das Haus herum und zur Haustür hinein. Glücklicherweise hatte er sie offen stehen lassen, dann musste er sich jetzt nicht mehr mit dem Schlüssel plagen.

Seine Wohnungstür hingegen hatte John zugezogen und deshalb suchte er schon im Aufzug nach dem Schlüssel in seiner Hosentasche. Der Aufzug ging auf und John lief - immer noch in der Hosentasche suchend - hinaus. Er fand den dämlichen Schlüssel einfach nicht. Was er aber fand, war ein Loch in der Hosentasche. Ihm wurde heiß und kalt, als er das Loch ertastete. "Scheiße", hauchte er und ließ den Lautsprecher fallen. Eilig tastete er das ganze Hosenbein ab und fand den Schlüssel dann an seinem Knöchel.

Zum Glück hatte er die Jogginghose an, denn die hatte Gummibänder an den Knöcheln. Der Schlüssel war einfach nur das Hosenbein herunter gefallen und oberhalb von dem Gummi hängen geblieben. John atmete erleichtert aus. "Ein Glück", murmelte er zu sich selbst und hob den Lautsprecher auf. Der war durch den Fall auf den Boden zerbrochen und aus seinem Inneren war etwas herausgefallen. Dort, wo eigentlich die Batterien stecken sollten, war ein zusammengefalteter Zettel.

Zögernd hob John diesen auf. Mit bebenden Fingern faltete er den Zettel auseinander. Es stand nichts darauf. John steckte ihn trotzdem ein, denn er kannte aus seiner Kindheit Stifte, die unsichtbar schreiben konnten und man die Schrift nur mithilfe einer speziellen Lampe sichtbar machen konnte. Vielleicht handelte es sich hierbei um so etwas ähnliches. Dabei fragte er sich, wer sich so viel Aufwand machte und was derjenige damit bezwecken wollte.

Mit Schrecken bemerkte John nun auch, dass jemand vor seiner Wohnungstür stand. Er redete sich ein, da habe sich nur jemand geirrt, denn er kannte die Frau nicht. Sie war klein und rundlich und hatte lange dunkelbraune Haare, die ihr bis fast zur Hüfte gingen. Sie stand mit dem Rücken zu John und hatte ihn dementsprechend nicht kommen sehen. Einen Moment lang überlegte John, einfach anzuhauen und draußen so lange zu warten, bis sie wieder gegangen war.

Aber dann drehte sich die Frau um und John konnte ihr rundes Gesicht sehen. Da fiel der Groschen. Er erkannte sie. Und sie erkannte ihn, denn sowie sie ihn sah, verfinsterte sich ihre Miene. John kam auf sie zu und sagte: "Hallo ... wie kann ich helfen?"

Die Frau holte ein zerknittertes Papier aus ihrer Handtasche und fuchtelte damit vor Johns Gesicht herum. Wegen des Firmenlogos in der oberen Ecke konnte John sofort erkennen, dass es sich um eine Rechnung der Firma "WinkelmannWash" handelte. Die Frau ließ das Papier fallen und John sah unbeteiligt dabei zu, wie es wippend zu Boden segelte und dort mit der bedruckten Seite nach oben liegen blieb. Trotzig verschränkte die Frau ihre voluminösen Arme vor der ebenso voluminösen Brust und erwartete offensichtlich, dass John das Papier aufheben würde. Den Gefallen wollte ihr John nicht tun. Er starrte das Papier weiter an und einen langen Moment sagte niemand etwas.

Dann schnaufte die Frau verächtlich und hob es selbst auf. John vermied es, zu grinsen, denn dann hätte er die Frau wohl richtig provoziert. Ihr Gesicht war gerötet, was John darauf schließen ließ, dass sie aufgeregt war wegen irgendetwas, das mit der Rechnung zu tun hatte.

"Diese Rechnung wurde mir von IHNEN ausgestellt", rief die Frau und zeigte mit dem Finger auf John. Ihr Rufen hallte im leeren Korridor. Sie hielt John das Papier hin und er nahm es in die Hand und ließ seinen Blick darüber schweifen. In der Tat, da stand sein Name drauf. Ja, nun, John hatte eben auch Rechnungen ausgestellt. Er hatte in seiner glorreichen Zeit bei "WinkelmannWash" Kundengespräche geführt, Waschmaschinenteile verkauft und auch Rechnungen ausgestellt. An dieser Rechnung konnte er nichts Seltsames erkennen. Die Frau hatte offenbar zweihundert Waschtrommeln bestellt. Das war eine recht große Bestellung, aber wenn sie sie bestellt hatte, dann war das nun einmal so.

"Ja, das ist eine ganz normale Rechnung", sagte John sachlich. Die Frau atmete hörbar aus und sagte gepresst: "Nein, es ist KEINE ganz normale Rechnung. Ich habe zwanzig Waschtrommeln bestellt. Sie haben mir ZWEIHUNDERT in Rechnung gestellt."

"Tatsächlich?", fragte John erstaunt.

"Tatsächlich", sagte die Frau und schaute ihn feindselig an.

"Oh", sagte John. Und nach einer Weile: "Und warum kommen Sie dann zu meiner Wohnung und rufen nicht einfach beim Kundenservice an?"

"Weil mir dort gesagt wurde, Sie hätten gekündigt und ich würde Sie nicht mehr im Büro antreffen", sagte die Frau, die jetzt genervt klang, als würde John nicht verstehen, dass eins und eins zwei ergibt.

"Ach so. Aber wer hat Ihnen meine Adresse gegeben?", fragte er.

"Das darf ich nicht verraten", sagte sie kühl.

"Ach so."

Stille. Die Frau schnaufte. "Und jetzt?", fragte sie.

"Haben Sie einen Stift?", fragte John.

Die Frau suchte aus ihrer Handtasche einen Kugelschreiber heraus und gab ihn John. Der hielt das Papier an die Wand, die an seine Wohnung grenzte und strich die letzte Null der zweihundert weg. Auch von dem Preis, der ganz unten stand, strich er eine Null weg. Dann unterschrieb er die Rechnung noch einmal, überlegte kurz und schrieb über seine Unterschrift: geändert von. Die Frau sah dem Vorgang mit offenem Mund zu.

Er überreichte ihr das Papier und sagte: "So. Jetzt zufrieden?"

Die Frau nahm das Papier und wollte schon weggehen, da sagte John: "Ach übrigens: haben Sie das an mein Fenster geworfen?" Er hielt den Lautsprecher hoch. Sie streifte ihn mit dem Blick, sagte aber nichts und lief schnell in Richtung Aufzug.

"Das werte ich als Ja", rief John ihr hinterher. Er schüttelte verständnislos den Kopf und schloss die Wohnungstür auf.

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