Kapitel 24 - Neues Leben
Wie geplant fuhr John am Nachmittag zu seinem Neffen. Den ganzen Vormittag lang hatte er vor seinem Laptop gesessen und kein Wort mehr schreiben können. Seine Gedanken waren andauernd zu Tara abgeschweift. John verstand seine eigenen Gefühle nicht mehr. Da verliebte sich einmal eine Frau in ihn und das musste ausgerechnet unter solchen Umständen stattfinden! Es wäre fast lustig, wenn es nicht so ärgerlich wäre, dachte er, während er auf den Bungalow zu lief.
Phil erzählte er nicht nur das, was geschehen war, sondern auch, dass er es zu Papier bringen wollte. Dass er vor hatte, eine Biografie zu schreiben. Mit einer Mischung aus Staunen und Belustigung hörte sich Phil die ganze Geschichte an. Als John fertig war, sagte sein Neffe: "Du bist echt krass, Mann!"
"Danke", sagte John und lachte.
"Die Frau ist auch richtig krass", sagte Phil, "vielleicht passt ihr doch zusammen. Ihr seid beide richtig ... krass drauf."
"Aber das, was sie mit mir abgezogen hat, ist schon etwas, das man nicht so leicht vergisst. Ich werde immer daran denken müssen, wenn ich sie sehe."
"Vielleicht heilt die Zeit das", sagte Phil und schaute nachdenklich auf seinen Couchtisch.
"Das wird sich noch zeigen", sagte John.
"Gib ihr doch noch eine Chance. Sprecht euch aus. Vielleicht wird es ja doch noch was mit euch beiden", sagte Phil und lehnte sich im Sofa zurück.
"Weißt du, wie das sich anfühlt, von jemandem gejagt zu werden, den du nicht sehen kannst? Wenn von dir Suchplakate in der ganzen Stadt hängen und du nicht weißt, wer dahinter steckt?", fragte John.
Phil schaute ihn einige Sekunden lang an, dann schaute er weg. John nickte ihm vielsagend zu.
"Außerdem hat sie mich für ein Arschloch gehalten. Das hat sie genau so gesagt. Sie dachte, ich sei ein Arschloch, das man in seine Schranken weisen muss", legte John nach.
Phil lachte und hob die Hände. "Mich musst du nicht überzeugen. Du musst es wissen. Was ist besser für dich? Einen Groll auf Tara zu hegen oder ihr zu vergeben. Ich glaube, das ist der erste Schritt. Der erste Schritt ist, sie nicht mehr deswegen zu hassen. Oder zumindest nicht mehr diese eine Tat in den Vordergrund zu heben, wenn du an sie denkst. Wie du erzählt hast, hattet ihr auch viele schöne Momente zusammen. Willst du zulassen, dass das, was sie getan hat, alles Schöne überschattet?", fragte Phil.
John stöhnte und ließ sich gespielt theatralisch in die Sofalehne fallen. "Phil, der Philosoph. Danke sehr! Jetzt machst du es fast noch schlimmer."
Beide lachten und Phil sagte: "Tja, du wolltest meinen Rat. Hier ist er. Ich weiß, ich kann mich da schwer hineinversetzen, weil ich es ja nicht selber erlebt habe. Aber aus dem, was ich herausgehört habe, würde ich sagen, dass du noch einmal mit ihr sprechen solltest. Was hast du schon zu verlieren? Im besten Fall kommt ihr auf einen Nenner und merkt, dass ihr doch zusammen gehört. Im schlimmsten Fall geht ihr eben auseinander."
John dachte über Phils Worte nach. In seinem Inneren suchte er das Gefühl, das er Tara gegenüber gehabt hatte. Dieses Gefühl, als seien sie zwei gleich gepolte Magnete, die sich gegenseitig abstießen. War dieses Gefühl eine Vorahnung gewesen? Hatte er es selbst schon gefühlt, bevor sie es ihm gesagt hatte? Aus seiner jetzigen Perspektive aus erschien das als durchaus möglich.
Aber was bedeutete das für die Gegenwart? Würde er ihr gegenüber dasselbe fühlen, wenn er sie jetzt treffen würde? Oder wäre die Anziehung wieder da, jetzt, wo nichts mehr ungesagt war. War es das? Waren die Steckbriefe ihre einzige Aktion gewesen oder hatte sie ihm womöglich auch den Lautsprecher ans Fenster geworfen und ihm die Kundin zu seiner Privatwohnung gelotst?
"Phil, was würdest du sagen, was mit dem Lautsprecher gewesen sein könnte? Meinst du, dass sie das getan hat? Oder war es bloß Zufall und der Gaul geht mit meiner Fantasie durch?", fragte John.
"Schwer zu sagen. Aber ich denke, dass sie es dir gleich auch gesagt hätte, wenn sie es gewesen wäre. Ich meine, wo sie dir das mit dem Steckbrief schon gestanden hat, hätte sie alles andere doch auch nicht weiter verheimlichen müssen."
"Hmm, da ist was dran. Und die Frau mit der fehlerhaften Rechnung? Die vor meiner Wohnung stand?"
"Seien wir mal ehrlich, John. Wenn dir dein Job schon seit längerem nicht mehr gefallen hat, dann ist doch die Wahrscheinlichkeit recht groß, dass du in letzter Zeit mehr Fehler gemacht hast als sonst. Und klar, ich halte es für wahrscheinlich, dass Winkelmann oder sonst wer der Frau deiner Privatadresse gegeben hat. Um dir noch eins auszuwischen. Mann, glaubst du, dass so einer wie Winkelmann es gern sieht, wenn ein Mitarbeiter auf die Art kündigt, wie du es gemacht hast? Natürlich nicht! So einer wie der muss doch immer das letzte Wort haben", sagte Phil und schnaubte.
John grinste. Sein Neffe hatte sich in Rage geredet und war dabei fast aus dem Sofa aufgestanden. Jetzt lehnte sich Phil wieder entspannt zurück.
"Hast recht. Ich sollte nicht alles auf Tara schieben. Natürlich hat sie alles dafür getan, dass ich sie jetzt unter Generalverdacht stelle. Aber wie du gesagt hast, verdient sie wohl eine zweite Chance", sagte John nachdenklich.
"Mann, die Frau ist dir siebenhundert Kilometer hinterher gefahren. Natürlich verdient sie eine zweite Chance!", sagte Phil und klopfte auf die Sofalehne. John lachte auf.
"Ja, ja. Du hast ja recht. Welche Frau fährt einem schon in ein anderes Land hinterher, wenn sie nicht total verliebt ist? Und wenn ich ehrlich bin, hat sie mir am Anfang ja auch gefallen. Ich sag' dir eins: wenn sie nicht diese Aktion gestartet hätte, dann wären wir ziemlich sicher jetzt ein Paar. Ziemlich sicher. Denn wir hatten so einen guten Draht zueinander. Als wir im Wald spazieren gegangen waren, das war so schön gewesen. Mann, dann säßen wir jetzt hier zu dritt und ich würde sie dir als meine Freundin vorstellen."
John schaute verträumt auf den Boden von Phils Wohnzimmer. Er sah durch den Laminatboden hindurch und hatte sich und Tara vor Augen, wie sie gemeinsam durch den Wald liefen. Er mit seinen Businessschuhen und sie in ihrem Bikerdress. Sie hatte ihm gezeigt, wie das Leben aussehen konnte. Sie hatte ihn inspiriert. War es nicht dieses Erlebnis gewesen, das ihn dazu bewogen hatte, seine Biografie anzufangen? Hatte nicht damals ihre Kreativität auf ihn abgefärbt?
"Wir werden die Motive des anderen manchmal nie ganz verstehen", sagte Phil nachdenklich. Es klang, als spräche er mehr zu sich selbst. John sah ihn an.
"Wie meinst du?", fragte er.
"Wir werden uns nie komplett in Tara hineinversetzen können. Wir wollen verstehen, was sie dazu gebracht hat, die Steckbriefe in der ganzen Stadt aufzuhängen, aber wir werden es nie restlos verstehen können. Da wird immer ein Funke Unverständnis bleiben. Wir werden immer den Kopf darüber schütteln, wenn ihre Racheaktion zur Sprache kommt. Wir können nur erahnen, dass sie sich an dir stellvertretend für alle Männer, die sie jemals enttäuscht haben, rächen wollte. Dass sie in dir den Inbegriff dessen gesehen hat, was sie nicht toleriert. Sie hat es dir ja gesagt: solche Typen wie du regen sie auf. Typen wie du. Aber wir wissen eben nicht genau, was sie erlebt hat. Vorschnell zu urteilen ist in so einer Situation genau das, was wir nicht tun sollten", sagte Phil.
Mit ehrlichem Erstaunen taxierte John seinen Neffen. So hatte er die Sache noch nicht betrachtet. Er hatte nur die Tat gesehen, die Tara begangen hatte. Er hatte Vermutungen darüber angestellt, warum sie es getan hatte. Aber er hatte dabei außer Acht gelassen, was Tara persönlich umgetrieben haben könnte. Die Tatsache, dass sie schon einmal schlechte Erfahrungen mit Männern wie John gehabt hatte, hatte John durchaus in Betracht gezogen. Aber nur oberflächlich. Er hatte es missbilligend als Erklärung wahrgenommen, warum Tara ihre Racheaktion gestartet hatte, aber er hatte es nicht im Kontext ihrer Gefühle betrachtet.
Ja, er hatte sie verurteilt. Er hatte es in dem Moment getan, in dem sie ihm offenbart hatte, dass die Steckbriefe von ihr ausgegangen waren. Ihr Rachemotiv hatte er sofort abgelehnt. Er hatte Tara in eine Schublade gesteckt und dort harrte sie bis jetzt aus. Tara hatte einen Fehler gemacht. Das bedeutete aber nicht, dass sie ein von Grund auf verwerflicher Charakter war.
"Sie hatte einen Grund dafür, dass sie das getan hat. Wir müssen diesen Grund nicht billigen. Aber wir können versuchen, es zu verstehen", sagte Phil weiter.
"Und verstehen heißt vergeben?", fragte John. Er hatte den Satz als Aussage formulieren wollen, aber unwillkürlich war seine Stimme am Satzende höher geworden und es klang wie eine Frage.
"Verstehen muss nicht vergeben heißen, aber es kann das heißen. Indem du sie verstehst, wird dir der Weg geebnet, ihr zu verzeihen. Wie gesagt, du musst sie nicht lieben, wenn du sie nicht mehr lieben kannst. Aber für dich und für sie wird das Leben leichter, wenn du ihr verzeihen kannst. Oder eben versuchst, sie zu verstehen", sagte Phil.
John ließ sich die Gedanken seines Neffen durch den Kopf gehen. Es war gut, sich die Meinung von jemandem einzuholen, der das Geschehene mit deutlich mehr Abstand betrachten konnte. Phil hatte John Denkanstösse gegeben und jetzt war es an John, etwas daraus zu machen. Er selbst würde noch für sich darüber nachdenken müssen. Er würde noch viel nachdenken müssen. Aber irgendwann würde er zu einer Lösung kommen. Zu einer Lösung für sich und für Tara.
Phil fuhr John wieder nach hause. Es war ein Uhr in der Nacht. Die Straßenlaternen zogen an ihm vorüber. Aus manchen Fenstern schien noch Licht. Viele Jalousien waren schon herunter gelassen. Hinter diesen Fenstern wurde geschlafen, fern gesehen, gelacht, geredet, geweint, nachgedacht. Es wurde gelesen, vielleicht auch noch gekocht oder geputzt. Phil hielt direkt vor der Eingangstür des Wohnhauses an.
"Mach's gut, Phil. Und danke fürs fahren", sagte John und hatte schon die Hand am Türgriff.
"Kein Problem. Und denk nochmal über dich und Tara nach. Vielleicht wird es noch", sagte Phil und klopfte John auf die Schulter. Der nickte knapp und stieg dann aus.
Als Phil weggefahren war, stand John noch eine Weile vor der Haustür und schaute sein Spiegelbild in der Glastür an. Wen sah er? Den neuen John. Der neue John, der jetzt wusste, was er wollte und irgendwie doch nicht. Das wird schon, dachte er und schloss die Tür auf.
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