Kapitel 22 - Zuhause

Beinahe hatte er befürchtet, seinen Wohnungsschlüssel verloren zu haben, aber er fand ihn doch. Ein bisschen kam sich John vor wie ein Fremder, als er vor der Haustür seines Wohnhauses stand und sein Spiegelbild in der Glasscheibe sah. Fast erkannte er sich selbst nicht wieder. Seit einigen Tagen hatte er sich nicht mehr rasiert. Im Rausch der vielen Ereignisse musste es ihm vollkommen entfallen sein. Seine Haare waren zerzaust und unter seinen Armen hatten sich große Schweißflecken auf seinem T-Shirt gebildet.

Eine Dusche würde unerlässlich sein. Bevor er alles andere in Angriff nehmen würde, müsste er erst einmal anständig duschen und sich rasieren. Oder noch besser: ein vortreffliches Vollbad nehmen. Auch wenn der neue John keinen Wert mehr darauf legte, anderen zu gefallen, so gefiel es dem neuen John trotzdem selbst auch besser, gepflegt auszusehen.

Oben, an der Tür seiner Wohnung angekommen, erwartete er alles mögliche und unmögliche, sobald er eintreten würde. Wenn man nach ihm gesucht haben sollte, dann würde wahrscheinlich die ganze Bude auf links gekrempelt worden sein. Daher wunderte es ihn, dass die Tür nicht aufgebrochen war. Aber vielleicht hatte man auch einen Schlüsseldienst gerufen oder ... Hör auf zu spinnen, ermahnte er sich in Gedanken. Wenn seine Wohnung von wem auch immer durchsucht worden wäre, dann hätte es ihm seine Mutter doch am Telefon gesagt.

Mit einem gemischten Gefühl im Bauch schloss John die Tür auf und trat ein. Alles wie immer. Die Luft roch abgestanden, weil die Fenster geschlossen gewesen waren, aber ansonsten war alles wie immer. Das wohlige Gefühl, nach hause gekommen zu sein, umarmte John und zog ihn in die Wohnung. Als sei er nie weg gewesen, öffnete er erst einmal die Fenster und ließ sich dann ein Bad ein. Lustig, das Vollbad war eines der letzten Dinge, die er vor seiner unfreiwilligen Abreise in dieser Wohnung getan hatte, und es war eines der ersten Dinge, die er nach seiner Ankunft tat.

Während das Wasser sprudelnd in die Wanne rauschte, traf ihn eine Erkenntnis wie ein Schlag: Tara hatte seine Adresse. Oh nein, an Tara hatte er gar nicht mehr gedacht. Er hatte sie gekonnt verdrängt, dabei würde sie ihn garantiert aufsuchen. Sie würde ihn zur Rede stellen wollen. Und für John würde es keine Ausrede geben, warum er sich einfach so, ohne Bescheid zu sagen, davon geschlichen hatte.

Ja, er hatte Tara einfach so siebenhundert Kilometer entfernt sitzen lassen. Das war eine Nummer, das musste man erst einmal nachmachen! Wenn sie kommen sollte, dann würde John sich entschuldigen müssen. Neuer John hin oder her. Der alte und der neue John würden sich beide gleichermaßen entschuldigen, denn wie der alte John hatte der neue John natürlich auch ein Gefühl dafür, was Recht und was Unrecht war. Nur würde eben der neue John seine Gefühle nicht mehr verbergen. Er würde sagen, dass es zwischen den beiden nicht passte und dass sie sich nicht mehr sehen sollten. Und dann würde er darauf hoffen, dass sich die Sache erledigt hatte.

Und wenn Tara es aber nicht verstehen würde? War John auf ihre Gunst angewiesen, damit er seine Ruhe hatte? Oder würde sie hinter ihm her sein, so wie sie es in Frankreich gewesen war? Kaum hatte er sein Zimmer verlassen, war sie ihm gefolgt. Würde sie das beibehalten, dann würde John wie auf heißen Kohlen leben. Er hoffte, dass es nicht so weit kommen würde. Es wird nicht soweit kommen, sagte er sich immer und immer wieder in Gedanken.

Als die Wanne voll war, schüttete John sein Duschgel hinein und stieg dann in die Wanne. Es war ein endlos schönes Gefühl, das warme Wasser auf der Haut zu spüren und von dem herrlichen Duft des Duschgels umschwärmt zu werden. John genoss den Moment und versuchte das, was ihm die ganze Zeit nicht gelungen war: loszulassen. Das leise Platschen des Wassers, wenn er sich bewegte, erleichterte ihm das ungemein. Einige Momente war alles weit weg.

Der neue John hatte zu sich gefunden. Als er wieder aus der Wanne stieg und sich mit seinem flauschigen Handtuch abtrocknete, fühlte er sich ganz bei sich. Er rasierte sich, machte sich die Haare und zog sich frische Kleidung an. Nun war er wieder der frische John, aber in neu. Der neue, frische John, der sich gut in seiner Haut fühlte. Der John, der auf alles eine Antwort wusste.

Was würde er zuerst tun? Auf der Fahrt nach hause hatte er sich schon Kapitelnamen für seine Biografie überlegt. Er war schon ganz heiß darauf, endlich alles zu Papier zu bringen und er wollte es am liebsten sofort tun, um nichts zu vergessen. Aber seine Familie ging jetzt vor. Er würde alles erzählen, was sich in den letzten Tagen zugetragen hatte. Sie würden alle Augen machen!

John wollte schon aus Gewohnheit seinen Autoschlüssel nehmen, da fiel ihm ein, dass sein Auto nicht fahrbereit war. Dass es alles andere als fahrbereit war. Dass es vermutlich auf irgendeinem Schrottplatz stand. Oder wo auch immer. Im selben Moment fiel ihm ein, dass er den Briefkasten noch nicht geleert hatte. Was dort drin auf ihn warten würde? Bestimmt die Aufforderung, seinen Führerschein einzuschicken. Und vielleicht noch mehr Unannehmlichkeiten. Das würde er für den Moment hinten anstellen.

An der Bushaltestelle wartend nahm sich John vor, sich ein Fahrrad zu besorgen. Das würde für sich für die nächsten Monate als ziemlich praktisch erweisen. Damit würde er wenigstens mobil und unabhängig sein, wenngleich es auch Einbußen mit sich brachte, was den Komfort anging. Keine geschützte Blechhülle bei nächtlichen Fahrten mehr, dafür Antrieb mit Muskelkraft.

Beim Fahrer kaufte sich John ein Ticket. Als er das kleine Stück Papier in den Händen hielt, fiel ihm auf, dass er schon lange nicht mehr gezittert hatte. Seine Hände waren ganz ruhig. Gut, er fuhr jetzt regulär mit einem Ticket und hatte keinen Grund, zu zittern. Aber in den letzten Tagen hätte er allen Grund dazu gehabt. Nachts in der Telefonzelle zum Beispiel. Hatte er da gezittert? Er konnte sich nicht daran erinnern, es getan zu haben. Vielleicht hatte er es ja, aber wenn, dann lag es schon so weit weg, dass er sich nicht mehr entsinnen konnte. Aber jetzt war er ganz ruhig. Obwohl noch einiges vor ihm war. Obwohl noch Bußgeld und Führerscheinentzug über ihn hereinbrechen würden.

Johns Eltern waren über den unangekündigten Besuch sehr überrascht. Sehr oft war ihr Sohn in den letzten Monaten und vielleicht auch Jahren nicht mehr vorbei gekommen. Umso größer war ihre Freude, als sie ihm die Tür öffneten. Die Freude beruhte auch auf Gegenseitigkeit, denn John war hocherfreut, die beiden lieben Menschen wieder zu besuchen, die er in letzter Zeit zu häufig vernachlässigt hatte.

"John, komm rein! Wenn du dich angekündigt hättest, dann hätte ich noch einen Kuchen gebacken", sagte sein Vater und grinste Johns Mutter verschmitzt an. Die hob die Hände und sagte: "Bloß nicht, sonst darf ich hinterher die ganze Küche von Grund auf kernsanieren!"

"Jetzt erzähl uns mal, wie war es denn in Frankreich?", fragte sein Vater, als sich die drei im hellen Wohnzimmer niedergelassen hatte. John ließ sich in die bequemen Polster des hellbraunen Sofas sinken und sagte: "Tja, da muss ich euch einiges erzählen."

Seine Eltern sahen sich gegenseitig an. So redselig kannten sie ihren Jüngsten gar nicht. Das war auch John selbst klar. Wie würden sie dann Staunen, wenn sie erst hörten, dass er in wenigen Tagen von einer Kündigung über ein Suchplakat bis hin zur Partnersuche im Schnelldurchlauf das erlebt hatte, was andere in einem Jahr nicht erlebten!

Erst gegen Mitternacht verließ John das Haus seiner Eltern. Die hatten ihm erst gar nicht abkaufen wollen, dass er das wirklich alles so erlebt hatte. Von den Steckbriefen war ihnen nichts aufgefallen. Johns Vater war zwar in der Woche in der Innenstadt gewesen, ihm war aber keinerlei Steckbrief aufgefallen. Immer wieder versicherte er, dass er kein ein Foto seines Sohnes in den Schaufensterscheiben hatte hängen sehen. Das stimmte John nachdenklich, er war gleichzeitig aber auch froh darüber. Denn so rückten diese seltsamen Plakate immer weiter in den Hintergrund, bis er sich selbst fragte, ob er sie nicht einfach nur fantasiert hatte.

Mit diesem Gedanken liebäugelte John am meisten, denn es wäre die einfachste Lösung, wenn auch die gruseligste, denn wenn er sich die Plakate nur ersponnen haben sollte, dann wäre das ein Grund zur Sorge. Andererseits quälte ihn die Frage, was es damit auf sich hatte, sollten die Plakate wirklich existiert haben. Dieses ungeklärte Problem lag ihm auf der Seele und gleichzeitig hatte er keine Idee, wie er zu einer Lösung kommen könnte.

Er fand sich damit ab, dass er das Problem am heutigen Tag nicht mehr lösen würde. Dafür vielleicht an einem anderen Tag. Die Sache auf sich beruhen zu lassen, kam aber nicht infrage. Vielleicht hatte seine Schwester etwas mitbekommen? Oder Phil? Er würde sie fragen. Auch, wenn er dann komische Blicke in Kauf nehmen müsste.

Wie fühlten sich die Blicke an, wenn man Leuten etwas erzählte, das diese überhaupt nicht glauben wollten? Wenn man etwas erzählte und keiner kaufte es einem ab? Die Blicke waren schwer zu ertragen. Doch der neue John steckte sie viel besser weg. Natürlich hatten seine Eltern in angesehen, als hätte er sie gerade von der Existenz des Weihnachtsmannes überreden wollen. Aber er wusste, was er gesehen hatte. Und er hatte ein Gefühl, dass sich dieses Problem auch lösen würde.


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