Kapitel 21 - Weg
Mit einer Supermarkttüte voller Kleidungsstücke und Lebensmitteln in der Hand, lief John durch die Straßen. Der Nachmittag war angebrochen und viele Leute waren in ihren Häusern. Die Hitze hatte sich drückend über die Stadt gesenkt und wer nicht musste, der lief auch nicht um diese Zeit draußen herum. Aber John musste. Er war auf dem Weg nach hause.
Innerhalb weniger Minuten hatte er sein Hab und Gut zusammen gepackt und hatte den Zimmerschlüssel bei der alten Dame am Empfang abgegeben. Die war verdutzt gewesen, weil er bereits nach einem Tag hatte abreisen wollen. John hatte es sehr eilig gehabt, da er Tara nicht über den Weg hatte laufen wollen und hatte auch auf das Geld verzichtet, das er für das Zimmer für die drei Tage bezahlt hatte, die er dann doch nicht bis zum Ende geblieben war. Zum einen konnte er nicht gut genug Französisch, um darüber zu diskutieren, zum anderen wollte er sich so schnell wie möglich vom Acker machen.
Als John sein Zimmer verlassen hatte, um ans Meer zu gehen, hatte Tara ihn schließlich auch beobachtet. Er musste sich also darauf verlassen, dass sie gerade mit etwas anderem beschäftigt war, als John im Auge zu behalten. Um die Wahrscheinlichkeit, von Tara gesehen zu werden, zu minimieren, sah John zu, dass er das Haus so schnell und mit so wenig Aufsehen wie möglich verließ.
Und jetzt lief er eilig die Straße entlang, ohne sich umzuschauen. Wohin er lief, wusste er selbst nicht. Wahrscheinlich zu einem Bahnhof. Seine eigene Orientierungslosigkeit ging ihm allmählich selbst auf den Wecker. Sowohl die Orientierungslosigkeit im räumlichen Sinne, als auch die im gedanklichen Sinne. "Du weißt nicht, was du willst, du weißt nicht, wohin du willst. Was weißt du eigentlich?", fragte John sich selbst. Als er sah, dass sich ein paar Leute nach ihm umdrehten, lief er noch ein wenig schneller.
Jetzt würde John endlich einen Plan aufstellen. Punkt eins: er musste nach Deutschland gelangen. Er würde also einen Bahnhof suchen. Irgendwo musste es doch hier einen geben. Punkt zwei: er musste zuhause alle Angelegenheiten klären. Er musste sich um sein Auto kümmern, er würde seinen Führerschein einsenden müssen. Bestimmt quillt mein Briefkasten mittlerweile über, dachte John, da fiel ihm ein, dass er gar nicht so lange weg gewesen war. Es kam nur ihm vor wie eine halbe Ewigkeit.
Dann noch Punkt drei: er musste sich endlich darüber klar werden, wo es in seinem Leben hingehen sollte. Er musste etwas finden, das ihm Spaß machte und das er gerne tat. Keinen Scheiß-Job mehr. Nur noch das, was er mit Herz und Seele tat. Bei dem Gedanken fühlte sich John um einiges leichter. Wie gut es sich anfühlte, wenn man einen Plan hatte! Wenn man schon in etwa wusste, was es zu tun gab.
Klar, es hatte auch seinen Reiz gehabt, zuhause herum zu lungern, nachdem er seinen Job gekündigt hatte. Aber er hatte etwas angefangen, das ihm zu gefallen schien: er hatte angefangen, zu schreiben. Und in der Zwischenzeit war noch ein Haufen Material dazu gekommen. Er würde darüber schreiben, wie er wegen eines Steckbriefs in Südfrankreich gelandet war. Er würde über alles schreiben, was ihm passiert war. Zu Schreiben gab es wirklich genug.
John war so in Gedanken gewesen, dass er seine Umgebung nur noch am Rande wahrgenommen hatte. Er war meterweit gelaufen, ohne die Gegend bewusst wahrgenommen zu haben. In weiter Ferne sah er nun ein Schild, das aber noch so weit entfernt war, das er es noch nicht lesen konnte. Er kniff die Augen zusammen. "Gare". Bahnhof. Bahnhof! Na endlich! John jubelte und sah sich verstohlen um. Nein, es hatte niemand seinen spontanen Freudenausbruch mitbekommen. John war einer der wenigen, die bei dieser Hitze auf der Straße war.
Er folgte dem Wegweiser und sah bald darauf das Bahnhofsgebäude. Ein paar Leute warteten auf ihren Zug, aber insgesamt war hier nicht viel los. Der nächste Zug nach Paris würde - so der Fahrplan - in zwei Stunden abfahren. Bis dahin hatte John genügend Zeit, sich eine Fahrkarte zu organisieren und noch etwas zu essen.
Nachdem er seine Fahrkarte hatte, setzte er sich auf eine Bank ins Freie und stellte die Supermarkttüte neben sich ab. Alles Essbare, das er noch dabei hatte, packte er aus und stopfte es förmlich in sich hinein. Was für einen Hunger er hatte! Dummerweise hatte er nicht an Getränke gedacht. In der Flasche Limonade, die er sich gekauft hatte, war nicht mehr viel Inhalt. John warf einen Blick auf die Uhr, die an der Wand des Bahnhofsgebäudes hing. Mehr als eine Stunde hatte er noch. Dann hatte er noch genug Zeit, im Bahnhof nach einem völlig überteuerten Wasser zu suchen.
Die übrige Zeit bis zur Abfahrt verschlief John beinahe völlig. Erst als die Durchsage kam, wurde er aus dem süßen Schlummer gerissen und machte sich auf den Weg zum Zug. Jetzt würde er wieder nach hause kommen. Bei dem Gedanken regte sich ein Gefühl der Vorfreude in ihm. Zuhause. Das Wort klang wie eine cremig-süße Praline in seinem Mund. Ja, er freute sich darauf, bald wieder zuhause zu sein. Er freute sich auf seine Wohnung, auf seinen Panoramablick und auf sein Badezimmer mit der Badewanne. Er freute sich auf seine Kaffeemaschine und auf sein Bett. Er freute sich darauf, wieder eine grandiose Lachs-Tagliatelle bestellen zu können. Die zarten Lachsstücke ließen ihm alleine bei der Vorstellung davon das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Sowie der Zug mit John als Passagier aus dem Bahnhof rollte, sagte John leise zu sich selbst: "Tschüß, Frankreich."
Der junge Mann, der ihm direkt gegenüber saß, nahm kurz seine Kopfhörer ab und fragte: "Pardon?"
"Rien", sagte John und schaute aus dem Fenster. Die bildschöne Landschaft zog an ihm vorbei. Er hätte noch hier bleiben können. Wenigstens ein paar Tage. Und vielleicht hätte er das auch getan, wenn nicht Tara plötzlich aufgetaucht wäre. Bis zum jetzigen Zeitpunkt konnte John nicht genau sagen, was es war, aber wenn er Tara näher kam, hatte er dauernd das Gefühl, sich von ihr entfernen zu müssen.
In seiner Vorstellung sah John Tara, wie sie vielleicht noch heute oder erst morgen an die Tür klopfte, hinter der sie John vermutete. Wahrscheinlich würde das Zimmer bis dahin wieder neu vermietet sein. Dann würde eine wildfremde Person die Tür öffnen und der ersten Schreckreaktion von Tara würde entweder Wut oder Enttäuschung folgen. Es war nicht gerade die feine Art, eine Dame sitzen zu lassen. Aber der neue John legte sowieso keinen großen Wert mehr auf die feine Art. Außer, wenn es sein musste.
Er war froh, dass er Tara noch nicht mit der neuen Nummer seines Tastenhandys angerufen hatte. Oh ja, das Handy. Das hätte er sich eigentlich auch nicht kaufen müssen. Er hatte es nicht einmal benutzt. Gut, er hatte auch damit gerechnet, länger in Frankreich zu bleiben. Zumindest ein paar Tage länger. Aber Taras Ankunft hatte seine Abreise eingeläutet.
Auch wenn John das Handy umsonst gekauft hatte, so war es besser so. Besser, dass er Tara damit nicht angerufen hatte. Sonst würde sie ihn wahrscheinlich ständig darauf kontaktieren. Und eigentlich wollte John nichts mehr von ihr wissen. Ja, es war eine schöne Zeit gewesen, die sie ihm beschert hatte. Eine kurze, aber schöne Zeit und John hatte endlich einmal Kontakt zu einer Frau gehabt. Jedoch hatte ihm die kurze Zeit gereicht, um ihm zu zeigen, dass Tara nicht die richtige Frau für ihn war. Bei ihr hatte er kein gutes Gefühl und da konnte er sich noch so geschickt selbst austricksen, es brachte nichts. Seine Gefühle ihr gegenüber waren einfach nicht gut.
Dass er Gefühle ihr gegenüber hatte, konnte er nicht leugnen. Aber ebenso wenig ließ sich leugnen, dass die Gefühle ihr gegenüber mit den Gefühlen vergleichbar waren, die man hatte, kurz bevor man in ein Auto stieg und von der schwammigen Ahnung eines nahenden Unfalls überkommen wurde.
John versuchte, seine Gedanken abzulenken. Weg von Tara und hin zu seinem eigenen Leben. Jetzt würde er alles auf die Reihe bekommen. Er hatte Abstand genommen, hatte Zeit gehabt, alles aus der Ferne zu betrachten. Ja, es war ein sehr großer Abstand gewesen, den er genommen hatte und ohne diese seltsamen Steckbriefe hätte er es auch nie getan, aber es war einfach nötig gewesen, damit John nachdenken konnte.
Und ja, er hatte eine ganze Menge nachgedacht. Dabei war er immer noch nicht am Ziel angekommen. Nein, er wusste immer noch nicht konkret, was er machen würde. Aber die groben Umrisse seines Plans waren schon in seiner Vorstellung gezeichnet und er wusste, dass er nie wieder mehr etwas tun würde, bei dem er nicht vollkommen dahinter stand.
Ein erster Schritt in diese Richtung war es gewesen, Tara zurück zu lassen. Der alte John hätte das nicht getan. Der alte John hätte sich zu sehr darüber gefreut, dass sich endlich ein weibliches Wesen erbarmte und ihm Aufmerksamkeit schenkte. Er hätte seine eigenen Gefühle unterdrückt, verleugnet oder umgedeutet und wäre bei Tara geblieben.
Aber nicht dieser John. Dieser John würde nur noch das tun, was ihm gut tat. Nie mehr das, was andere von ihm erwarteten. Er würde an seiner Biografie weiterschreiben. Vielleicht würde er einen Verleger dafür finden und vielleicht gab es da draußen sogar Leute, die sie lesen würden. John, der Schriftsteller. Für den neuen John war das durchaus möglich. Für den neuen John war nichts mehr unmöglich. Für den neuen John gab es nur noch die Grenzen, die er sich selber setzte und er würde zusehen, dass es so wenige Grenzen wie möglich werden würden.
Die Lavendelfelder zogen in der Ferne an dem Zug vorbei, während John diese Gedanken durch den Kopf gingen. Er fühlte sich stark. Diese Reise hätte er niemals unternommen, wenn er nicht durch die Umstände dazu genötigt worden wäre. Hätte er dann auch niemals zu dieser Erkenntnis gefunden? Niemals seine innere Stärke erkannt? Das zu behaupten, war schwierig, denn man konnte nicht wissen, was gewesen wäre, wenn man einen anderen Weg eingeschlagen hätte.
Aber eines wusste John: so viel er über sich selbst gelernt hatte, er freute sich doch, seine Familie wieder zu sehen. In den nächsten Tagen - und das nahm er sich fest vor - würde er seine Eltern besuchen, seine Schwester und natürlich Phil. Es gab viel zu erzählen, es war ja schließlich so viel passiert.
Bei der Vorstellung, wie alle Menschen, die John kannte, in den letzten Tagen ihrem alltäglichen Leben nachgegangen waren, während John sich in den Süden Frankreichs begeben hatte, musste er grinsen. Während ihre Leben einfach weitergegangen waren, war John völlig orientierungslos durch die Weltgeschichte gegeistert und hatte sich selbst gesucht. Ob er sich nun endlich gefunden hatte? Schwer zu beantworten. Das würde sich wohl erst zeigen müssen.
Der Zug machte Halt, Leute stiegen aus, andere Leute stiegen ein. John blieb als einziger bei jeder Station sitzen. Bis zur Endhaltestelle. Er stellte sich vor, wie die ganzen anderen Menschen, mit denen er im Zug saß, in ihre Wohnungen und Häuser gingen und ihren französischen Leben nachgingen. Hatten sie eine andere Tagesroutine als John? Was trieb sie um? Was aßen sie gerne, was unternahmen sie am Wochenende?
Johns Gedanken drifteten ab in träumerische Spekulationen über das Leben von wildfremden Menschen aus dem Zug. Es war eine willkommene Abwechslung zu den unangenehmen Gedanken, die ihn die letzten Tage geplagt hatten. Er gab sich diesen Mutmaßungen über das Leben der anderen hin und versank darin wie in einem angenehmen Tagtraum.
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