Kapitel 2 - Eine Tradition

Obwohl John den Schlüssel wieder hatte, ließ das Zittern seiner Hände nicht so schnell nach. Er war nach wie vor aufgedreht, da konnte er sich noch so oft selber vorsagen, dass alles in Ordnung sei, seine Hände zitterten immer noch.

John nahm sich deshalb aus der gläsernen Vitrine, die genau gegenüber von den Panoramafenstern stand, die Glaskaraffe mit Whiskey heraus und schenkte sich einen Schluck der bernsteinfarbenen Flüssigkeit in ein Wasserglas ein. Er erhoffte sich davon, dass wenigstens das Zittern wegging, aber das tat es nicht. Er stellte den Whiskey wieder zurück und nahm eine Hand in die andere. Dann schaute er auf seine Hände herunter und sagte zu ihnen: "Hört auf damit. Es ist alles gut. Hört bitte auf zu zittern. Das macht mich nervös."

Um sich abzulenken blickte er aus dem Fenster, aber nicht einmal die schöne Aussicht auf die Weite der Stadt, auf die Leute, die an den Ampeln warteten, die Fahrradfahrer, die den Verkehr ausbremsten und die leuchtenden Reklameschilder konnten ihn ablenken. John versuchte zu ergründen, was genau ihn überhaupt so nervös machte. War es wirklich der Schlüssel oder vielleicht etwas ganz anderes?

Da fiel ihm ein, dass da wirklich noch etwas war. Ja, da war etwas gewesen. Der Termin. Der verpasste Termin heute morgen. Sein Vorgesetzter. Und der Wiesemann. John wunderte sich, warum er noch keinen Anruf von seinem Chef erhalten hatte. Wenn sich dieser Wiesemann beschwert haben sollte - und John ging davon aus, dass er das recht zügig machen würde, so wie er am Telefon geklungen hatte - dann hätte er auch ruck zuck einen Anruf vom Chef bekommen.

John wusste selber, dass er mit seiner Arbeitseinstellung nicht der Typ 'Mitarbeiter des Monats' war und dass sein Chef es kaum erwarten konnte, ihn endlich los zu werden. Ja, John machte seine Arbeit, aber auch nur das. Wenn einige seiner Kollegen Winkelmanns Diener sein wollten, dann konnten sie das ruhig machen. John wusste schon, wofür er bezahlt wurde und wofür nicht. Kaffee holen gehörte nicht dazu. 

Schon seit längerem ahnte John, dass der alte Winkelmann nur auf einen groben Ausrutscher von seinem ungeliebten Mitarbeiter wartete, um ihn endlich entlassen zu können. Gesagt hatte er nie etwas, aber so etwas spürte man. Wie gerne würde der alte Kerl mit einem selbstgefälligen Grinsen auf seinem speckigen Gesicht John die Kündigung überreichen? Es gäbe wahrscheinlich nichts Schöneres für den verdammten Mistkerl.

Aber, so dachte John, den Gefallen tue ich ihm nicht. Nicht er wird mir kündigen. Andersherum wird ein Schuh draus. John hatte nie als Kind davon geträumt, Waschmaschinenersatzteile zu vermitteln. Er hasste seinen Job. Er hasste den Nadelstreifenanzug, den Aktenkoffer und sein Büro. Eigentlich WOLLTE er den Job doch loswerden. Eigentlich wollte er ihn doch kündigen. Und ihm wurde jetzt bewusst, dass er das doch auch die ganze Zeit hätte tun können. Dazu brauchte es keinen Chef, keine Entlassung. Wie mechanisch schnappte sich John sein Handy vom Esstisch (wann hatte er es dorthin gelegt?) und suchte die Nummer von seinem Vorgesetzten. Der hob gleich beim zweiten Klingeln ab.

"Sie wollte ich auch noch anrufen ...", begrüßte Winkelmann ihn kalt.

"Na wunderbar, da bin ich Ihnen zuvorgekommen", schnitt John ihm das Wort ab. "Also ich wollte sagen, dass ich morgen nicht mehr kommen werde. Und übermorgen auch nicht. Den ganzen Monat nicht. Und ..."

"Wollen Sie damit sagen, dass Sie kündigen wollen?", fragte Winkelmann scharf.

"Exakt!", rief John mit aufgesetzter Fröhlichkeit aus.

"Na dann. Ich hindere Sie nicht daran", sagte Winkelmann tonlos.

"Wunderbar! Dann richten Sie bitte den Kollegen viele Grüße aus und adieu!"

John legte auf, ehe Winkelmann noch etwas erwidern konnte. In aller Ruhe legte er das Handy zurück auf den Tisch und stellte sich vor das Panoramafenster. Nach einer Weile, die er nach draußen geschaut hatte, schüttelte er seine Fäuste und rief: "Frei, frei, endlich bin ich frei!"

Lachend taumelte er durch das Wohnzimmer. Dann ließ er sich auf die Couch fallen und schloss die Augen. Jetzt war er frei. Und das Zittern hatte etwas nachgelassen. Aber ganz weg war es immer noch nicht. Was würde er jetzt tun? Er hatte jetzt so viel Zeit wie noch nie zuvor. Er konnte wirklich alles machen was er wollte. 

Sorgen musste er keine haben. Wegen nichts. Auch nicht wegen der Wohnung. Sie gehörte ihm. Seine Eltern hatten sie ihm nach dem Schulabschluss geschenkt und waren in ein kleines Haus in einer ländlichen Gegend gezogen. Auf die alten Tage noch die Ruhe genießen. Dafür war eine Stadtwohnung nun mal nichts. Und so hatte John sie bekommen. Außerdem hatte er sich noch etwas angespart. Er war also wirklich nicht auf den Job angewiesen.

Dennoch fühlte er sich ein bisschen komisch. Er hatte das Gefühl, als fehle ihm eine Aufgabe. Irgendwie konnte er doch nicht so ganz ohne Aufgabe sein. Mit einem Ruck setzte sich John auf und kratzte sich an der Wange. Nein, rasiert hatte er sich heute auch noch nicht. Na sowas! Das war ja gar nicht Johns Art. Hauptsache die Frisur hatte er sich gemacht. Nur gut, dass der Termin am Morgen sowieso geplatzt war.

John überlegte, was er machen könnte und kam zu dem Schluss, dass er das nicht heute beschließen müsste. Heute würde er sich einen entspannten Tag machen. Er würde sich ein Bad einlassen. Es war eine Schande, dass er noch kaum ein Bad in der wunderbaren großen Wanne genossen hatte. Aber er war einfach nie dazu gekommen, wenn er Abend für Abend fix und fertig von der Arbeit nach hause geschlichen gekommen war und das würde sich jetzt ändern.

Erst ein warmes Bad, danach ein leckeres Essen. Bei dem Gedanken an Essen, knurrte John der Magen. Er würde sich Essen kommen lassen. Es gab da einen Lieferservice in der Stadt, wo man nicht Pizza und Pommes, sondern Lachsfilet und Carpaccio bestellen konnte. Feinkost statt Fastfood. Genau von dort würde er sich ein richtig schönes, ausladendes Abendessen liefern lassen. Wie wäre es mit einem kleinen gemischten Salat als Vorspeise, als Hauptgang die genialen Tagliatelle mit Lachs und als Nachtisch (den Nachtisch liebte er am meisten) ein Tiramisu? Oh ja, er würde es sich gut gehen lassen. Warum auch nicht? Er hatte einen beschissenen Tag gehabt und der Tag war noch keine zehn Stunden alt.

Den Nachmittag würde John dann auf der Couch in der Horizontalen verbringen und endlich die ganzen Serien schauen, die er auf seiner Liste hatte. Den ganzen Nachmittag. Nebenbei würde er getrocknete Mangos naschen und an nichts weiter denken, als an die fiktive Handlung zwischen der fiktiven Jenny und dem fiktiven Max in ihrer fiktiven Welt, die über seinen Bildschirm flimmerte. Was für ein Leben! Ja, was für ein Leben, dachte sich John und machte sich auf den Weg zur Badewanne.

Meine Eltern, dachte er, haben diese Wanne bestimmt öfter benutzt als ich. Sie wussten das Leben schon immer zu genießen, dachte er. Von Johns Eltern stammte auch noch die ganze Einrichtung. Sie war überraschend modern für Leute, die schon jenseits der 60 waren. Johns Vater hatte dafür gesorgt, dass die Vitrine lückenlos mit den besten Spirituosen gefüllt worden war. Er selbst hatte gerne den Samstagabend mit einem Whiskey gefeiert. Mehr aber auch nicht und das sah man. Viele der Flaschen waren noch nicht einmal geöffnet worden.

Von Johns Mutter stammten die faszinierenden Hightech-Geräte in der Küche. Also zumindest für John waren sie Hightech, denn von einigen wusste er nicht so recht, wofür sie waren. Natürlich hatte es ihm seine Mutter ausführlichst erklärt, aber manche Dinge brauchte John einfach nicht, wie zum Beispiel den Milchaufschäumer. John hatte sowieso nicht verstanden, warum seine Mutter einen separaten Milchausschäumer brauchte, wenn doch im Kaffeevollautomat einer integriert war.

Aber jetzt, dachte er, wäre der richtige Zeitpunkt, sich einmal mit allen komischen Geräten, die bis jetzt nur herumstanden, endlich vertraut zu machen. Ja, jetzt wäre dafür der ideale Zeitpunkt. Aber zuerst das Bad, dachte er, zuerst das Bad. Und so ließ er die Wanne fast bis an den Rand volllaufen und schüttete aus Ermangelung eines Schaumbads eine halbe Flasche Duschgel hinein.

Als John sich in die Wanne setzte, schwappte etwas Wasser über den Rand hinaus auf die dunkelblauen Fliesen. Er hatte die Wanne definitiv zu voll gefüllt, aber das war jetzt egal. Er lehnte seinen Kopf an den Rand und schloss die Augen. Der herb-süße Duft seines Duschgels lullte ihn ein und er versuchte gegen den herannahenden Schlaf anzukämpfen. Er machte wieder die Augen auf und atmete den Duft tief ein. Mit den Armen machte John langsame, ausladende Schwimmbewegungen und hörte das leise Plätschern des Wassers. Dabei schwappte noch einiges über den Rand der Wanne.

Wie viel früher hätte er die Vorzüge eines Vollbads erkennen müssen! Das hätte mein Leben verändert, dachte sich John. So ein Bad konnte wirklich die ganzen Sorgen vertreiben, man saß einfach nur im Wasser und dachte an nichts, man ließ es sich gut gehen und schwelgte im herrlichen Duft seines ... Duschgels.

Nach einer Stunde ließ John das Wasser ablaufen und band sich eines seiner kuschelig weichen Handtücher um die Hüften. Er suchte die Karte von dem Lieferservice heraus, den er zu konsultieren gedachte. Dort rief er an und gab seine Bestellung durch. Es war mittlerweile halb zwölf. Die Zeit war nahezu geflogen! John versprach ein sattes Trinkgeld, wenn sein Essen innerhalb der nächsten Dreiviertelstunde kam.

In der Zwischenzeit zog er sich eine grau melierte Jogginghose an, die er zwar schon seit sechs Jahren besaß, die aber noch so gut wie neu war. Dazu nahm er sich ein einfaches weißes T-Shirt. "Mensch, wie bequem das ist", sagte er zu sich selber und warf sich auf die Couch. Die hatte er auch viel zu selten benutzt. Vom Bett in die Arbeit und von der Arbeit ins Bett. Ab jetzt nicht mehr!

Um kurz nach zwölf klingelte der Lieferbote. Man hatte zu Johns Bestellung eine Flasche Weißwein dazu gegeben. John freute sich, gab dem Lieferjungen ein ordentliches Trinkgeld und brachte alles auf seinen Esstisch. Aus der Küche nahm er sich ein Weinglas und einen Teller mit Besteck. Freudig rieb er sich die Hände und packte den Salat aus. Es war ein köstlicher gemischter Salat mit Pinienkernen und Joghurtdressing. Grandios.

Die Hauptspeise steckte in einer Pappschachtel. John beförderte die Tagliatelle sorgfältig auf seinen Teller und ließ sich den herrlichen Duft in die Nase steigen. Die rosafarbenen Lachsstücke waren saftig und zart. Herrlich. Beim Essen grunzte John vor sich hin. Er hatte sich lange nicht mehr so etwas Leckeres gegönnt! Der Weißwein dazu schmeckte prächtig! John bedauerte, dass er alleine nicht die ganze Flasche trinken können würde - zumindest nicht, wenn er nicht den ganzen restlichen Tag verpennen wollte - aber er genoß immerhin etwas mehr als die Hälfte davon.

Zuletzt kam das Beste am ganzen - falls es überhaupt noch besser ging - das Tiramisu! Es steckte in einer kleinen Plastikschachtel und schon von außen sah John, wie appetitlich es aussah. Es war ebenmäßig mit Kakao bestreut und John konnte sich lebhaft vorstellen, was für ein herrlicher Moment es werden würde, wenn er mit dem Löffel ein Stück davon heraus nahm.

Ohne Zweifel war John ein Genießer. Wie sein Vater. Und dessen Vater. Die Hillwers schätzten die Genüsse einfach und während John den ersten Bissen Tiramisu nahm, rang er mit seinen Gefühlen, denn auf der einen Seite war er froh, endlich entdeckt zu haben, wie schön es sein konnte, einfach sein Leben zu feiern, aber auf der anderen Seite war er wehmütig und ärgerte sich über sich selber, weil er erst jetzt - mit fast dreißig - auf diese Idee gekommen war. Da musste erst ein Handwerker kommen, wegen dem er einen Termin verpasste, damit er auf die Idee kam, auch mal die Seele baumeln zu lassen.

Er kam sich vor wie ein Pionier, aber zugleich auch wie ein Idiot, weil er zwar einerseits diese fantastische Entdeckung gemacht hatte, die er aber andererseits schon viel früher hätte machen können.

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