Kapitel 13 - Suchen und finden
In der Innenstadt war reger Betrieb. Leute betraten und verließen die Geschäfte, die die Fußgängerzone säumten. Sie kamen mit Tüten hinein und gingen mit noch mehr Tüten wieder hinaus. Frauen mit Sonnenbrillen hakten sich bei Männern mit verwaschenen Jeans unter, eine Gruppe ältere Frauen spazierte mit Walkingstöcken durch die Fußgängerzone. Die Sonne lachte und kleine Kinder klapperten mit Rasseln.
John näherte sich einem Geschäft, das sich dem Anschein nach hauptsächlich auf Sportbekleidung spezialisiert hatte. Er lief am Schaufenster entlang und schaute sich an, was dort ausgestellt war. Neonfarbene Sportanzüge, Tennisröcke in weiß, leichte Schuhe. Schuhe! Hier war John an der richtigen Adresse. Er wollte sich in Richtung des Eingangs begeben, da fiel ihm ein Stück Papier ins Auge, das an der Schaufensterscheibe klebte. Darauf stand ein Satz in fett gedruckter Schrift und ein Bild von jemandem in schwarz-weiß war aufgedruckt.
"Helfen Sie mit, diesen Mann zu finden" stand dort. Darunter ein Bild von einem jungen Mann mit kurzen dunklen Haaren. John erkannte sich selbst in dem Foto. Es fuhr ihm durch Mark und Bein als er es sah. Was war das? Er wurde gesucht? Von wem? Wurde er vermisst? Er starrte auf das schwarz-weiße Foto. Das war er doch nicht. Oder doch? Das Foto zeigte doch eindeutig einen jungen Mann, der aussah wie John, hinter ihm waren Regale ... das war doch ... das war doch in seinem Büro! Das Foto war eines von der Sorte, die von jedem Mitarbeiter auf der Seite der Firma veröffentlicht war. Der Firma, in der John seit dieser Woche nicht mehr arbeitete.
Aber es stand kein Name auf dem Papier und zwar nirgends. Nur das Foto und der Text. Helfen Sie mit, diesen Mann zu finden. Und darunter eine Telefonnummer. Das konnte heißen, was es wollte. Aber John bezweifelte, dass es etwas Gutes war. Er sah sich verstohlen um, ob ihn jemand bemerkt hatte. Dabei fiel ihm auf, dass solche Papiere noch an anderen Schaufenstern klebten. Da hinten, an dem Bekleidungsgeschäft ... und da! An der Eisdiele. Auch da drüben bei dem Floristen.
Ohne eine Sekunde länger zu warten, huschte John eilig in eine Seitenstraße. Er musste weg. Er durfte hier nicht gesehen werden. Wenn ihn jemand erkannte, dann würde ... was würde eigentlich passieren? Man würde ihn verpfeifen. Aber wem würde man ihn verpfeifen? Wem gehörte die Telefonnummer? Was würde passieren, wenn man sie anrief?
John stellte fest, dass er nicht wissen wollte, was dann passieren würde. Er lief, ohne sich umzusehen, auf direktem Weg nach Hause. Dabei kam er sich vor wie ein Verfolgter. Sieh dich nicht um, sonst wirkst du richtig verdächtig, dachte er sich, aber er konnte sich kaum dazu zwingen, denn es kam ganz automatisch. Sobald Leute an ihm vorbei gelaufen waren, drehte er sich um, um zu schauen, ob sie ihm hinterher sahen.
Als John endlich seine Wohnungstür hinter sich schließen konnte, atmete er auf. Erst jetzt bemerkte er, dass seine Hände wieder zitterten. John stieß einen zittrigen Seufzer aus, lehnte sich gegen die Tür und ließ sich auf den Boden sinken. Alle Kraft wich aus seinem Körper. Seinen Kopf verbarg er hinter seinen bebenden Händen und beobachtete die Fragen, die ihm durch den Kopf rasten. Warum wurde er gesucht? Hatte es etwas mit dem Unfall zu tun? Wenn ja, dann hätten sie ihn doch nicht suchen müssen. Sie hatten ja seinen Namen, seine Adresse, sie hätten einfach vorbeikommen können und klingeln. Hallo, Herr Hellwer, würden Sie bitte mit uns mitkommen?
Aber nein, der Unfall konnte es nicht sein, denn ... denn sonst wären sie doch einfach vorbei gekommen. Warum also ging jetzt das Bild von John in jedem Schaufenster? Wer suchte ihn? Und wer betrieb so einen großen Aufwand, um ihn zu finden? John ging die Liste der Leute, mit denen er in letzter Zeit zu tun hatte, im Kopf durch. Privat hatte er kaum Kontakte. Also musste es vielleicht ein Kunde sein? So wie die Kundin, die sogar zu ihm nachhause gekommen war, um sich zu beschweren? Die hatte doch auch ein leichtes Spiel gehabt, seine Adresse herauszufinden.
John nahm sogar an, dass es sein Chef ... sein Ex-Chef gewesen sein könnte, der ihr die Adresse gegeben hatte. John war ja schließlich kein Mitarbeiter mehr in der Firma, also konnte der feine Herr die Adresse ja weitergeben ... Eigentlich durfte er das nicht, aber so wie John ihn einschätzte ... oder war es einer von den Kollegen gewesen?
Es machte keinen Sinn, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, denn schlussendlich war es egal, wer es war. Die Tatsache, dass Johns Gesicht aus wer weiß wie vielen Schaufenstern schaute, war das eigentliche Problem. So viele Leute liefen in nur einem einzigen Tag daran vorbei. Es war eine Frage der Zeit, dass ihn irgendwer erkannte und sich dann unter der Nummer meldete und ... was dann passierte, wusste John nicht. Und das war wahrscheinlich das Schlimmste.
Was sollte er jetzt tun? Aus dem Haus konnte er ja nicht. Oder vielleicht sollte er doch lieber weg von hier? Was wäre denn, wenn einer der Nachbarn zufällig heute in die Stadt ging und zufällig das Papier in einem der vielen Schaufenstern sah und zufällig John erkannte und dann die Nummer anrief und sagte, dass das John Hellwer sei und wo er wohnte? Was wäre dann?
Also lieber weg. Lieber weg. Aber wohin? Und womit? Mit dem Bus schwarzfahren? Guter Witz. Ha ha. Wahrscheinlich klebten an der Scheibe vom Bus auch solche Zettel. Sollte er bis vier Uhr warten, bis Tara ihn abholte? Es war immerhin schon ... kurz vor drei. Noch eine Stunde etwa würde es dauern, bis sie da war. Wäre das schon zu lange?
Ding-dong. John schreckte auf. Es hatte an der Tür geklingelt. Oh je. Jetzt war es zu spät. John hielt sich die Hände vor den Mund. Jetzt kamen sie. Sie waren schon da. Er war zu langsam gewesen, hatte zu viel nachgedacht. Sie waren schon da. Und John konnte nirgendwohin. Zum Fenster raus? Keine Option. Viel zu hoch. John rührte sich nicht. Es klingelte nochmal. Irgendwann würden sie doch wohl weggehen. Wenn sie merkten, dass sich nichts regte. Jetzt klopfte es an der Tür. Sie waren nur durch wenige Zentimeter Holz von John getrennt. John biss sich in die Faust. Sein Herz raste. Das Blut rauschte ihm in den Ohren.
"John?" Eine gedämpfte Frauenstimme. Einen Moment brauchte John, bis er sie erkannte. Er rappelte sich langsam auf und schaute durch den Türspion. Sie war es. Tara. Erleichtert atmete er auf und machte langsam die Tür auf. Da stand sie. Heute trug sie keine rot-schwarze Motorradkleidung. Sie hatte eine weite verwaschene Jeans an und ein kurzes, gestreiftes Top.
"Hey, John", sagte sie. Sie sah ein wenig besorgt aus.
"Reinkommen?", fragte John heiser. Sein Mund war trocken. Sie nickte und trat ein. John holte zwei Gläser aus der Küche und brachte sie an den Esstisch, wo noch eine Flasche Wasser stand. Sie setzten sich.
"Ich bin schon ein bisschen früher gekommen. John, ich habe diese Plakate gesehen. Was ist das?"
"Ich weiß nicht. Ich kann mir das nicht erklären ..." John schenkte Tara und sich Wasser ein und trank sein Glas sofort ganz leer.
"Was hast du jetzt vor?", fragte sie. John zuckte mit den Schultern.
"Kann ich dir helfen?", fragte sie. John zuckte mit den Schultern.
"Ich glaube, wir bringen dich erst mal woanders hin", sagte Tara vorsichtig.
"Wohin?", fragte John.
"Hmm ... ich hab' im Wald ein kleines Häuschen gesehen. Ich denke, da wohnt keiner drin. Da könnten wir dich erst mal verstecken."
"Verstecken?", fragte John erschrocken.
"Ja. Wir wissen ja noch gar nicht, wer dich sucht. Und da ist es erst mal besser, wenn keiner weiß, wo du bist."
"Und ... wenn in dem Häuschen doch jemand wohnt? Wenn es doch jemandem gehört?", fragte John zweifelnd.
"Ach was, die Tür ist total verwuchert von Efeu und Ranken und sowas. Das ist mir auf die Schnelle eben eingefallen. Etwas Besseres weiß ich nicht. Oder ... du kommst mit zu mir." Tara zuckte mit den Schultern. "Ich wohne bei meinen Eltern im Haus. Es würde wahrscheinlich schon auffallen, wenn du dich bei mir verstecken würdest ... ach, machen wir uns nix vor, ich habe ein Zimmer von zwanzig Quadratmetern. Im Keller hat mein Bruder seinen Hobbyraum. Wo solltest du dich verstecken ohne gesehen zu werden?" Tara seufzte.
"Also dann die Hütte im Wald", sagte John tonlos.
Tara nickte. "Pack dir was zu trinken ein und vielleicht auch was zu essen. Ich werde aber möglichst jeden Tag mal vorbeikommen und dir etwas mitbringen."
John nickte. Er sah sich um. Das hier war seine Wohnung, in der er bis vor wenigen Tagen noch sorglos vor sich hin vegetiert hatte, in den Zeiten vor und nach der Arbeit. Es war ein graues Leben gewesen. Aber dieses Leben, das gerade Fahrt aufnahm, war schrill in leuchtenden Neonfarben, die keine Schatten mehr warfen und John wurde ohne Vorwarnung hineingestoßen und ertrank jetzt schon fast darin.
Was sollte er auf die Schnelle einpacken? Er wollte viele Dinge nicht einfach hier lassen, aber ... er konnte auch nicht alles mitnehmen. Sein weiches Sofa, sein Bett, die Kaffeemaschine. Warum sollte er eigentlich weg? Warum ließ er sich verscheuchen? Nun, er hatte Angst, was passieren würde. Er konnte nicht einschätzen, was passieren würde. Er kam sich vor, wie in einem schlechten, einem sehr schlechten Alptraum.
"Ja, was ist jetzt? Hast du einen Rucksack oder eine Reisetasche?", drängte Tara.
Wie mechanisch ging John in sein Schlafzimmer und holte unter seinem Bette eine verstaubte Reisetasche hervor. Ein bisschen klopfte er sie ab, bevor er anfing, geistesabwesend ein paar wahllos ausgewählte Kleidungsstücke hinein zu stopfen. Tara stand in der Tür und schaute ihm dabei zu. John hielt inne.
"Ist was?", fragte er matt.
"Nein nein. Die ganze Sache ist richtig komisch."
"Mhm."
John nahm sie Reisetasche mit in die Küche und legte noch sechs Flaschen Wasser hinein. Er hatte nur Glasflaschen und ärgerte sich gerade darüber, denn die waren ziemlich schwer, selbst wenn kein Wasser darin war. Dann öffnete er den Kühlschrank. Von da konnte er nichts mitnehmen. Das würde bei der Wärme alles verderben, wenn man es nicht kühlte.
"Nichts zu essen?", fragte Tara.
"Nichts da", sagte John und zog den Reißverschluss seiner Reisetasche zu. Dann schulterte er sie und schaute Tara an.
"Bist du soweit?", fragte sie unnötigerweise. John nickte. Sie öffnete vorsichtig die Tür und schaute sich um. Dann winkte sie John heraus. Er nahm sich noch den Wohnungsschlüssel und zog dann die Tür hinter sich zu.
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