Kapitel 12 - Back to John

Am Tag darauf gingen Taras Songs John nicht mehr aus dem Kopf. Beim Aufstehen summte er die Melodie von Raindrops vor sich hin und musste die ganze Zeit grinsen. Es bereitete ihm ein warmes Gefühl im Bauch, an den gestrigen Tag zu denken. Und ja, der Song war ein echter Ohrwurm. Auch wenn er Tara zu simpel war. 

John ging zum Kühlschrank, da fiel ihm schlagartig ein, dass da noch etwas war: die Croissants. Der Fall der verschwundenen Croissants war noch nicht geklärt. Wann kam der Bäcker nochmal? Kurz nach sechs Uhr. Es war schon halb acht. Eilig hechtete John zur Tür und schaute durch den Türspion hinaus auf den Korridor.

Da lag der Karton, auf dem Fußabtreter, wie immer. Also waren die Croissants heute geliefert worden. Doch das reichte ihm nicht. John wollte wissen, wer der elende Dieb war, der ihm gestern das Frühstück streitig gemacht hatte und deshalb blieb er so stehen; durch den Türspion schauend, das Auge fest auf den Karton geheftet. Es vergingen Minuten um Minuten und es rührte sich nichts. Dann hörte John Schritte. Es waren langsame Schritte und dazwischen war immer ein leises Klopfgeräusch zu hören. Schritt-schritt-tock. Schritt-schritt-tock.

Was dann passierte ließ John im ersten Moment an seiner Wahrnehmung zweifeln: von der rechten Seite kam langsam der Griff eines Gehstocks horizontal in Johns Sichtfeld. Langsam, langsam, langsam näherte sich der gebogene Griff dem Paket, bis er an der oberen Kante des Kartons Halt fand. Dann wurde das Paket langsam nach rechts gezogen. John war einen Moment vor Verwirrung wie gelähmt, dann aber riss er die Wohnungstür auf und sprang heraus.

"Aha!", rief er. Da stand ein alter Mann, krumm und gebückt und wollte gerade das Paket aufheben.

"Aha!", rief auch dieser und hielt den Gehstock wie einen Baseballschläger, bereit ihn zu schwingen, wenn nötig. John hielt sich abwehrend die Arme vor den Kopf. Der alte Mann lachte. John nahm die Arme runter und sah den Alten verärgert an.

"Was soll das? Sie klauen mir also jeden Morgen meine Croissants?", rief John.

"Jungchen, dass sind meine Croissants. Ich bekomme jeden Morgen meine Croissants geliefert. Aber seit einigen Tagen habe ich keine mehr bekommen. Ich bin einmal durchs ganze Haus gegangen, um zu schauen, ob sie irgendwo anders abgelegt worden sind. Und siehe da: hier stehen sie."

"Moment mal, lassen Sie uns einen Blick auf die Empfängeradresse werfen. Wenn dort mein Name steht, dann sind es auch MEINE Croissants", sagte John.

Der Mann zuckte mit den Schultern und schob John mit dem Gehstock das Paket hin. John hob es auf und las mit ungläubigem Erstaunen den Namen: Alfred Wiesenhofer.

"Sie sind Alfred Wiesenhofer?", fragte er matt.

"Korrekt", sagte der alte Mann.

"Warum stellen die das Paket dann vor meine Tür? Hier auf dem Schild steht doch Hellwer geschrieben. Hell-wer." Er sah den alten Mann verlegen an. "Tut mir leid, ich dachte, Sie würden mir meine Croissants klauen. Ich bekomme nämlich auch jeden Morgen welche, aber seit gestern nicht mehr."

Der Alte strich sich mit der altersfleckigen dürren Hand über den kahlen Kopf und sagte: "Ich glaube ... ich glaube, ich habe Ihre Croissants abbestellt."

"Wie bitte?", stieß John hervor.

"Ja ... ich hatte ... ich glaube, ich hatte Ihre Lieferung bekommen. Der Name Hellwer sagte mir auf die Schnelle nichts, dann habe ich dort angerufen und gesagt, sie sollen mir nichts mehr auf diesen Namen liefern. Das war ... wann war das? Gestern. Ich glaube, es war gestern Nachmittag ... oder Vorgestern ..."

"Ach deshalb haben sie mir keine mehr geliefert. Aber ich hatte dort angerufen und mir wurde gesagt, die Lieferung sei angekommen ...?", murmelte John vor sich hin.

Der alte Mann zuckte mit den knochigen Schultern. "Keine Ahnung. Ich werde dort nochmal anrufen und nachfragen, warum mein Paket vor Ihrer Tür lag. Möchten Sie, dass ich denen mitteile, dass sie wieder Croissants auf den Namen Hellwer schicken sollen?", fragte der Mann.

"Das wäre sehr nett von Ihnen", sagte John.

Er gab dem Mann sein Paket und verabschiedete sich. Morgen würde er dann sehen, ob es mit der Lieferung klappen würde. Wobei ihm immer noch nicht klar war, warum ihm am Telefon gesagt worden war, dass seine Lieferung angekommen sei, wenn der Nachbar sie auf seinen Namen doch ganz abbestellt hatte. Die komischen Vorfälle der letzten Zeit war augenfällig und allmählich fragte er sich, ob er im falschen Film gelandet war. 

Er hoffte, dass sich das Problem aufklären würde. Und bis dahin ... würde er schauen, was der Tag bringen würde. Etwas Spezielles hatte John nicht vor. Er hatte den ganzen Tag Zeit, das zu tun, was er wollte. Das Problem lag nur darin, dass er nicht wusste, wie er die Zeit nutzen sollte. Konkreter lag das Problem im sinnvollen Nutzen der Zeit, denn die Zeit verstreichen zu lassen und sie richtig zu nutzen, waren zwei völlig verschiedene Dinge. Während John an seinem ersten ‚freien' Tag seine Zeit eher hatte verstreichen lassen, kam es ihm so vor, als habe er sie gestern wirklich richtig genutzt.

Wider Erwarten hatte sich das Treffen mit Tara zu einer Inspirationsquelle für John entwickelt. Ihre Art zu leben hatte einen großen Reiz, aber es war schwieriger als es den Anschein hatte. Tara machte mit einer Leichtigkeit, um die John sie beneidete, das, was sie wollte und am besten konnte. Sie konnte gut singen und schrieb gern Texte - die logische Konsequenz für sie war gewesen, auf Festen zu singen. Viele andere würden das sicher nicht tun, dachte John.

Einschließlich John selbst. Sie hatte ja selber gesagt, dass sie nicht regelmäßig gebucht wurde. Das bedeutete Unsicherheit. Das bedeutete, dass man sich nicht sicher sein konnte, immer den gleichen Betrag auf dem Konto zu haben. Aber vielleicht machte das auch den Reiz für Tara aus. Oder es war ihr egal, denn sie tat schließlich das, was sie liebte. Und das, dachte John, muss für manche Leute mehr Wert sein als Geld.

Ob das für ihn auch etwas wäre, verwarf John recht bald. Er war ein Mann ohne Hobbys. Was sollte er bitte schön machen? Er konnte nicht singen, konnte nicht tanzen. Er konnte nicht malen oder schneidern oder schustern oder sonst etwas in die Richtung. Handwerksarbeiten fielen ganz raus. Das konnte er nicht. Künstlerisches ... konnte er auch nicht. Bücher schreiben? Vielleicht ... John war in der Schule immer guter Durchschnitt gewesen. Seine Aufsätze waren immer gut gewesen, aber nicht mehr. Würde er ein Buch schreiben können?

Womöglich. Vielleicht keinen Roman, denn Johns Kreativität hielt sich in Grenzen. Aber ein Sachbuch oder eine Art Autobiografie. Er würde über seine Erlebnisse schreiben können, nachdem er mir nichts dir nichts seinen Job geschmissen hatte. Das wäre vielleicht etwas, was die Leute lesen wollen würden, dachte John. Sie würden über einen Typen lesen wollen, der seinen sicheren aber ätzenden Job über Bord geworfen hatte, weil er in einem Anflug kindlichen Trotzes seinem Chef eins reindrücken wollte. Gut, wenn man es so formulierte ... 

So durfte man es aber nicht sehen. Klar, so würden es andere Leute sehen. Aber nicht mehr John. Nicht mehr! Nie mehr! Ja, John wurde unkonventionell. Die Leute überlegten vorher eher viel hin und her, bevor sie so etwas taten wie er es getan hatte. Aber nicht John. Er hatte es ... einfach gemacht. Und was sich so gut anfühlte, was sich so befreiend anfühlte, das konnte nicht falsch sein. Das hatte John im Gefühl.

Und die Leute lesen doch gern über andere, die etwas getan hatten, was sie sich selber nicht trauen würden, spekulierte John. Die Idee nahm Form an. John setzte sich an seinen Esstisch und klappte den Laptop auf. Er öffnete ein leeres Textdokument und schaute auf die weiße Oberfläche. Wie anfangen?

Er schrieb eine Überschrift: Zwei Worte. So lautete der Titel. Zwei Worte. Dann setzte er als hinter einen Bindestrich hinzu: Ich kündige. Er grinste. Das war ein guter Titel. Er ging in die nächste Zeile und überlegte. Was stand denn in solchen Büchern? Meistens schrieben die Autoren ein Vorwort. Na dann, ein Vorwort. John schrieb: 

Liebe Leserin, lieber Leser, dies ist das erste Buch, das ich jemals geschrieben habe. Deshalb möchte ich mich Ihnen kurz vorstellen, bevor wir richtig beginnen. Mein Name ist John Hellwer, ich bin gerade 29 Jahre alt und habe keinen Job mehr. Und da sind wir auch schon bei dem Punkt angekommen, weshalb ich dieses Buch eigentlich schreibe. Ich habe von jetzt auf gleich meinen Job hingeschmissen. Wenn Sie sich dafür interessieren, wie es dazu gekommen ist und wie mein Leben danach weitergegangen ist, dann blättern Sie um. Ich wünsche viel Spaß beim Lesen. John Hellwer.

John lehnte sich zurück und betrachtete mit kritischem Blick die geschriebenen Worte von weiter weg. Das sah gut aus. Und es klang auch gut. Dafür, dass John eigentlich keine Ahnung vom Schreiben hatte, war es wirklich gut. Das Vorwort würde er so stehen lassen. Jetzt ging es weiter. Würde er einfach alles am Stück schreiben oder in Kapitel einteilen? Lieber in Kapitel einteilen, dachte John, wegen der besseren Übersicht.

Er schrieb: Kapitel 1: Der Morgen davor. 

John sah, was er getippt hatte und war erstaunt über sich selbst, dass er sich so eine schöne Überschrift aus dem Ärmel geschüttelt hatte. Wie kam das? Hatte Tara ihm eine Portion Kreativität übermittelt? Oder war es vielleicht all die zurückgehaltene Kreativität, die sich über die Jahre angestaut hatte, weil John sie wegen seines langweiligen Jobs nicht hatte ausleben können?

Was immer es war, es half ihm jetzt. John schrieb und schrieb und schrieb und der Morgen verstrich. Zu seiner Freude verstrich er alles andere als ungenutzt. Um zwölf Uhr dreißig stellte John fest, dass sein Mund trocken und der Magen leer war. Er hatte einige Stunden lang durchweg nur geschrieben. Ganze zehn Seiten hatte er schon. Kapitel 1 war ganz fertig und Kapitel 2 immerhin schon zur Hälfte.

John stand auf und ging zum Kühlschrank. Als er ihn öffnete, stellte er sofort fest, dass er nochmal einkaufen gehen sollte, denn viel war nicht mehr darin. Er nahm sich den Joghurt heraus und betätigte die Kaffeemaschine. Während der Kaffee in die Tasse sprudelte, löffelte John eifrig seinen Naturjoghurt aus. Dann ließ er sich noch ein großes Glas voll Wasser ein und trank es in einem Zug aus. Wenn er zu wenig trank, bekam er Kopfweh. Und Kopfweh würde ihn nur daran hindern, sein Buch zu schreiben.

Mit dem Kaffee ging John zurück zu seinem Laptop. Mit sich zufrieden besah er sich den Text, den er schon geschrieben hatte. Davon würde er Tara erzählen! Sie würde es vielleicht gar nicht glauben, denn John hatte ja vehement betont, dass er keine Hobbys hatte. Er hatte gesagt, er habe keine Hobbys, aber jetzt plötzlich hatte er Lust bekommen, zu schreiben. Naja, vielleicht war das auch Taras Verdienst?

John wollte an seinem zweiten Kapitel weiter schreiben, da erklang ein Pling aus seinem Laptop. Eine Nachricht von der Dating-Seite. Oh, dachte John, das Profil sollte ich auch noch löschen. Nicht, dass mir noch andere Frauen schreiben. Er öffnete die Seite, um zu sehen, wer ihm geschrieben hatte. Es war eine Nachricht von Tara. Sie hatte geschrieben: Lieber John, wir haben gestern vergessen, Nummern auszutauschen. Deshalb schreib ich dir einfach hier. Wenn du heute Lust hättest auf Joggen im Wald, dann schreib mir. Ich würde mich freuen. LG Tara.

"Warum nicht?", sagte John zum Bildschirm. Ich habe zwar keine Turnschuhe, aber dann jogge ich eben mit Businessschuhen, dachte er und lachte auf. Er schrieb ihr zurück: Hallo Tara, ja gerne! Am besten heute Nachmittag. Ab 16 Uhr? John.

Tara schrieb direkt zurück: Alles klar, ich hol dich um 16 Uhr ab. Mit meinem Auto :) Bis dann!

John lächelte verlegen. Sie hatte gemerkt, dass das Motorrad nicht sein liebstes Fortbewegungsmittel war. Tja, besser für ihn, denn so musste er sich nicht wieder auf dem Zweirad plagen. Aber dafür musste er jetzt zusehen, dass er sich endlich Turnschuhe kaufte. Er hatte noch etwas Zeit, bis Tara ihn abholen würde.

John nahm sich seinen Geldbeutel, zog sich die obligatorischen Businessschuhe und ein leichtes Sakko an und ging nach draußen. Die Innenstadt war nicht weit weg und dort gab es eine Menge Schuhgeschäfte. In einem würde John fündig werden. Er ging den breiten Gehweg entlang, vorbei an den mehrstöckigen Wohnhäusern, vorbei an Müttern, deren Kinder mit Dreirädern über den Gehweg gurkten, vorbei an Leuten, die mit Einkaufstaschen aus der Stadt kamen, vorbei an Leute, die mit Aktentaschen zur Straßenbahn rannten. Es war ein sonniger Tag.

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