Kapitel zweiundzwanzig
Meine Finger graben sich tief in die kalte, harte Erde unseres Gemüsebeetes, stochern wütend darin herum und stecken die Samen lieblos hinein. Ein Regentropfen fällt mir auf den Kopf. Noch einer. Aber ich grabe weiter, denn ich muss mich abregen. Lexi ist nicht aufgewacht und ich habe sie verloren. Die Kräutermischung von Riley hat nicht gewirkt. Er meinte, das bräuchte seine Geduld und er meinte, sie würde auf jeden Fall wieder erwachen, aber was bringt mir das? Heute Nachmittag kommt der Totengräber, um sie abzuholen, schon morgen findet der Gottesdienst statt. In mir ist nichts als Enttäuschung und Wut. Jawohl, Wut, denn als ich realisiert hatte, dass Riley meine Schwester nicht heilen kann, war ich sehr zornig auf ihn geworden. Er hatte so viel Zeit verschwendet und nun bringt es alles nichts. Im Moment wünsche ich mich an einen fernen Ort, wo ich meine Probleme für eine Weile vergessen kann. Aber diesen Ort gibt es nicht. Was meinen Vater anbelangt, ist es komisch, seit er mich hat suchen lassen. Er verschweigt, dass er es getan hat und ich verschweige, dass ich weiß, dass er es getan hat.
"Scarlett", haucht Riley hinter mir. "Verschwinde", schniefe ich. "Scarlett, hier ist jemand für dich." Ich drehe mich zu ihm um. Ich sehe Riley, sein zerzaustes Haar, die schwarzen Augen, und neben ihm steht Großmutter auf einen krummen Stock gestützt. "Großmutter!", rufe ich aus. Noch nie habe ich sie an einem anderen Platz als ihre Küche gesehen. Dort schien sie stets schummrig, verzerrt, aber hier kann ich ihre Konturen klar erkennen. Der Kontrast zwischen ihrem Körper und dem grauen, verregneten Moor ist absurd, fast als würde sie leuchten. Ich überlege, ob ich aufspringen soll, aber ich bleibe lieber sitzen. Ich habe schließlich keinen Anlass zur Freude. Unschlüssig grabe ich meine Fingernägel in die Erde. "Warum bist du hergekommen?", frage ich heiser. Ich will eine Antwort, sofort und klar. "Wegen Lexi", sagt Großmutter. "Sie ist tot." Meine Stimme klingt stumpf und emotionslos, dabei zieht sich bei den Worten in mir alles zusammen. Riley's Anwesenheit macht es nicht gerade besser. "Nein, mein Kind, das ist sie nicht", entgegnet Großmutter kopfschüttelnd. "Riley hat sie geheilt." Jetzt springe ich doch auf, die Hände zu Fäusten geballt. "Hat er nicht!", schreie ich. "Sie wird nicht mehr aufwachen. Gleich ist sie für immer in einem Sarg. Du" - ich deute anklagend auf Riley - "hast versagt!" Er sieht mir seelenruhig in die Augen, obwohl er zwei Schritte zurückweicht. "Scarlett, beruhige dich", meint Großmutter und fasst mich an der Schulter. Ihre steingrauen Augen richten sich auf meine und ich fühle den altbekannten Anflug von Schwindel. "Wehe du manipulierst meine Gefühle", zische ich, doch da ist es schon geschehen. Meine Wut ist verpufft und lässt eine verzweifelte Ruhe zurück. Fast fühle ich mich sogar müde. Riley wirkt zufrieden - den Schmerz kann Großmutter nicht wegzaubern. Seit ich mit Lexi auch ihn verloren habe, besitze ich kein Herz mehr. Und wenn doch, ist es in tausend kleine Stücke zersplittert, die sich tief in meine Brust bohren und mir den Atem nehmen. Ich brauche ihn und das weiß er. Aber noch bin ich zu verwirrt und enttäuscht, um mit ihm zu reden. Ich brauche Zeit. Bitte lies es in meinen Gedanken, flehe ich. Bitte lass mich einfach nur trauern. Ich sehe, wie er nickt - meine Botschaft ist angekommen. "Es gibt einen letzten Weg, Lexi zu retten", dringt Großmutter's Stimme zu mir durch. Ich höre, was sie sagt, aber ich verstehe es nicht. Mein Kopf ist voll, viel zu voll und meine Welt trist und langsam. Erst Minuten später realisiere ich den Wert dieser Worte. "Wie?", frage ich. Allmählich kehrt meine Entschlossenheit zurück. Wenn sie sagt, dass wir meine Schwester retten können, dann dürfen wir keine Sekunde verlieren, ihre Idee in die Tat umzusetzen. Und Großmutter's Ideen funktionieren immer. Ausnahmslos. "Wir entführen sie." Ich blinzele ihr entgegen. "Entführen?", wiederhole ich flüsternd. Auf einmal habe ich das Gefühl, unglaublich vorsichtig sein zu müssen. Mit einer Geste ziehe ich die beiden um die Hausecke. "Wie sollen wir sie entführen?", frage ich atemlos. "Und wohin?" Großmutter streicht mit dem Finger über die rauen Steine des Hauses. Der Regen glitzert auf ihrem abgetragenen Kopftuch und lässt es farbiger wirken. "Nicht zu mir", sagt sie gedämpft. "Dort würden sie sofort suchen." "Im Wald ist es aber zu kalt", werfe ich ein. Riley lehnt sich an die Wand und vergräbt die Hände in seinen Jackentaschen. Ich sehe ihn an, aber nur kurz. Er erwidert diesen Blick. "Viel mehr Möglichkeiten gibt es nicht", sagt er dann. "Im Wald würde sie aber erfrieren", beharre ich. "Niemals bringe ich sie dorthin." "Aber wem können wir vertrauen, abgesehen von der Natur?", sagt Großmutter scharf. Wir blinzeln sie an. "Richtig", flüstert sie, "niemandem." Ich massiere meine Schläfen, um mich besser konzentrieren zu können. Die schlaflose Nacht, die ich hinter mir habe, ist nicht gerade hilfreich. "Megan Trelawny", schlage ich schließlich vor. "Die Frau ist uralt und fast blind." Großmutter stößt einen bitteren Laut aus. "Sie ist sehr klug, Scarlett. Wir können sie nicht an der Nase herumführen." "Ich finde Scarlett's Idee gar nicht mal so schlecht", wirft Riley ein. "Du kennst die Frau nicht", zischt Großmutter. "Sie ist unberechenbar." Ich fahre mit den Fingern über das Muster meiner geflochtenen Haare. "Du kannst doch ihre Gefühle beeinflussen", sage ich leise. "Aber was willst du ihr erzählen?" Großmutter nimmt mein Gesicht in beide Hände und sieht mich an. "Dass wir deine Schwester zu ihr bringen, um sie vor dem Totengräber zu retten?" "Aber irgendwas..." Meine Stimme kippt. Sie hat Recht, so geht das nicht. "Wohin dann?", fragt Riley und stößt sich von der Wand ab. Während ich die Stelle am Gemäuer anstarre, frage ich mich, ob sie nun wohl von irgendeiner Energie durchflutet wird. Großmutter unterbricht meine Gedanken. "Irgendwo, wo sie keiner findet." "Ja, wo soll das sein?", frage ich aufgebracht. "Scht", macht Riley und legt mir besänftigend seine Hand auf die Schulter. Leider reagiere ich darauf beinahe allergisch. Blitzschnell zieht er seinen Arm zurück. Ich atme auf. "Also", flüstere ich, "wohin?" "Zu Megan", sagt Großmutter. "Jetzt doch?", sage ich verwirrt. Sie nickt. "Aber wir bringen Lexi heimlich in ihr Haus. Niemand darf etwas davon erfrahren." Ich denke eine Weile darüber nach. "Was, wenn sie aufwacht?" Großmutter lächelt mich an. "Einer bleibt bei ihr, bis sie erwacht und erklärt ihr die Situation. Wir holen sie zurück, wenn wir alles geregelt haben." Riley und ich sehen uns an, dann nicken wir gleichzeitig, bereit für den letzten Teil von Lexi's Rettung.
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Tut mir leid wegen der Verspätung, aber ich hatte eine Austauschschülerin da. :|
Ich hoffe, ihr seid mir nicht böse ♥ Wie sieht's aus mit Kommis? *0*
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