Kapitel vierzig
Rileys Mutter steht auf und klopft sich das Gras vom Rock. Als ich zu ihren Füßen schiele, bemerke ich, dass sie sehr wohl nass geworden sind, im Gegensatz zu meinen, als ich sie ins Wasser steckte. Mit gerümpfter Nase und Skepsis im Herzen sehe ich zu ihr auf. Ein Windstoß hebt unser beider Haar, aber mich lässt er erfrieren bis ins Mark. Fröstelnd reibe ich meine eiskalten Hände aneinander. Rileys Mutter lächelt. "Faszinierend, nicht wahr?" "Was?", blaffe ich ungehalten, während ich versuche, mir die Kälte nicht anmerken zu lassen. Sie schmunzelt. "Wie dir kalt wird und mir nicht." Ich stehe ebenfalls auf, weil ich mich sonst so klein fühle, und funkele sie an. "Wie heißt du?" "Ah, ah, Scarlett." Rileys Mutter schüttelt mit dem Anflug eines Lächelns den Kopf. "So sind die Regeln hier nicht. Du musst dir deine Antworten verdienen, schon vergessen?" Ich gebe ein resigniertes Grunzen von mir, balle aber dennoch entschlossen die Hände zu Fäusten. Was auch immer es ist, ich werde es schaffen. "Also gut. Sag' mir, was ich tun muss." Rileys Mutter macht ein paar Schritte auf den bunten, rumorenden Wald zu und gibt mir eine Geste, ihr zu folgen. Widerwillig setze ich mich in Bewegung. "Du gehst hier lang." Sie deutet mit einem unnatürlich langen, schmalen Zeigefinger in Richtung der eng stehenden Bäume. Als die Sonne ihre erhobene Hand bescheint, fallen mir die durchsichtigen, dünnen Häute zwischen ihren Fingern auf. Schwimmhäute. Natürlich. Ich schiebe die Gedanken beiseite und beiße die Zähne aufeinander, damit sie nicht so klappern. "Durch das ganze Dickicht aus Schlingpflanzen und Farn schaffe ich es niemals", sage ich bestimmt, obwohl ich genau weiß, dass es meine einzige Möglichkeit ist. Trotzdem, einen Versuch ist es wert. Rileys Mutter zuckt gleichgültig mit den Schultern. "Von mir aus. Dann bleib' hier. Aber glaub nicht, dass ich dir mit der Einstellung auch nur eine deiner Fragen beantworten werde." Verdammt. Ich befeuchte meine kalten Lippen, während ich die Luft anhalte. Genau die Reaktion, die ich befürchtet habe. Rileys Mutter sieht mich an, als warte sie auf eine Antwort. Ich nicke. "Na schön." Ich will mir die Ärmel hochkrempeln, als mir wieder einfällt, dass ich dieses weiße Leinenhemdchen trage, das gar keine Ärmel besitzt. Es sieht nicht so aus, als würde mir Rileys Mutter noch irgendetwas mitteilen wollen, also laufe ich am Waldrand entlang und suche eine Stelle, wo die Farne nicht so eng stehen. Diese Schutzwand erinnert mich an unseren Wald daheim, wo die Dornenranken ihr Reich genauso hartnäckig beschützen wie diese mir fremden Pflanzen hier. Bei dem Gedanken an Zuhause wird meine Kehle ganz eng. Wenn ich wüsste, wo ich hin muss, könnte ich fliehen? Könnte ich es schaffen? "Denk gar nicht daran." Die Stimme von Rileys Mutter ist plötzlich direkt neben mir. Als ich erschrocken zu ihr aufblicke, schmücken zynische Züge ihr hübsches, kaltes Gesicht. Sie wendet den Blick von mir ab; streicht beinahe liebevoll über eines der Blätter, die aus dem Wall aus Pflanzen hervorragen. "Hier kommst du nicht mehr raus. Es sei denn, ich lasse dich gehen." Ein Gefühl flammt in meiner Brust auf, so heftig, dass es mich für Bruchteile von Sekunden erwärmt: Hoffnung. Es sei denn, ich lasse dich gehen. Die Situation ist vielleicht gar nicht so aussichtslos, wie ich dachte. "Bitte", flehe ich sie an. "Ich nütze dir doch sowieso nichts. Bitte, lass mich frei." Rileys Mutter sieht mich an, sehr lange. Kurz denke ich, sie überlegt es sich vielleicht tatsächlich, aber dann wird ihr Blick so hart, dass die Kälte mit einer Wucht in meinen Körper zurückschießt, die mich fast umhaut. Ich schnappe nach Luft. "Geh' jetzt, Scarlett", sagt sie mit ruhiger Stimme. "Wenn du drin bist, liegt dort ein Säckchen. Es ist für dich. Darin sind Sachen, die dir helfen werden, deine Reise zu überstehen. Es sind ein Kompass, ein Messer und eine leere Feldflasche, die du selber füllen musst. Du musst immer nach Norden laufen, dann solltest du es schaffen. Ich warte an dem großen Felsen hinter dem Wald auf dich. Du hast zwei Tage Zeit und solltest du es in der Zeit nicht schaffen, werde ich dich sofort beseitigen. Also, streng dich an." Sie wendet sich ab, um mit hüpfenden Schritten davonzulaufen. Mein Herz pocht schmerzhaft fest gegen meinen Brustkorb. "Aber... ich kenne mich doch hier gar nicht aus." "Viel Glück, Scarlett." Ohne sich noch einmal nach mir umzudrehen, verschwindet Rileys Mutter vor meinen Augen. Löst sich in Luft auf. Einzig ihr Geruch bleibt, ansonsten bin ich vollkommen allein in dieser gruseligen Welt. In meiner Kehle entsteht etwas, das sich nicht herunterschlucken lässt. Ich stehe eine Weile da und starre vor mich hin, doch dann kommt Leben in mich. Sie sagte, ich hätte zwei Tage, ansonsten würde ich sofort umgebracht, und obwohl im Moment nichts einen Sinn ergibt, bin ich nicht bereit, diesen Preis zu bezahlen. Ich kann es schaffen, das weiß ich, und das hat sie auch gesagt. Ich kann rechtzeitig ankommen, wenn ich dem Kompass nach Norden folge. Der Kompass. Ohne Rücksicht auf meine nackten Arme beginne ich, mich durch das Dickicht zu kämpfen. Wurzeln, die aus der weichen Erde emporragen, fassen nach meinen Füßen wie Arme, breite Farne nehmen mir die Sicht. Etwas brummt lautstark neben meinem Ohr, ehe es sich flatternd entfernt, irgendein Käfer, den ich nie zuvor gesehen habe. Ich brauche das Säckchen, koste es, was es wolle. Es ist das einzige, das mich am Leben erhält, und jetzt, wo ich schon Zeit vergeudet habe, indem ich meiner Angst nachgegangen bin, muss ich es so schnell wie möglich finden. Sonst bin ich so gut wie tot.
Es hängt an einem Ast direkt vor meiner Nase. Die Pflanzen hinter mir streicheln meine Arme, fast als wollen sie mich loben, weil ich es geschafft habe, einen Weg durch sie hindurch zu finden. Der Wind flüstert mir zu. Ohne zu zögern reiße ich den kleinen Lederbeutel vom Ast und schaue hinein. Rileys Mutter hat nicht gelogen: Da sind der kleine, goldene Kompass, eine silberne Feldflasche, die recht neu aussieht, und ein Messer. Die Klinge ist auf einer Seite glatt und scharf, auf der anderen jedoch geriffelt. Das ist gut, ich kann damit also auch sägen. Ohne nachzudenken nehme ich das Messer, lege meine Finger um den unbenutzten, schwarzen Griff und wiege es in meiner Hand. Es ist leichter als das von zuhause, aber nicht viel. Ich sollte damit auch treffen können, wenn ich werfe. Rasch reiße ich ein langes, helles Blatt von dem ulkigen Baum neben mir, binde es um meine Taille und stecke das Messer hinein. Hält perfekt. Schließlich nehme ich den Kompass, schultere den Lederbeutel und laufe los. Der Gestank in diesem undurchdringlichen Wald ist absurd, die Luft dünn und schwer. Schnell hat sich Schweiß auf meiner Stirn gebildet, und obwohl mir noch immer bitterkalt ist, fühle ich, wie heiß meine Haut wird. Nur dass diese Wärme nicht zu meinem Innersten vordringt. Die Erde ist so weich, dass meine Füße immer wieder darin einsinken, was das Laufen erheblich erschwert. Aber ich beiße mir auf die Lippe und bleibe tapfer. Für das nackte Überleben und für die Hoffnung, Riley jemals wiederzusehen. Für die Antwort, die ich bekommen werde, wenn ich diese Prüfung überstehe. Immer wieder muss ich über umgestürzte Bäume steigen, oder über das morsche Etwas, das von ihnen übrig bleibt. Ganze Ameisenvölker krabblen darüber hinweg und transportieren winzige Stückchen Erdboden zu einem Ameisenhaufen, der mir bis zur Hüfte reicht. Manchmal geht es bergauf, manchmal bergab, Felsen tauchen auf, und nicht selten falle ich der Länge nach hin. Aber ich rappele mich immer wieder auf und gehe weiter. Die Bewegung tut nicht nur meinen Beinen gut, sondern auch meinem Verstand, denn sie bringt mich auf andere Gedanken. Ich pfeife und singe sogar leise vor mich hin, während ich Meter um Meter zurücklege. Es in zwei Tagen zu diesem Felsen zu schaffen, den Rileys Mutter erwähnt hat, das kann doch nicht so schwer sein, sage ich mir. Jedenfalls nicht, wenn es so weitergeht wie bis hierher. Ohne Komplikationen sollte ich es locker hinkriegen. Aber da habe ich den Tag vor dem Abend gelobt, denn plötzlich stehe ich vor einer Schlucht. Sie taucht so plötzlich vor meinen Augen auf, dass ich fast hineingefallen wäre, hätte ich nicht im letzten Moment einen Schritt zurück gemacht. Einige Steinchen lösen sich von dem Geröll und stürzen in die Tiefe, für immer verschollen. Ich ziehe scharf die Luft ein. Wenn die Schlucht nicht so breit gewesen wäre, hätte ich meinen Mut gepackt und wäre darüber hinweggesprungen, aber das würde ich in diesem Fall nicht überleben. Es sind bestimmt fünf, sechs Meter, die mich von der anderen Seite trennen, wo der Wald genauso aussieht wie hier. Verzweifelt stemme ich die Arme in die Seiten. Es dämmert langsam und mit der Dunkelheit übernimmt auch die Müdigkeit Macht von mir. Aber ich habe nur noch diese Nacht und den morgigen Tag, ich darf jetzt also nicht schlapp machen. Ich gehe ein paar Schritte nach links und nach rechts, klettere sogar unbehände auf einen der seltsamen Bäume, um zu schauen, ob die Schlucht vielleicht in absehbarer Entfernung ein Ende nimmt. Aber dieser Abrund zieht sich bis zum Horizont. Ich muss irgendwie einen Weg darüber hinwegschaffen. Ich gehe umher und suche einen Baum, dessen Ast vielleicht weit genug über den Abgrund reicht, doch es scheint, als wendeten sie sich alle von dem Riss in der Erde ab. Ich lehen mich an einen der glatten Stämme und rutsche verzweifet daran hinab. Und jetzt? Egal, wieviel Zeit ich noch habe, wenn ich es nicht über diese Schlucht schaffe, war es das mit mir. Ich schließe die Augen, während ich dem Gesang der Vögel lausche. Kurz freunde ich mich mit dem Gedanken an, in diesem Dschungel mein Leben zu lassen, aber schon bald hat mich der Lebenswille wieder. Das ganze ist ein Test. Rileys Mutter hat selbst gesagt, wie wahnsinnig spannend es sei, mein Gehirn zu untersuchen und sie sagte, ich könne es schaffen, wenn ich dem Kompass nach Norden folge. Es könnte natürlich auch alles eine Lüge sein, doch ich bin zu verzweifelt, um an diese Theorie zu glauben. Also rappele ich mich wieder auf und sehe mich in der zunehmenden Dunkelheit um. Solange mir nichts einfällt, das mir bei dieser Schlucht helfen könnte, sollte ich wenigstens versuchen, mich am Leben zu halten. Und das Gefühl, das seit heute Mittag an mir nagt, ist Durst, und weil ich keinen besseren Plan habe, suche ich nach Wasser. Ich halte Ausschau nach einer besonders grünen Stelle und lausche, ob ich etwas plätschern höre, aber das ist in der Finsternis, die sich unnatürlich schnell über den Wald senkt, kaum möglich. Wie dumm von mir! Ich hätte, gleich nachdem ich das Säckchen gefunden hatte, zum See zurückgehen sollen, um die Feldflasche zu füllen. Hätte ich am Anfang nur ein bisschen nachgedacht, würde ich jetzt ein Problem weniger haben. Nun jedoch muss ich mit den Konsequenzen leben, so hart das auch ist.
Plötzlich bleibe ich an einer Wurzel hängen und werde abermals nach vorn katapultiert. Der Ruck geht mir durch Mark und Bein, dann spüre ich Schwerelosigkeit. Kurz darauf presst mir der Aufprall auf den schlammigen Boden alle Luft aus den Lungen. Für ein paar Sekunden liege ich mit weit aufgerissenen Augen da und schnappe trocken nach Luft, ehe ich mich langsam aufsetze, um mich abzutasten. Bis auf ein paar Schrammen ist mir allerdings glücklicherweise nichts passiert. Ich will gerade aufstehen, als vor mir ein kleiner Vogel entsetzlich laut schnattert. Ich schreie leise auf, doch schelte mich im nächsten Augenblick für diesen Laut. Nun dürften alle Tiere im Umkreis von fünfzig Metern auf mich aufmerksam geworden sein. Herzlichen Glückwunsch, Scarlett. Aber ich lasse mich nicht entmutigen und kneife die Augen zusammen, um den schnatternden Vogel besser erkennen zu können. Er watschelt vor mir her, den matt gelben Schnabel weit aufgerissen. Das braune Gefieder ist für diesen Wald nahezu unscheinbar; Er fällt auf, weil er unauffällig ist. Ich will gerade lachen, als mir seine Füße auffallen und ich stutze. Sie sind... gelb, aber angeordnet wie die einer Ente: mit Schwimmhäuten. Fast hätte ich laut aufgejauchzt, wäre ich nicht in einer so ungünstigen Lage dafür gewesen. Keine Frage - hier musste ein See sein, mindestens ein Wasserloch. Ich folge dem Vogel bis zu einer Senke, aus der ein leises Plätschern kommt. "Danke, Kleiner", flüstere ich hoffnungsfroh, während ich mit beiden Händen Wasser in meinen Mund schöpfe. Es ist mir ganz gleich, ob es nun dreckig ist oder nicht, Hauptsache, mein Durst wird gestillt. Igrendwann nehme ich die Feldflasche aus dem Beutel, lasse sie volllaufen und verstaue sie wieder gut, nachdem ich mir selbst versichert habe, dass sie auch wirklich zu ist. Das sollte bis morgen reichen. Beschwingt stehe ich wieder auf und laufe mit meinem Kompass in der Hand zurück zu der Schlucht. Hier, wo die Bäume nicht so eng stehen, kann ich sogar den dunklen Himmel sehen. Die Sterne leuchten hell, kräftig und zuversichtlich, nur vom Mond fehlt jede Spur. Aber heute ist ohnehin ein sonderbarer Tag, ich wundere mich also nicht wirklich darüber.
Das Wasser in meinem Magen gluckert, während ich mich so hinsetze, dass ich mich an einen Stamm lehnen kann. Jetzt, wo ich nicht mehr durstig bin, konzentriere ich mich nur noch auf meine Müdigkeit. Was kann es schaden, wenn ich ein paar Stündchen schlafe? Mit schweren Lidern würde mir jetzt eh kein Plan einfallen. Also nehme ich das Messer in die Hand, um mich im Ernstfall wehren zu können, lasse meinen Kopf gegen den Stamm sinken und schließe die Augen. Ich verlasse mich einfach auf meine innere Uhr, die mich wecken wird, wenn es so weit ist. Die Grillen zirpen mir ein Gute-Nacht-Lied, ein paar Affen geben in weiter Ferne komische Laute von sich. Wenigstens haben die Vögel aufgehört zu schreien, denke ich, ehe ich in einen oberflächlichen Schlaf gleite.
Ich schrecke hoch, als etwas in meiner Nase kitzelt. Sofort bin ich hellwach und reiße die Augen auf; die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Doch die lila Streifen im Osten zeugen davon, dass das bald passieren wird. Ich reibe meine eiskalten Hände aneinander. Wie lange habe ich geschlafen? Drei Stunden? Vier? Egal, wieviele es waren, sie haben gereicht. Mit zwei Fingern schnipse ich die Mücke, die mich geweckt hat, aus meinem Gesicht und stehe auf. Kurz habe ich die Orientierung verloren, aber dann fällt mir alles schlagartig wieder ein. Rileys Mutter. Der Test. Das Zeit-Limit. Die Schlucht. Ich nehme den Lederbeutel von meiner Schulter und greife nach der Feldflasche. Trinke zwei kleine Schlucke. Danach fühle ich mich gleich noch besser und wacher. Was nun? Ich komme mir nutzlos vor, wenn ich nichts tue, also wandere ich grübelnd auf und ab. Was ich brauche, ist eine Brücke. Es reicht, wenn ich einen stabilen Ast auftreiben kann, der lang genug ist, um ihn über den Abgrund zu legen, aber ich habe keine Zeit, mir einen Wolf zu suchen. Obwohl mir eigentlich nichts anderes übrig bleibt, begebe ich mich nicht auf die Suche. Eine Stimme in mir sagt, dass es auch einfacher geht, ohne planloses Umherwandern. Kann ich den Ast nicht viel einfacher auftreiben? Ich betrachte nachdenklich das Messer in der Hand, und da endlich geht mir ein Licht auf. Natürlich! Dank der geriffelten Klinge kann ich einfach einen absägen. Lächelnd suche ich nach einem Baum, der mir dafür geeignet scheint, doch ich stelle schnell fest, dass all die Äste, die ich finde, biegsam und unstabil sind. Mist. Während ich mit der Messerspitze den Dreck unter meinen Fingernägeln hervorpule, macht sich am Horizont die Sonne bemerkbar. In meinem Kopf schrillen alle Alarmglocken los. Ich habe nur noch diesen Tag! Ich lasse die Hand mit dem Messer sinken und sehe mich nachdenklich um. Weit und breit nur Bäume mit labbrigen Ästen. Aber wer sagt denn, dass ich nicht einfach einen ganzen Baum absägen kann? Zufrieden mit dieser neuen Idee suche ich nach einem jüngeren Exemplar, dessen Stamm ich leicht durchsägen könnte. Bald schon werde ich fündig, knie mich hin und beginne sofort mit der Knochenarbeit.
Meine Finger schmerzen wie verrückt, als ich den Baum samt Krone einfach über den Abrund krachen lasse. Wenigstens reicht der Stamm weit darüber hinweg, ich muss mir also keine Sorgen machen, es nicht darüber zu schaffen. Keuchend verstaue ich das Messer wieder in meinem provisorischen Gürtel; der Schweiß rinnt mir bitterkalt den Rücken hinunter. Jetzt darf ich keine Zeit verlieren, erst recht keine Pause machen. Jede Sekunde kann zwischen Leben und Tod entscheiden und ich glaube nicht, dass Rileys Mutter sich auch nur in irgendeiner Weise einsichtig zeigt, wenn ich ich verspäte.
Vorsichtig setze ich einen Fuß auf den dünnen Ast, der mich über den meterlangen Abgrund führen soll. So entschlossen ich eben auch war, als ich jetzt in die gähnende Tiefe schaue, packen mich die Zweifel. Was, wenn ich doch zu schwer bin? Wenn der Baum in der Mitte bricht? Es ist die Verzweiflung, die mich schließlich vorantreibt. Es ist ein Risiko, ja, aber das wusste ich schon, als ich eingewilligt habe, dieses Spiel mitzuspielen. Ich nehme nun auch den zweiten Fuß dazu, pirsche mich langsam voran. Irgendwann lege ich mich bäuchlings auf den Ast, um mein Gewicht bestmöglich zu verteilen. Ich denke, wenn ich jetzt nach unten schaue, packt mich der Schwindel, also lasse ich es sein. Ich traue mich kaum zu atmen. Es ist eine Zentimeterarbeit, aber sie funktioniert. So robbe ich heran, und als ich die andere Seite tatsächlich unversehrt erreiche, fällt mir ein unglaublicher Stein vom Herzen. Aufatmend belohne ich mich mit einem tiefen Schluck Wasser aus meiner Feldflasche, dann gehe ich voran. So gerne ich auch eine Pause machen würde, die Sonne steht bereits hoch am Himmel. Jetzt ist Schnelligkeit gefragt. Ohne nachzudenken verfalle ich in einen leichten Trabschritt, nachdem ich auf dem Kompass nachgesehen habe, dass ich auch in die richtige Richtung laufe.
Als ich den Waldrand mit dem Mittagsstand der Sonne erreiche, bin ich so skeptisch, dass ich mich nicht einmal freuen kann. Heute früh noch hatte ich Angst, es nicht rechtzeitig hier raus zu schaffen, und jetzt habe ich das Ziel erreicht? Bin ich vielleicht falsch gelaufen? Nein, sagt der Kompass, dessen Nadel zuverichtlich nach Norden deutet. Da! Dahinten ist auch der Felsen, den Rileys Mutter beschrieben hat, und sie selbst ist auch da. Ich schnaube. Obwohl ich unendlich froh bin, diesen Wald hinter mir zu haben, packen mich die Zweifel. Es muss einen Haken geben. Ich bin fest davon überzeugt, dass dieser Test so anglegt ist, dass ich den Felsen gar nicht erst erreiche, oder höchstens in letzter Minute. Wenn also die nächste Aufgabe noch nicht dran war, dann kommt sie jetzt.
Für alles gewappnet trete ich aus dem Schutz der Bäume auf die Ebene aus rissiger Erde hinaus. Allein die Tatsache, dass der Boden im Wald noch feucht und weich war und dieser vor Trockenheit staubt, lässt mich daran zweifeln, dass sich das alles in der Realität wiederspielt. Ich zwinge mich jedoch zur Ruhe und widerstehe dem Drang, einfach zu rennen. Tief in meinem Innern weiß ich, dass das äußerst unklug wäre, weil sich das, was auf mich zukommt, auch durch Rennen nicht verhindern lässt.
Dann kommen sie alle. Stürzen kreischend auf mich herab, greifen mich an. Vögel. Hunderte von ihnen. Ich kreische, so lange, bis ich keine Luft mehr habe, dann ergreife ich die Flucht. Es gibt keine Möglichkeit, einen Kampf mit diesen Viechern zu gewinnen, also muss ich doch rennen. Mein erster Impuls, langsam zu laufen, war also vollkommen falsch.
Ihre spitzen Schnäbel zerpicken mir die Haut, sie sind einfach überall. Federn kommen in meinen Hals, sodass ich husten muss, und Krallen zerren an meinen Haaren. "Verschwindet!", keuche ich, unsäglichen Schmerzen ausgesetzt. Es ist gar nicht möglich, sie zu ignorieren, weil sie einfach Macht von mir übernehmen. Ich stürze zu Boden, und weil ich nicht mehr aufstehen kann, krabble ich auf allen Vieren auf den Felsen zu. Ich muss das hier schaffen.
Ich muss einfach.
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Was sagt ihr dazu? Wird sie es schaffen und wenn ja, wie? :-)
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