Kapitel siebzehn

Noch ehe ich beschließe, dorthin zu gehen, tragen mich meine Füße zu Großmutter's heruntergekommener Hütte am Rand von Cayr. Tränen graben Furchen in mein verstaubtes, von meiner Nacht im Wald verdrecktes Gesicht. Komisch, habe ich mich nicht immer den Sagen und Legenden von Hexen und anderen Märchengestalten wiedersetzt? Und jetzt meine ich, eine zu lieben! Es ist verrückt, wo das Schicksal uns hinführt.

Kopfschüttelnd und immer noch weinend öffne ich die knarzende Tür und begebe mich in Großmutter's winziges Eigenheim. Wie üblich sitzt sie am Küchentisch, heute jedoch näht sie neue Kopftücher. Sie hat mich noch nicht bemerkt. Eine Weile bleibe ich stehen, sauge den herzhaften Kräutergeruch in mich ein. Kräuter... Ich zucke zusammen. Auch Riley riecht nach Kräutern, ja, man könnte meinen, es sei derselbe Geruch. Ich erinnere mich, was er gestern über Großmutter sagte. "Dann ist sie auch eine Hexe." Ich schnappe nach Luft. Er hat so viel erzählt, dass ich gar nicht auf diese Information eingegangen bin! Jetzt jedoch trifft mich die Erkenntnis über das Dasein meiner Großmutter wie ein Schlag ins Gesicht. Deswegen hat sie auch immer so wirres Zeug geredet, deswegen wusste sie einige Dinge, die sie gar nicht wissen konnte! All ihre, für mich unschlüssigen Worte ergeben nun einen Zusammenhang. Und ich dachte, ich kenne sie. Schnell verwandelt sich mein Schock in Wut und ich stürze vor, um mit der flachen Hand auf den Tisch zu schlagen. Doch statt sich zu erschrecken, würdigt meine Großmutter mir keines Blickes, nein, sie führt seelenruhig ihre Arbeit vor. Pah! Soll sie doch sehen, dass sie sich nicht immer verstecken kann. "Ich weiß was du bist", stoße ich mit zusammengebissenen Zähnen hervor. Keine Antwort. Wie typisch. Ich fletsche die Zähne und fahre fort: "Du bist eine Hexe! Dein Blut ist hell und wässrig, du riechst nach Kräutern, du versuchst, meinen Blicken auszuweichen, schaust mich nie an. Bist klüger als die Norm." Für den Bruchteil einer Sekunde sieht sie mich mit einem unergründlichem Ausdruck an, von dem mir so schwindelig wird, dass ich mich auf den Stuhl sinken lassen muss. Als sie hinunter auf den Stoff in ihren Händen schaut, ist die Kreislaufattacke vorbei und ich fühle mich ruhiger denn je. Wortlos greife ich zu dem Krug und leere ihn mit einem Zug, während ich auf eine Antwort warte. Gerade, als ich denke, ich kriege keine, sagt Großmutter: "Gibt es nicht immer wieder Menschen, die nicht der Norm entsprechen? Du entsprichst auch nicht der Norm, Liebes." Na wunderbar! Warum kann sie nicht einfach einlenken? Die Hartnäckigkeit muss ich wohl von ihr geerbt haben... "Du bist zu klug, Großmutter", erwidere ich erstaunlich ruhig. "Du weißt Dinge, die du nicht wissen kannst. Es ist zu auffällig." Großmutter bearbeitet weiter den Stoff. Er ist geblümt, genau wie das Kopftuch, das sie jetzt trägt. Nur sauberer, nicht so abgewetzt. "Gib mir ein Beispiel", sagt Großmutter. Ich bin verwirrt. "Ein Beispiel wofür?" "Du sagtest, ich wisse Dinge, die ich nicht wissen kann. Woran hast du da gedacht?" Ich schlucke. Darauf will sie also hinaus... "Riley", sage ich, "du wusstest, dass er ausgepeitscht und verbannt wurde, bevor ich es wusste. Und im Gegensatz zu mir warst du nicht auf dem Dorfplatz, und hast es dir angesehen, nein. Du saßt hier in deiner Küche hinter verschlossenen Fenstern. An diesem Tisch." Ich tippe mit dem Zeigefinger auf die dunkle, zerkratzte Tischplatte. Großmutter lässt die Hände in ihren Schoß sinken, dann starrt sie aus dem Fenster. Wie jedes Mal bin ich geschockt, wie durch und durch grau ihre Augen sind. Riley, denke ich. Er hat durch und durch schwarze Augen. Ich schließe, dass es wohl üblich für Hexer und Hexen ist, dass sie extreme Augenfarben haben. "Er ist hier vorbei gelaufen", sagt Großmutter und nickt zum Fenster, hinter dem die dunklen Tannen aufragen. "Nein", zische ich, "ist er nicht. Du schaust nicht aus dem Fenster, nie. Alles hast du gesehen, du wusstest von Anfang an, wo er war, aber du bewegst dich nicht von diesem Tisch weg. Gib's doch endlich zu. Du bist eine Hexe. Es stört mich nicht sonderlich. Aber weißt du, was mich stört? Wenn Menschen nicht ehrlich sind." Neue Wut, neue Aufregung wallt in meiner Brust auf und verdrängt die gewonnene Ruhe. Wieder sieht Großmutter kurz zu mir rüber, blinzelt, alles so schnell, dass ich es fast nicht mitbekomme, weil sich schon wieder alles dreht. Keuchend warte ich, bis der Horror vorbei ist. "Ich bin immer ehrlich", höre ich Großmutter sagen, die nun den Blick senkt. Der Schwindel ist hinüber, ebenso wie die Wut. Wie macht sie das? "Warum sagst du nicht, dass du eine Hexe bist?" "Ich habe es nie abgestritten." Großmutter schaut hinüber zum Herd, auf dem ein Kessel steht, aus dem Dampf empor steigt. Ich grinse verzerrt. "Kochst du dir einen Hexentrank?", frage ich mit bissigem Unterton, bei dem Großmutter zusammenzuckt. "Du sagtest, es sei in Ordnung." Sie klingt mit einem Mal so verletzt, dass ich die Worte am liebsten zurückgenommen hätte. Doch ich schweige, da ich weiß, dass sie reden, ja, dass sie erklären wird. "Ich konnte es dir nie sagen, Scarlett", murmelt sie. "Im Dorf verbrennen sie Hexen. Was meinst du, warum ich hier draußen wohne? Ich darf nicht auffallen. Niemand darf wissen, wer ich bin und wozu ich fähig sein kann. Ich hatte einen Mann, aber er war dasselbe wie ich. Unser Sohn, dein Vater, war ein Mensch; und das ist das phänomenale. Noch dazu war er so dumm, dass er es all die Jahre, bis er auszog, nicht mitbekommen hat. Dein Großvater. .. er ist irgendwann auf den Platz gegangen, zur Auption. Nicht zurückgekehrt. Du weißt, was mit ihm geschehen ist." "Verbrannt." Ich nicke langsam, während ich mich vorlehne, um ihre Hand zu greifen. "Du hättest mir das sagen können, Großmutter", sage ich sanft, "wirklich, ich hätte dich nie verraten. Im Gegenteil, ich find's gut, dass ich nun weiß, wer du bist. Aber es ärgert mich, dass du mir nicht vertraut hast. Wo ich doch all die Jahre zu dir stand." Großmutter sieht auf unsere verschränkten Hände. "Du musst das verstehen", sagt sie mit brüchiger Stimme. "Ja, das muss ich wohl." Eine Weile schweigen wir einander an, dann fährt sie fort: "Ich habe wässriges und helles Blut, das stimmt. Das ist es, was mich mit der Natur verbindet. Alle fürchten sich vor Hexen und glauben, sie bringen Unheil, dabei sind wir einfach nur Teil der Natur. Man kann meinen, sie ist unsere Familie. Ich habe eine engere Bindung zum Wald und zum Moor, als du je aufbauen könntest. Ich kenne die Kräuter, ich kann mit ihnen reden. Und ich kann welche wachsen lassen." Sie legt eine Pause ein und holt Luft. "Warum ich nach Kräutern rieche, dürfte jetzt kein Rätsel mehr sein. Aber du musst wissen, warum ich dich nicht anschaue. Es ist nun mal so, dass jede Hexe eine besondere Gabe hat. Ich kann deine Gefühle beeinflussen. Ich weiß, wie du fühlst, und durch einen einzigen Blick, kann ich auf das Innerste deiner Seele schauen und deine Stimmung verändern. So wie es mir passt. Deswegen bist du im Gespräch immer wieder ruhig geworden, wenn ich dich angesehen habe. Aber es schwächt auch deinen Kreislauf. Und das fällt auf. Und ich darf nicht auffallen." Zittrig atmet sie ein und aus. Ich merke, dass es ihr schwer fällt, darüber zu erzählen, aber ich bin ihr dankbar, dass sie es mir zu erklären versucht. Zugleich fasziniert es mich, bringt mich zum Staunen. "Das ist meine Gabe", sagt Großmutter. "Aber mit der Zeit habe ich eine weitere entwickelt. Ich kann sehen." "Sehen", wiederhole ich. Großmutter nickt bestätigend. "Ja, sehen. Ich sehe alles, was im Dorf vor sich geht. Wenn ich die Augen schließe, wandere ich durch Cayr, kann durch jedes Fenster gehen, weiß, wer was tut, kenne jeden besser als er sich selbst. Deswegen wusste ich von Riley." "Riley ist zur Hälfte Sirene", sage ich seufzend. "Er meint, er zieht mich in seinen Bann." Jetzt, da sie mir offenbart hat, dass sie alles sehen  kann, muss ich keinen großen Hehl aus meinen Gefühlen machen. Sie kennt sie eh. Womöglich hat sie sogar das ganze Gespräch belauscht. "Er ist ein guter Junge", sagt sie und mit einem Mal lächelt sie. Und dieses Lächeln in diesem alten, runzligen Gesicht, lässt sie so lieblich aussehen, dass es mein Herz berührt. "Aber er meint, ich kann ihn nicht lieben. Vielleicht tue ich das ja auch nicht. Vielleicht ist es wirklich nur der Bann." "Dann müsst ihr ihn brechen." Ich lache auf. "Wie denn? Er ist jahrtausend alt!" Großmutter zeichnet kleine Kreise auf den Tisch. "Überbrücken. Selbstbeherrschung. Dein Kuss war zu eilig. Ihr braucht Zeit. Die zwei Dinge - Zeit und Selbstbeherrschung - sind alles, was ihr braucht." Kein Trank, kein Vermischen des Blutes, kein Vollmondzauber. Zeit und Selbstbeherrschung. So simpel, es muss einen Haken geben. Großmutter spürt meine Zweifel. "Es wird härter, als du denkst, Liebes. Ihr müsst es beide wollen. Lasst es langsam angehen, kein Küssen. Er ist gefährlich, denk dran. Er muss sich einmal nicht beherrschen können, und du bist tot. Risiko. Es ist ein hohes Risiko." "Ich hatte schon immer eine Schwäche für Risiken", gebe ich zurück. "Kümmert euch um Lexi. Verbringt Zeit. Lernt einander kennen. Lasst den Bann vorüberziehen." Den Bann vorüberziehen lassen, das klingt gut. Vielleicht gibt es doch eine Zukunft für uns. Es sei denn, Riley will es nicht - und das ist der Punkt, der an mir nagt.

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Hi! ♥ Ich hab jetzt zwei Wochen Ferien, also mehr Zeit für Wattpad! :D Sagt mir bitte, ob euch das Kapitel gefallen hat und warum. :) Das wäre super duper nett von euch! ♥

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