Kapitel sieben

Kapitel sieben:

Geschockt starre ich auf das blassbrot gefärbte Taschentuch. "Ist was?" Ich zucke zusammen und sehe auf. Vor mir steht Großmutters krumme Gestalt. Was verheimlicht sie mir bloß? "Es ist nichts", beeile ich mich zu sagen und schiebe das Tuch unauffällig in meinen Schoß, um es in meine Rocktasche zu stecken. Ihre grauen Augen ruhen auf mir, so lange wie noch nie zuvor. Eine überraschende Kälte zieht durch meine Haut und ich klammere mich krampfhaft an die Tischkante. "Gut." Großmutter zieht das Wort in die Länge. Dann wendet sie den Blick ab und das mulmige Gefühl verlässt mich augenblicklich. Erleichtert lasse ich die Tischkante los und lehne mich nach hinten. Ich denke, Großmutter weiß weit mehr über den Fremden als ich, auch wenn sie es niemals zugeben würde. Ich muss es selber herausfinden.

Ein lautes Kolpfen lässt mich hochfahren. Großmutter hat mich auf ihrer alten Küchenbank schlafen lassen, von der mir jetzt schon alle Glieder schmerzen. Ein Blick aus dem Fenster verrät, dass es noch mitten in der Nacht ist. Es klopft erneut. "Es ist mitten in der Nacht!", belle ich in Richtung Tür, da Großmutter in ihrem Schaukelstuhl liegt und tief- und fest schläft. "Scarlett, komm' nach Hause!", dringt es durch das Holz. Oh oh... Das ist Vater! Ich beiße die Zähne aufeinander, während ich überlege, ob ich öffnen oder ihn ignorieren soll. Ich entscheide mich für letzteres und lege mich wieder nieder, um weiterzuschlafen.

Wieder ertönt das Klopfen, nur ernergischer. "Großmutter braucht mich!", rufe ich, wie abgesprochen. "Du hast Hausarrest!" Ich balle die Hände zu Fäusten und renne zur Tür,  da Vater sie eintreten würde, wenn ich nicht bald öffne.

Die kalte Nachtluft schlägt mir entgegen. Das erste, was ich entdecke, sind Vaters zottelige, graue Haare, die einst die Farbe von Stroh hatten, so wie meine.

Das nächste ist seine Pranke, die mich grob an der Schulter packt und über die Schwelle zieht, sodass die schwarze Nacht mich vollkommen verschluckt. "Du kommst mit nach Hause." Ich könnte heulen. Wie ein kleines Kind stampfe ich mit dem Fuß auf. "Aber Großmutter braucht meine Hilfe!", sage ich mit sich überschlagender Stimme. Aus der Küche dringt ein Husten, woraufhin Vater zu zögern scheint. Sein Griff wird lockerer. Ich nutze diese Gelegenheit, um mich zurück in den Türrahmen zu ziehen. Meine Hände umklammern die rostige Klinke. "Ich bin euch zuhause sowieso nur im Weg und mache Ärger. Hier helfe ich deiner alten Mutter", sage ich nun sanfter. Vater nickt schwach. "Vermutlich", er seufzt, "hast du recht." Mein Herz macht einen Hüpfer. Wie zur Bestätigung hustet Großmutter ein weiteres Mal. "Aber spätestens in zwei Tagen kommst du heim. Wir müssen dich... vorbereiten." Schon klar. "Versprochen!" Ich ringe mir ein strahlendes Lächeln ab. Wahrscheinlich muss ich tatsächlich nach Hause, vor allem, wenn ich will, dass es Lexi bald besser geht.

Zufrieden senkt Vater die Hände in die Hosentaschen, ehe er sich abwendet und davongeht. Schon nach wenigen Metern hat die Dunkelheit ihn unsichtbar gemacht.

Bevor er es sich anders überlegen kann, schlage ich die Tür zu und lehne mich mit dem Rücken dagegen. "Einen Tee, mein Mädchen?", fragt Großmutter von ihrem Schaukelstuhl aus, doch ich schüttele müde den Kopf. Alles, was ich will, ist, bis zum Morgengrauen zu schlafen, um dann den Tag dafür zu nutzen, mit Riley ein paar Kräuter zu sammeln.

Ich lasse mich auf der Bank nieder und greife zu der alten Strickdecke. Gähnend hülle ich mich darin ein. Bald werden Großmutter's Atemzüge ruhiger und regelmäßiger. Ab und zu schnarcht sie. Doch ich bin nun dummerweise hellwach. Meine Gedanken schweifen von Riley zu seinem Blut und von seinem Blut zu Großmutter's Blut. Sie haben etwas gemeinsam, das weiß ich. Was ich allerdings genauso weiß - und das ist der Teil, der mich so unglaublich wurmt - ist, dass sie wohl beide kein Wort darüber verlieren werden. Gut, ich denke zu viel. Das allerwichtigste ist Lexi. Lexi, Lexi, Lexi, murmele ich mir krampfhaft zu, doch meine Gedanken werden von dieser Melodie unterbrochen, die auch heute Mittag in meinem Kopf spukte.

Und dann spüre ich dieses Ziepen in der Brust, das ich auch hatte, als ich den Wald verließ. Was ist nur los mit dieser Welt?! So viele Fragen und keine Antworten und obendrauf noch ein Junge, der auf mich wirkt wie ein Magnet. Ich kriege sein Bild nicht von meinem inneren Auge weg und je länger ich daran denke, desto hibbeliger werde ich. Vielleicht hat er mich auch angelogen, als er sagte, er würde morgen noch da sein. Vielleicht war es nur ein Trick, mich loszuwerden. Vielleicht ist es morgen früh schon zu spät und dann wird Lexi sterben. Es ist zwar nicht sicher, aber ich habe dieses ungute Gefühl, diese böse Vorahnung, dass er meine letzte Rettung ist.

Kurz entschlossen schwinge ich die Beine über die Bank und halte einige Sekunden inne, um mir zu versichern, dass Großmutter tatsächlich schläft.

Dann husche ich über die alten Platten zum Haken, greife zu meiner Jacke, schlüpfe in die schlammverkrusteten Stiefel und nehme Reißaus.

Die Luft der Nacht ist kalt, so kalt und der Wind zieht und zerrt an meinen Kleidern und trotzdem renne ich weiter. Meine Lungen schreien nach Rast, doch ich halte nicht an. Riley darf nicht verschwinden, er darf einfach nicht!

Keuchend stürze ich mich ins Unterholz, für das Messer ist mir keine Zeit geblieben, es einzustecken. Die Dornen haken sich in meine Arme, Gesicht und Hals und reißen Risse in die Haut. Ritsch Ratsch!

Ich schließe für einen kurzen Moment die Augen, als ich das Waldesinnere erreicht habe. Meine Atmung beruhigt sich und ich gehe zu einem Baum, um hinaufzuklettern. Vielleicht ist Riley dort. Vielleicht bin auch nur vollkommen verrückt. Eine Verrückte, die denkt, ein fremder Schwächling könne ihre Schwester heilen. Fast hätte ich über mich selbst gelacht, wäre da nicht die Hoffnung in mir. Er ist womöglich meine einzige Chance - warum nicht ausprobieren? Wenn ich versage, habe ich es wenigstens versucht.

Dieser Gedanke heitert mich auf und ich hangele mich durch das Geäst. Als ich oben angekommen bin, springe ich in den nächsten Baum. Nicht so geschickt und flink wie er, doch ich halte mich wacker. Ein Knacken über mir. "Riley? Bist du das?", flüstere ich, doch eine Antwort bleibt fern. Schulterzuckend klettere ich weiter, wobei ich versuche, ein Zittern zu unterdrücken und mir auszureden, dass es kalt ist.

Durch die Blätterkronen sehe ich die hellen Wolkenfetzen, die über den finsteren Himmel jagen und mit einem Mal meldet sich die Müdigkeit zurück. Ich lasse mich vom Baum gleiten und das nasskalte Moos fängt mich nur allzu bereit auf. Ich strecke alle Viere von mir aus und lasse mich besudeln vom Wind und vom Schmerz und von der Kälte.

Das letzte, was ich vernehme, bevor sich meine Augen wie von selbst schließen, ist der Klang der unbekannten Melodie.

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Es ist nicht lang, ich weiß, aber ich hoffe ihr mögt es trotzdem. Bitte bitte bitte kommentieren und voten! ♥ Ich wäre euch ja sooo dankbar! :) *_*

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