Kapitel fünfunddreißig
Meine nackten Füße berühren den rauen Holzboden, als ich mich im Schlafrock mit einer Kerze in Lexis Zimmer schleiche. Draußen tobt ein schreckliches Unwetter, das den Wind tosend ums Haus sausen lässt und an den Bäumen zerrt, die unseren Hof säumen. Immer wieder hellen Blitze für Bruchteile von Sekunden die finstere, wolkenverhangene Nacht auf. Ich hoffe, Riley geht es gut bei Großmutter. Ich hoffe, die beiden haben einen Plan, der uns alle retten kann. Mit Sehnsucht im Herzen stoße ich die Tür zum Zimmer meiner kleinen Schwester auf. Sie sitzt mit ihrer Fibel im Bett, den Finger unter einer Zeile, und spricht leise mit, während sie die Worte liest. Ich lächele leicht, beobachte sie. Dann, als die Tür knarzend ins Schloss gleitet, dreht Lexi sich zu mir um. "Da bist du ja endlich!" Ihr Gesicht erhellt sich und sie legt ihre Fibel achtlos beiseite. "Psst", mache ich, während ich mich auf ihre Bettkante setze. "Mutter und Vater schlafen doch." Lexi nickt mit wachsamen Augen. Dann legt sie ihre Hand in meine und sieht zu mir auf. "Kannst du mir erklären, warum ich mich in Tiere verwandeln kann?" Ihre direkte Art, die Frage zu stellen, lässt mich zusammenzucken. Es tut mir so leid. "Du bist ganz besonders, Lexi. Aber du musst keine Angst haben." "Ich habe keine Angst", entgegnet sie ehrlich. "Ich will es nur verstehen können." Ich schüttele den Kopf und lächele traurig. "Es gibt Dinge, die können wir nicht verstehen, Liebling." Eine Weile schweigen wir. Plötzlich ertönt am Fenster ein leises Knacken und wir wechseln einen langen Blick. "Was war das?", fragt Lexi mit großen Augen. "Das weiß ich nicht. Lass mich nachsehen." Ich löse ihre Hand von meiner, dann stehe ich auf und pirsche mich an das Fenster. Es ist nicht verschlossen, sondern lehnt locker am Rahmen. Ich werfe meiner Schwester einen fragenden Blick zu. "Hast du etwa das Fenster aufgelassen? Bei dem Wetter?", sage ich. "Nein", sagt Lexi und schüttelt ihre roten Locken. Ich hole tief Luft, ehe ich das Fenster aufreiße, um in den Regen hinauszustarren. Aber das Wetter ist so schlecht, dass ich nicht mal bis zum Moor sehen kann. Dafür sehe ich eine Gestalt, die unter mir an der Hauswand lehnt und so weiße Haut hat, dass sie durchscheint. "Riley." Ich seufze erleichtert. Er sieht zu mir auf, dann schwingt er sich mit Bewegungen, die zu schnell für meine Augen sind, ins Zimmer. Seine Jacke tropft vom Regen. Lexi quietscht begeistert auf und springt mit flinken Füßen vom Bett. Es ist ihr wohl egal, dass er pitschnass ist, denn sie schlingt ihre Ärmchen trotzdem um seinen schmalen, hochgewachsenen Körper und schließt selig die Augen. Wie immer wärmt es mir das Herz auf, zu sehen, wie er meine Schwester begeistert. Es gibt mir das gute Gefühl, sie nicht zu vernachlässigen, wenn ich Zeit mit ihm allein verbringe. Als er sich aus Lexis Klammergriff befreit hat, dreht Riley sich zu mir um und gibt mir einen flüchtigen Kuss. Wie jede andere löst auch diese kleine Berührung ein wohliges Prickeln in mir aus. Es erinnert mich an den Kampfgeist, an die Hoffnung in mir: Für diese Berührungen muss ich kämpfen. Für sie und für die Sicherheit aller, die mir wichtig sind. "Lexi will Erklärungen", sagte ich und greife nach seiner Hand. Er kräuselt die Lippen, während er sich vo meiner Schwester bereitwillig zum Bett ziehen lässt. Wir alle lassen uns darauf nieder. "Ja", nickt Lexi, die mich gehört hat. Sie reckt ihr Näschen vorwitzig in die Luft. "Ich will, dass ihr mir alles erklärt." Riley und ich wechseln einen Blick und er bläst die Backen auf. "Na schön", meint er schließlich und lehnt sich zurück. "Dann werden wir dir erklären, so gut es geht." Innerlich stöhne ich auf, als Lexi mir einen triumphierenden Blick zuwirft, aber äußerlich lasse ich mir nicht anmerken. "Weißt du, dass du sehr lange krank warst?", fange ich an, vielleicht etwas zu eilig. Meine kleine Schwester runzelt die Stirn und schüttelt schließlich den Kopf. "Nein. Oder, warte... Da war irgendwas. Ich habe geträumt. Ganz lange. Als ich aufgewacht bin, waren alle total aufgeregt und Mutter hat geweint. Vor Freude, hat sie gesagt. Das habe ich nicht verstanden. Ich hab doch nur länger geschlafen als sonst." Wie es aussieht, ist sie wirklich verwirrt. Ich nehme ihre rosigen Kinderhände in meine und schaue sie beschwörend an. "Lexi. Du hast nicht geschlafen, du warst krank. So krank, dass Mutter und Vater dachten, du seist schon... im Himmel." An der Stelle macht meine Schwester große Augen. "Aber ich bin doch noch viel zu jung, um in den Himmel zu kommen." Wieder schüttelt sie verständnislos den Kopf und ich schließe hilflos die Augen. Wie soll ich ihr nur all das mit friedlichen Worten beibringen? Als spüre er, wie verzweifelt ich bin, übernimmt Riley das Reden: "Wir Menschen können uns nicht aussuchen, wann wir in den Himmel kommen, Lexi. Aber darum geht es jetzt gar nicht, du warst ja noch bei uns. Aber du warst so krank, dass du ganz lange geschlafen hast. Dabei hast du geträumt, deswegen hast du nicht mitbekommen, dass es dir schecht ging. Aber Scarlett und ich haben herausgefunden, dass es keine gewöhnliche Krankheit war." Hier holen wir beide tief Luft, denn hier beginnt die beginnt die eigentliche Geschichte vom Dämon. Lexi starrt uns an, sie scheint zu merken, wie wir uns anspannen. "Was war es dann?", fragt sie mit großen Augen. "Ein Dämon", sagt Riley schlicht. Ich sehe ihn unsicher an und lasse die angehaltene Luft aus. "Was ist das?", fragt Lexi mit schief gelegtem Kopf. "Eine Art Geist", sage ich und bereue die Worte gleich darauf wieder, weil meine Schwester völlig verschreckt das Gesicht verzieht. Na toll. Ich beiße mir auf die Unterlippe, senke den Blick. "Ein guter Geist", beeilt Riley sich zu sagen. "Es ist eiin guter Geist und er hat sich deinen Körper nur kurz ausgeborgt. Leider hat dich das sehr krank gemacht. Scarlett und mir ist es gelungen, ihn aus dir zu vertreiben. Aber er hat Spuren hinterlassen. Oder nennen wir es so: Weil er in dir wohnen durfte, hat der Dämon dir eine Gabe geschenkt. Die Gabe, sich in alle erdenklichen Tiere zu verwandeln." Den letzten Satz sagt er beinahe feierlich. Was bringt ihr diese Gabe?, schreie ich innerlich, doch halte mich zurück. Im Moment ist es nicht an mir, Fragen zu stellen. Dieser Abend gehört meiner Schwester. Das sind wir ihr schuldig. "Aha." Allmählich scheint Lexi zu verstehen, denn ihre Miene hellt sich auf. "Na schön. Und was hat das jetzt mit Rileys Eltern zu tun?" Gute Frage. Es scheint, als explodiere mein Kopf vor lauter Verwirrung und verzweifelter Hoffung. "Deine Gabe könnte uns helfen“, sage ich zittrig und atme tief ein. Mein Atem rasselt, so sehr regt es mich auf, dass meine Schwester da mit reingezogen wird. Riley wirft mir einen mitleidigen Blick zu. "Wobei helfen?", fragt Lexi mit gerunzelter Stirn. "Meine Eltern kommen her, um mich zurückzuholen", sagt Riley und lächelt schief. "Ich will aber nicht gehen. Es könnte zu einem Kampf kommen, weißt du? Sie sind nämlich stark genug, um ganz Cayr Schaden zuzufügen. Das wollen wir verhindern." Seine Stimme ist ganz ruhig und Lexi scheint sich in keinster Weise zu fürchten. Das Kind ist viel zu gelassen, während ich mich am Riemen reißen muss, um nicht auszurasten. Ich zwinge mir ein Lächeln ab und schiebe mir das Haar aus der Stirn. "Wir werden Rileys Eltern gegenübertreten. Wir alle drei zusammen mit Großmutter. Mutter und Vater dürfen nie davon erfahren, hörst du?" "Ja", sagt Lexi gedehnt und verdreht die Augen. "Bitte nimm mich ernst." Ich seufze tief, dann schließe ich die Augen. "Das tue ich doch", tönt Lexi glockenhell. Sie nimmt meine Hand. "Wirklich, Scarlett. Ich hab's begriffen." Gut. Ich lehne mich zurück und beschließe, Riley das Reden zu überlassen. "Wie gesagt, es könnte zu einem Kampf kommen", seufzt Riley und lehnt sich mit in Falten gelegter Stirn vor. "Eure Großmutter und ich haben aber schon eine Idee, wie wir recht friedlich gewinnen können." Ein leichtes Lächeln tritt in sein bleiches Gesicht und ich kann mir nicht helfen, bei dem Anblick zuckt es auch in meinen Mundwinkeln. "Was heißt das?", fragt Lexi, nachdem sie herzhaft gegähnt hat. Mein Lächeln verschwindet und zurück kommt das schlechte Gewissen. Meine kleine Schwester zwischen Hexern und Sirenen... ob das gut geht? Das frage ich mich abermals. "Nun ja", setzt Riley behutsam an, "wir glauben, den Hauch eines Plans zu haben. Passt auf: Meine Eltern sind sehr wütend. So viel wissen wir. Mit der Geschwindigkeit, mit der sie laufen, sind sie spätestens morgen Abend hier, und sie werden versuchen, so viel wie möglich zu zerstören, wenn sie mich nicht bekommen. Aber mit ein bisschen Nachhilfe können wir sie vor eine Barriere laufen lassen, die sie aufhält. So habe ich Zeit, mit ihnen zu reden." Während ich überlege, welche Barriere er meint, hat Lexi längst schon begriffen. Sie grinst Riley breit an. "Ihr könnt zaubern, du und Großmutter. Nicht wahr?" Sie reibt ihre rosigen Händchen aneinander und schaut ihn blitzend an. Riley lacht leise. "Woher weißt du davon?" Ich schnappe nach Luft. Wie kann sie es wissen, wenn ich meine Zunge in ihrer Nähe stets gehütet habe? Hat sie in ihrer Krankheitsphase doch mehr mitbekommen, als wir meinten? "Ich kann es spüren", sagt sie ruhig und fasst meine Hand, um sie zu ihrer Brust zu führen. Sie legt sie auf ihr Herz. "Hier spüre ich es. Und in den Zehen und in den Fingern. Jedes Mal, wenn Riley oder Großmutter zaubern, kribbelt es dort. Und ich kann es sehen. In ihren Augen leuchtet es, wenn sie ihre Gaben benutzen, aus ihren Fingerspitzen kommt Licht, wenn sie ihre Magie einsetzen. Meine Augen sind wohl besser geworden." Ich schaube, so verblüfft bin ich. "Ja, das sind sie wohl." Ich sehe Riley fragend an, doch der zuckt bloß die Achseln. "Ich habe sie mithilfe von Zauberkraft geheilt. Die ist noch immer in ihrem Körper, sodass wir eng verbunden sind. Und es stimmt, dass wir leuchten, wenn wir zaubern, nur ist das normalerweise nicht sichtbar." Ich schließe die Augen, um meine Gedanken zu ordnen. Dann schaue ich wieder auf, in zwei lächelnde Gesichter. "Also habt ihr vor, mithilfe eurer Kräfte eine Art unsichtbare Wand entstehen zu lassen, an der deine Eltern nicht vorbeikommen, oder wie?" Riley nickt. "So ist es. Wir arbeiten noch an der Technik." Ich beiße mir auf die Unterlippe. Das sagt er jetzt so einfach, aber wie schwer wird es, den Gedanken in die Tat umzusetzen? Und wie lange können sie die Barriere halten, ehe ihnen die Kräfte ausgehen? Ich denke, Rileys Eltern werden alles versuchen, sie zu zerstören, und sie sind stark. Was dann? Sie dürfen nicht kriegen, was sie wollen, denn das gehört inzwischen mir. "Hey, sieh mich an", höre ich Rileys sanfte Stimme. Seine langen Finger fassen mein Kinn und drehen es vorsichtig in seine Richtung, sodass wir uns in die Augen sehen. Etwas an seinem Ton lässt mich vermuten, dass er meine Gedanken gelesen hat und das ist mir wie eh und je unangenehm. Meine Gedanken sind etwas, das ich nur ungern teile. "Tut mir leid", sagt Riley mit einem schrägen Lächeln. "Aber du denkst einfach so süß." Ich spüre, wie mir das Blut in den Kopf schießt. Neben uns sitzt meine kichernde Schwester, die mir sicher später was vorsingen wird und er fängt an, mir zu schmeicheln? Als sei das nicht genug, beugt er sich hinab und küsst meine Wange, eine kalte, dahingehauchte Berührung. Mir wird heiß und kalt zugleich. "Sei nicht immer so besorgt", murmelt er kopfschüttelnd. "Wir kriegen das schon hin. Vertrau mir. Deine Großmutter ist sehr mächtig und ich kann das auch ganz gut." Ich kratze mich seufzend am Nacken. "Und welche Rolle spielt meine Schwester bei dieser Barriere? Ich meine, verwandelt sie sich in einen Bären, der deine Eltern einschüchtern soll, oder was?" Riley bricht in leises, hysterisches Gelächter aus. "Ich liebe dich so sehr, Scarlett!" Kichernd nimmt er meine Hand und führt sie an seine Lippen. Ich schüttele verwirrt den Kopf. "Ähm." Ich werfe Lexi einen hilflosen Seitenblick zu, aber die ist ebenfalls sehr amüsiert. "Das würde meine Eltern kein bisschen einschüchtern", sagt Riley, der sich einigermaßen beruhigt. "Morgen früh wollen wir üben, was Lexi sonst noch so drauf hat. Das heißt, dass wir früh aufstehen müssen. Was wiederrum bedeutet, dass wir jetzt schlafen gehen sollten." Er streichelt meinen Rücken, während wir uns gleichzeitig erheben. "Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich jetzt noch ein Auge zudrücken kann", schimpfe ich leise, aber das kleine Grinsen verrät mich. Ich bin nicht wirklich sauer. Lexi streckt ihre Ärmchen nach mir aus und ich bücke mich, um ihr einen Schmatzer zu verpassen. Dann decke ich sie zu, streichle ihre Wange, bis ihr die Augen zufallen. Ich weiß, dass sie lange braucht, um in Tiefschlaf zu fallen, aber ruhig ist sie allenfalls. Der Abend war sehr lang für sie.
Riley und ich liegen schweigend Seite an Seite und halten uns bei der Hand. Ich beobachte den Mond, wie er immer weiter über meine Zimmerwand wandert, ohne dass ich einschlafe, während Riley tief und entspannt atmet. Aber ich weiß, dass er nicht schläft. Großmutter hat recht, der Bann verbindet uns so sehr, dass wir den anderen so spüren können, dass wir merken, was in ihm vorgeht. Und wenn er schliefe, wäre alles ruhig, aber ich fühle das aufgeregte Rauschen, als sei es mein eigenes Herz. Aber vielleicht ist das auch so. Vielleicht schlagen unsere Herzen in einem Takt. Vielleicht teilen wir ein großes Herz. Die Vorstellung gefällt mir so sehr, dass ich grinsen muss - und beschließe, diese Nacht nicht schweigend und stumm in meinem Bett zu verbringen. Lächelnd stütze ich mich auf meine Hand, sodass ich ihn ansehen kann. Riley hat die Arme hinterm Kopf verschränkt und blitzt mich an. "Was ist los, Scarlett? Was hast du vor?" Meine ausgeschütteten Glückshormone scheinen ihn zu verunsichern - ob sie auch durch seinen Körper schießen? Ich lege meine Hände an seine stählerne Brust und beuge mich tief zu ihm hinab. Als er mich seitlich der Rippen hält, grinst auch er. Meine Haare fallen uns beiden ins Gesicht, aber ich streiche sie hinter mein Ohr. Ich befeuchte meine Lippen. "Ich dachte", beginne ich, während ich mit den Fingerspitzen ein willkürliches Muster auf seine Brust male. "Ich dachte..." Meine Hände wandern zu seinem wunderschönen Gesicht und verharren an seinen Lippen. Er starrt mich erwartungsvoll an. "Du dachtest was?" Sein Atem stockt im selben Moment wie meiner. Ich lächele. "Es sind noch mehrer Stunden, bis die Sonne aufgeht. Und da wir beide nicht schlafen, können wir die Zeit doch sinnvoll nutzen." Meine Stimme ist gedämpft, meine Lippen nur wenige Zentimeter von seinen entfernt. Inzwischen liegt mein kompletter Oberkörper auf seiner Brust, was ihn jedoch nicht zu stören scheint. Riley lächelt. "Ich liebe dich für deine Gedanken", flüstert er an meine Lippen. Ich sehe in seine endlosen dunklen Augen. Wie immer verliere ich mich völlig darin. "Und ich liebe dich für alles." Mit den Worten verschließe ich das letzte bisschen Luft zwischen uns und seufze in den Kuss hinein. Er ist zart, aber leidenschaftlich. Und das beste: Wir müssen nicht eher aufhören als Sonnenaufgang. Es ist perfekt. Ich liebe diesen Jungen. Ich liebe mein Leben, die ganze Welt. Für ein paar wunderbare Stunden können meine Sorgen in den Hintergrund rücken...
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Meine Lieben! Es tut mir sehr leid, dass ich euch so lange hab zappeln lassen, aber ich war im Urlaub. Und man gönnt sich ja sonst nichts. :D Deswegen nehmts mir nicht übel und schreibt in die Kommis, wie euch das Kapitel gefallen hat. :*
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