Kapitel einundvierzig
Mein Gesicht schrammt über den staubenden Boden der rissigen Ebene, meine Hände krallen sich einem Reflex folgend um die ausgedörrten Grashalme. Überall, wo ich hinsehe, sind Vögel und Federn, Blut rinnt über meine Augen. Ich krieche nicht mehr weiter, sondern schreie mir die Seele aus dem Leib. Die Schmerzen und die unmittelbare Angst vor diesen Vögeln sind einfach zu groß, als dass ich vernünftig hätte reagieren können. Ich raste völlig aus. Mit klammen Fingern nehme ich das Messer aus meinem provisorischen Gürtel und schlachte ein gutes Dutzend der Viecher ab, aber es werden mehr. Für jeden Vogel, den ich töte, kommen zwei weitere herbei, um mir das Gesicht zu zerhacken, bis mein Körper nur noch prickelt und pocht, zerschunden von spitzen Schnäbeln. "Haut ab!", brülle ich, doch ich bekomme nur Federn in Hals und Rachen und muss husten, also lasse ich das Reden sein. Vorsichtig hebe ich den Kopf. Ich sehe Rileys Mutter in etwa hundert Metern Entfernung am Felsen lehnen und lächeln. Das Sonnenlicht explodiert in ihren hell rosa und blonden Haaren; mir fällt auf, dass sie keinen Schatten wirft. Warum greifen die Vögel nicht sie an? Bei dem Versuch, mir das Blut von den Wangen zu wischen, schmiere ich es mir bloß quer übers Gesicht und Tränen versperren mir die Sicht. Was ist das für ein verfluchter Ort? Warum greifen mich diese Vögel an, obwohl ich keinerlei Bedrohung für sie dargestellt habe? Zitternd blicke ich hinter mich. Der Rand des vor Leben explodierenden Waldes ist nur wenige Meter entfernt und bei dem Gedanken, mich dorthin zurückzuziehen, pumpt mein Herz vor Sehnsucht doppelt so schnell. Zum Felsen schaffe ich es auf keinen Fall, nicht zumindest in einem Zustand, in dem ich weiterhin Rileys Mutter und ihren Aufgaben gerecht werden könnte. Mir bleibt also gar keine andere Möglichkeit, als in den Wald zurückzukehren. Vielleicht lassen die Vögel dann von mir ab? Sie haben mich ja auch vorhin im Wald in Ruhe gelassen. Vielleicht warten sie mit spitzen Schnäbeln und Argusaugen darauf, dass ich die Ebene wieder betrete, aber bis dahin werde ich einen Plan und Waffen haben, die mir das Leben retten. Ein Versuch muss es einfach wert sein - der Tag ist schließlich noch jung. Es reicht völlig aus, wenn ich den Felsen um Mitternacht erreiche, denn erst dann hat der zweite Tag sein Ende. Erst dann ist alle Hoffnung hinüber. Aber bis dahin kann ich praktisch tun und lassen, was ich will und wenn ich diesen Test überleben will, dann muss ich wohl oder übel mit dem Risiko spielen.
Während ich mich zaghaft aufrappele, greife ich mein Messer fester und schlage um mich, obwohl ich genau weiß, dass ich die Wut der Vögel dadurch nur noch mehr schüre. Aber ich muss in den Wald zurück, koste es, was es wolle. Dann setzen sich meine Beine in Bewegung und hetzen über die Ebene hinweg. Letzendlich weiß ich nicht, wer lauter kreischt - ich oder die Vögel - aber es ist auch egal. Sobald ich den sprießenden, summenden Wald erreicht habe, ist es, als prallen sie vor eine Wand. Wütend fliegen sie dagegen an und ich kann den wilden Ausdruck in ihren Augen sehen, der viel zu menschlich für diese Tiere ist, aber vorerst bin ich in Sicherheit. Fast sofort geben meine Beine unter mir nach. Meine Arme zittern heftiger denn je, als ich auf eine Stelle mit weichem Moos zukrabbele, wo ich mich hinsetze, die Knie anwinkele und die Arme fest darum schlinge. So wiege ich mich vor und zurück, eine ganze Weile, versuche weinend, die grässlichen Bilder von diesen Vögeln aus meinem Verstand zu vertreiben. Irgendwann hallen ihre spitzen Schreie nicht mehr in meinem Kopf nach und ich werde ganz ruhig. Bevor ich die Augen entgültig aufschlagen, zähle ich ihm Stillen bis zehn. Dann lockere ich den Griff um meine Knie, sehe mich um und hole mit beinahe mechanischen Bewegungen meine halb volle Feldflasche aus meinem Lederbeutel. Drei große Schlucke sind es, die ich mir zugestehe, aber sie reichen aus, um mich ein bisschen zu trösten. Schließlich verstaue ich die Flasche wieder sorgfältig und widme mich meinen Wunden. Sie alle brennen, doch ich kann trotzdem von Glück reden, dass sie nicht allzu tief sind, denn die Schnäbel der Vögel haben lediglich oberflächliche Schrammen hinterlassen. Mein ganzer Körper ist voll davon. Weil ich weiß, dass es absolut nicht gesund ist, dass die offenen Wunden mit dem Staub der Ebene in Kontakt gekommen sind, nehme ich die Feldflasche wieder raus, und säubere sie auf das Gröbste. Mit dem Wasser muss ich schließlich sparsam umgehen, wer weiß, wann ich wieder welches finde? Dann schultere ich den Beutel, stehe auf und strecke die zerschundenen Beine und Arme von mir, um zu sehen, wie groß die Schmerzen sind. Ich zucke zusammen, falle jedoch nicht um. Wenn ich die Zähne zusammenbeiße, wird es gehen, das weiß ich genau. Ich habe schon viel schlimmeres durchmachen müssen.
Es dämmert schon, als mir die erleuchtende Idee kommt. Die ganze Zeit bin ich auf und ab getigert, zunehmends unruhig geworden und habe dem Scharren der Vögel auf der Ebene gelauscht. Ich bin auf die kuriosesten Gedanken gekommen, habe viel zu kompliziert gedacht. Aber jetzt weiß ich, was ich wirklich brauche, um ihnen gegenüberzutreten: Feuer. Die Waffe gegen alles. Während die Sonne also dem Horizont entgegensinkt, friedlich wie eh und je, sitze ich auf einem flachen, großen Stein, neben mir Laub und das trockenste Holz, das ich finden konnte, und entfache ein Feuer. In Cayrs Wäldern war es eine Sache von Minuten, schließlich herrschte dort nie solch eine Luftfeuchtigkeit wie hier. Doch nachdem ich mich eine Weile abgemüht habe, entstehen die ersten, schüchternen Funken. Es werden mehr. Mehr und mehr, bis auf dem Stein ein richtiges, kleines Feuer entsteht und mir der Schweiß den Rücken hinunterrinnt, wo er brennend in die Wunden der Vögel kriecht. Die Blasen, die ich noch vom Baumfällen am Morgen hatte, sind bei der Arbeit aufgeplatzt. Ich gehe weder auf den salzigen Schweiß in meinen Wunden noch auf letzteres ein, sondern nehme mir den dicken Ast zur Hand, den ich vorhin aufgetrieben habe. Er ist so dick, dass es lange dauert, bis er endlich Feuer fängt, aber eben dick genug, damit er länger brennt. Als ich sicher bin, dass er nicht mehr erlischt, trete ich mit den Füßen das kleine Feuer auf dem Stein aus. Feiner Rauch steigt vermischt mit dem Geruch von verbrannten Blättern und Asche in mein grimmiges Gesicht. Ich bin entschlossen und bereit, diesen scheußlichen Vögeln ein weiteres Mal entgegenzutreten. Dieses Mal werde ich siegen.
Mit selbstbewussten Schritten und dem brennenden Ast in der Hand gehe ich zum Waldrand zurück, doch ehe ich aus dem Dickicht breche, halte ich inne, um einen animalischen Schrei auszustoßen. Sie sollen ruhig wissen, dass ich nicht geflohen bin, sondern wiederkomme, um sie zu zerstören. Auch Rileys Mutter soll wissen, dass ich zäh genug bin, um immer wieder neuen Mut zu schöpfen. Und jetzt, bitte schön, soll sie sich zurücklehnen und staunen.
Den Ast, an dem mein Leben hängt seitlich haltend, stürme ich aus dem Wald. Nur Augenblicke später sind die Vögel wieder da und fliegen in geballter Formation auf mich zu, doch als sie das Feuer bemerken, weichen sie mit empörtem Kreischen von mir ab. Keuchend lege ich Meter um Meter zurück; die ganze Welt ist flammend rot. Die heißen Flammen treiben mir Schweiß in die Stirn und werfen flackernde Schatten auf meine Haut, während sie immer mehr Besitz von dem Ast ergreifen. Nicht mehr weit und sie haben meine Hände erreicht. Aber ich bin gut. Ich komme voran, ohne auch nur ein einziges Mal angegriffen zu werden, und das treibt mich an.
Als ich den Felsen schließlich erreiche, breche ich in wilde Jubelgesänge aus und schleudere den Ast von mir. Obwohl er in der trockenen, staubigen Erde fast sofort erlischt, habe ich keine Angst, dass die Vögel wiederkommen. Wenn sie Rileys Mutter hier nicht angegriffen haben, werden sie auch mich nicht angreifen. Rileys Mutter blickt auf den qualmenden Ast in der Ebene, um ihre Mundwinkel zuckt ein Schmunzeln. "Glückwunsch", sagt sie leise und bedächtig. Ich komme nur langsam zu Atem. Der Großteil der Vögel hat sich zurückgezogen. Nur ein paar von ihnen hüpfen mit schief gelegten Köpfen um den angesengten Ast herum, als könnten sie nicht glauben, was ich da gerade getan habe. "Komm mit hinter den Felsen, mein Kind", sagt Rileys Mutter und sieht mich das erste Mal seit meiner Ankunft an. Ihre Wangen sind leicht gerötet und ihre tiefen, dunkelgrauen Augen lächeln mich an. Obwohl in meinem Hals etwas entsteht, das sich nicht hinunterschlucken lässt, folge ich ihr hinter den Felsen. Das erste, was ich dann sehe, ist das kleine Wasserloch, neben dem ein Lagerfeuer knistert. Rileys Mutter hat keine Mühe gescheut und zwei Decken nebst einem Medizinerbeutel und Schalen voll exotischem Obst bereitgelegt. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen, doch ich ich widerstehe dem Drang, mich auf die Köstlichkeiten zu stürzen und sehe sie stattdessen fragend an. "Was soll das?" Sie lächelt beinahe mütterlich auf mich herab. "Ist das die Frage, die du mir stellen willst, nachdem du tagelang ums Überleben gekämpft hast, oder möchtest du es dir noch einmal überlegen?" Mit einer geschmeidigen Bewegung sinkt sie neben dem Lagerfeuer ins trockene Gras und nimmt sich eine kleine, dunkle Beere aus dem Korb. Zähneknirschend setze ich mich neben sie. "Ich überleg's mir noch mal." Es ist ärgerlich, dass Rileys Mutter es mit dem Spiel, das wir spielen, so ernst nimmt, aber der Frust darüber wird von dem Restadrenalin aus meinem Körper verdrängt. Zögernd beuge ich mich vor und angele mir einen Strauch tiefvioletter Trauben aus dem Korb. Ich vertraue Rileys Mutter, dass sie mich nicht vergiften wird, und ich bin zu hungrig und die Beeren zu köstlich, als dass ich die Finger davon lassen könnte. "Lass' mich deine Wunden verarzten", sagt Rileys Mutter, während sie nach dem Medizinerbeutel greift. Unbehagen beschleicht mich; sofort halte ich inne. "Nein." Sie macht ein verdutztes Gesicht, in das ich am liebsten die halb gekaute Traube gespuckt hätte, die ich gerade im Mund habe. Aber ich ringe mir das letzte bisschen Haltung ab und belasse es dabei. "Aber das sieht schmerzhaft aus", versucht sie es noch einmal. "Eine Blutvergiftung ist das letzte, was du in den nächsten Tagen gebrauchen könntest." "Dann gib mir den Beutel", sage ich auffordernd und strecke den Arm aus. Wer denkt sie eigentlich, wer sie ist, dass ich ich von ihr verarzte lasse? Für diesen Gedanken könnte ich sie nur noch auslachen, säße ich nicht so verdammt tief in der Patsche. Rileys Mutter rührt sich nicht. "Ich kann das alleine", sage ich gedehnt. "Gib mir einfach den Beutel." Sie blinzelt, dann reicht sie mir tatsächlich die kleine Ledertasche. "Na gut", zwitschert sie fröhlich und zaubert mehr Holz für das Feuer hervor, während ich nur die Augen verdrehe. Diese Frau ist doch der helle Wahnsinn! Vorsichtig öffne ich die Schnalle des Medizinbeutels, krame nach Iod und tröpfele es auf meine unzähligen Wunden, um diese zu desinfizieren. Ich stelle mir einfach Rileys herrlich kühle und weiche Hände vor, wie sie mich verarzten, schwelge in der Erinnerung ganz zu Anfang, als ich mir das Knie aufschürfte. Dann verbinde ich die schlimmsten Wunden mit Verbandsmull und schlucke schließlich eine kleine, fest zusammengepresste Kräuterpille gegen Schmerzen, die ich mit dem letzten Rest aus meiner Feldflasche hinunterspüle. Während ich diese mit dem frischen Wasser aus dem Wasserloch zu meiner Rechten auffülle, stelle ich erleichtert fest, dass es mir schon besser geht. Rileys Mutter hat die ganze Zeit über schweigend dagesessen und mich beobachtet, doch jetzt lehnt sie sich gespannt vor. "Was hast du empfunden, als die Vögel kamen?", will sie wissen. "Du wirktest irgendwie darauf gefasst. Ich meine, auf mich hast du nicht den Eindruck gemacht, als seist du sonderlich überrascht. Entsetzt, ja, und panisch, aber nicht, als hättest du sie nicht erwartet." Ich zucke mit den Schultern und gebe ihr den Medizinbeutel zurück. "Ich habe halt geahnt, dass du dir etwas scheußliches ausgedacht hast." Sie verengt die Augen zu Schlitzen, dann lacht sie auf. Ich esse schweigend meine Trauben weiter. "Aber was hast du gefühlt?", hakt sie neugierig nach, als von meiner Seite nichts mehr kommt. "Mein Gott, ich hatte eben Angst!", rufe ich aufgebracht. Was will sie denn von mir hören? "Und weiter?" Rileys Mutter rückt noch näher an mich heran, sodass ich den blumigen Geruch riechen kann, der von ihr ausgeht. Ich schlucke schwer, von meiner Aufregung ist nichts mehr zu spüren. Nur noch Ruhe. Ich weiß, dass sie ihre Finger im Spiel hat und dass ich sie dafür hassen sollte, aber im Moment bin ich nur dankbar, dass mein verspannter Körper sich beruhigt. Es ist wie bei Großmutter, wenn sie meine Gefühle beeinflusst, nur dass es sich auf meinen kompletten Körper ausübt. Ich schließe die Augen, während ich Rileys Mutter meine Gefühle und Gedanken schildere. "Ich hatte so Angst, dass meine Brust ganz eng wurde und ich kaum noch Luft bekam. Aber da war auch Entschlossenheit, bitter hat sie geschmeckt. Verzweiflung hat auch in kleinen Teilen mit eingespielt und natürlich hatte ich Schmerzen." "Dann warst du sehr tapfer, Scarlett." Als ich ihre kalte, glatte Hand auf meiner Schulter spüre, reiße ich sofort die Augen auf. Die Berührung erinnert mich an die tiefe Kälte in mir, die schon so ein Teil von mir geworden ist, dass ich sie nur noch entfernt wahrnehme. Aber sie begleitet mich dennoch auf Schritt und Tritt. Angeekelt befreie ich mich aus dem Griff von Rileys Mutter, die nicht sonderlich überrascht zu sein scheint, dass mir ihre Nähe nicht gefällt, im Gegenteil - sie grinst wissend. Im Schein des Feuers wirkt dieses Grinsen monströser als es wahrscheinlich ist. "Du hast auch noch eine Frage frei", säuselt sie mir ins Ohr. Langsam aber sicher breitet sich eine Gänsehaut auf meinen Unterarmen auf, wie elektrisiert starre ich sie an. Dann reiße ich mich zusammen und durchforste mein Gehirn nach Fragen, die mir in meiner Situation weiterhelfen könnten. Ich muss so vieles wissen, um meine Lage zu verstehen, damit dieses Spiel in meinem Kopf Gestalt annehmen kann. Warum ist mir durchgängig kalt? Wie weit ist Cayr entfernt? Wie nennt sich eine Gegend wie diese? Was hat sie noch mit mir vor? Kann ich in dieser Welt überhaupt sterben? Aber in Anbetracht der Tatsache, dass ich nur eine Frage pro 'Runde' stellen darf, fällt mir nur eine ein, die ich jetzt beantwortet haben muss. "Welchen Zweck hat dir der Test erbracht, den ich gerade hinter mir habe? Die Wanderung, die Schlucht, die Vögel? Was hast du damit über mich erfahren?" Rileys Mutter blickt erst mich lächelnd an, dann schaut sie mit großen Augen ins Feuer. "Das ist eine gute Frage", sagt sie lobend, ehe sie Luft holt. "Nun ja, ich habe einiges in Erfahrung bringen können. Du hast mir gezeigt, dass du klug bist - klug genug, um über eine meterweite Schlucht zu kommen und klug genug, um die Vögel zu besiegen. Du hast deine Stärke und deine Verbissenheit offenbart, indem du es rechtzeitig geschafft hast, oder viel besser: Indem du es überhaupt geschafft hast. Aber natürlich hast du mir gezeigt, dass du über deine Grenzen hinausgehen kannst - dass ich über deine Grenzen hinausgehen kann. Das erfolgreiche Bestehen deiner Aufgabe hat bewiesen, dass ich ruhig noch weiter gehen kann. Also, liebes Kind, stell dich drauf ein, dass die nächsten Aufgaben nicht so einfach werden sein wie diese hier." Dann klatscht sie in die Hände und das Feuer erlischt augenblicklich. Es ist, als zöge sie den Stecker und die ganze Welt geht aus. Versinkt in Dunkelheit.
Und ich mit ihr.
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Ich bin gespannt, was ihr davon haltet und freue mich wie verrückt über Kommentare! :-) Wie könnte Scarletts nächste Aufgabe aussehen?
Hoffe außerdem, dass ihr alle angenehme Weihnachtstage mit eurer Familie verbringen konntet. :*
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