Kapitel einunddreißig

"Ich muss verschwinden!" Riley's schlanker Körper verschwindet im Dunkel des Nebels. Ich laufe so schnell ich kann, aber meine Lungen sind am Bersten. Ich bin ein Mensch, keine Hexe, die förmlich fliegen kann. Außerdem verheddere ich mich immer wieder in meinem langen Kleid, dessen Rock mir immer wieder aus den schwitzigen Händen gleitet. So kalt mir am Nachmittag auch war, jetzt glüht mein Gesicht. Es hat aufgehört zu schneien und die Nacht ist windstill und nebelig. "Riley!" Ich fluche halblaut, während ich meine Schritte verschnellere. "Du kannst doch nichts dafür!" Meine Augen kämpfen gegen den Nebel an, Haarsträhnen kleben in meinem verschwitzten Gesicht. Mein Atem geht schnell und flach. "Doch", antwortet Riley von irgendwoher. "Riley, bitte!", flehe ich. "Lass uns reden." Ich laufe, bis ich den Waldrand erreiche. Dann sehe ich ihn, wie er vor den Dornen steht, hochgewachsen und versteinert. Mein Magen beginnt zu schmerzen. So glücklich ich auch eben noch zu sein dachte, so traurig und erschüttert bin ich jetzt. Es sind Rileys Eltern, die Großmutter sieht und die sie ängstigen. Sie kommen, um Riley zurückzuholen und sie sind auf dem Weg. Sie werden bald da sein und ihr Eintreffen ist unverhinderlich. Wenn ihre Entscheidung nicht sicher wäre, würde Großmutter sie nicht sehen, denn sie sieht nur, was feststeht. Während meine Atmung sich beruhigt, schaue ich Riley eindringlich an. Seine Augen schwimmen in Tränen. "Ich wollte doch nur mit dir glücklich werden", haucht er und seine Stimme klingt so zersplittert, dass es mich noch tiefer zieht. Ich schlucke, ehe ich einen Schritt auf ihn zu mache. "Aber das können wir doch. Wir können mit ihnen reden. Sie sind deine Eltern, sie wollen doch, dass es dir gutgeht." Während ich spreche, verziehen sich seine Lippen zu dem üblichen, traurigen Lächeln. "Nein. Das wollen sie nicht. Sie wollen Macht über mich, aber alles andere ist ihnen egal. Ich muss fort, Scarlett, so leid es mir auch tut. Ich muss sie aufhalten, bevor sie Cayr erreichen. Ich hab schon genug Schaden angerichtet", setzt er gedämpft hinzu. Eine Reihe von Gefühlen wallt in meiner Brust auf: Angst, Wut, Trauer, nacktes Entsetzen. "Schaden angerichtet?", rufe ich aus. "Riley, du hast ein Menschenleben gerettet, solltest du es nicht mitbekommen haben! Du hast mir die schönsten Wochen meines Lebens, Cayr einen neuen Wunderheiler und meinen Eltern den perfekten Schwiegersohn geschenkt. Was ist daran 'Schaden angerichtet'?" Obwohl ich mich vor ihm aufbaue, fühle ich mich entsetzlich klein. "Hör auf", sagt Riley bitter. "Hör auf, ehe du alles noch schlimmer machst. Ich kann das nicht ertragen." "Was?", flüstere ich. Jetzt schwimmen auch meine Augen in Tränen. "Dich leiden zu sehen", sagt Riley kopfschüttelnd, während ich einen weiteren Schritt auf ihn zu gehe. "Dann bleib bei mir." Bevor er sich umdrehen kann, habe ich rasch seine Hände gefasst. Ergeben sieht er auf mich herab. "Scarlett, meine Eltern dürfen das Dorf niemals erreichen." Warum?, denke ich und er antwortet:"Weil sie eine echte Bedrohung für die Bewohner darstellen. Ist dir bewusst, wie stark  meine Eltern sind, vor allem wenn sie Seite an Seite arbeiten? Weißt du eigentlich, wie mächtig ihre Kräfte sind? Sie könnten das Cayr vernichten, ohne sich wirklich anzustrengen." "Aber warum sollten sie das tun?", entgegne ich und verstärke meinen Griff. Rileys Daumen kreist über meinen Handrücken, aber diesmal beruhigt es mich nicht. Ist es die letzte Geste, bevor ich ihn nie wieder sehe? Nein, nein, nein! Er wird hier bleiben, er muss.  "Meine Eltern sind sehr schnell wütend. Sie würden alles tun, damit sie mich wiederhaben", sagt Riley leise, ohne auf meine Gedanken einzugehen. Seine Stimme klingt belegt. "Warum?" Das Wort ist kaum mehr als ein heiseres Hauchen. "Weil ich sie fasziniere. Ich bin eine Mischung aus Sirene und Hexer. So etwas hat es vorher nie gegeben. Ich bin sowohl als auch, meine Möglichkeiten zu leben sind riesig. Sie wollen herausfinden, wo meine Fähigkeiten liegen, wollen mit mir experimentieren. Und irgendwie lieben sie mich auf ihre verrückte Art abgöttisch." Riley sieht sehr finster aus, aber als er die Liebe erwähnt, werden seine Züge weicher. "Dann komme ich mit dir", beschließe ich und seine Augen weiten sich. "Scarlett, nein!" "Wenn das der einzige Weg ist, dass wir zusammenbleiben, werde ich diesen Schritt wagen", beharre ich felsenfest, obwohl mir ungut zumute ist. Aber ohne ihn zu sein ist schlimmer als ohne meine Familie zu sein. "Das kannst du nicht tun. Lexi braucht eine große Schwester. Deine Großmutter braucht jemanden, der nach ihr sieht", sagt Riley, immer noch entsetzt. Ich beiße mir stumm auf die Lippe. Die Spannung zwischen uns ist so spürbar, dass sogar ich merke, dass ich besser schweigen sollte. Rileys Gesicht bleibt unentwegt, aber ich muss keine Gedanken lesen können, um zu wissen, was dahinter vor sich geht. Er ist erschrocken, erschüttert, verzweifelt. Vielleicht bewundert er mich auch. Insgeheim hoffe ich das sogar. "Du würdest das für mich tun?", haucht er schließlich. "Natürlich", erwidere ich verwundert. Für mich ist es ganz selbstverständlich, dass wir zusammen gehören. Für ihn doch eigentlich auch, oder? "Das kann ich nicht zulassen", murmelt Riley und im nächsten Moment küsst er mich einfach. Nicht weich und zart, sondern heftig und leidenschaftlich. Erst verspannt sich mein Körper, aber dann mache ich ohne großes Zutun mit. Wie von selbst schlingen ich meine Arme um seinen Nacken und ich schließe die Augen. Eine seiner Hände legt sich auf meine Hüften, die andere ruht an meinem Hinterkopf. Seine Lippen sind warm und kalt zugleich, weich und hart. Das hier muss die Liebe sein, wenn ein schlichter Kuss so vieles in mir auslöst: Mein Herz flattert auf und ab wie ein Schmetterling und ein zartes Kribbeln zieht durch meinen ganzen Körper. Wie elektrisiert stehe ich da und wundere mich, wie ich einfach all die Probleme mühelos vergesse. Hier und jetzt, in diesem Augenblick zählt nur dieser Kuss, doch wir lösen uns viel zu schnell wieder voneinander. Dann mustern wir uns atemlos, nur um uns kurz darauf wieder stürmisch zu küssen. Es fühlt sich so gut an, dass wir gar nicht anders können. So viele Wochen haben wir darauf gewartet, uns ohne Gefahr berühren zu können, dass es mir unmöglich scheint, jemals damit aufzuhören. Und vielleicht kann ich Riley ja so davon überzeugen, dass es absolut falsch ist, uns zu trennen. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, lege meine Hände um seine Mitte und lasse unsere Lippen miteinander spielen. Als ich die Augen schließe, sind meine Wimpern tränennass. Ich vergieße sogar Tränen der Rührung, so gut fühlt es sich an, Riley nahe zu sein. Aber plötzlich drückt er sich abrupt von mir weg und wischt sich über den Mund. "Damit hatte ich nicht gerechnet." Er lächelt schief, so, als würde es unsere Probleme gar nicht geben. Keine Bedrohung. Nur uns. "Ich auch nicht", flüstere ich ebenso bezaubert zurück. "Ich liebe dich", sagt Riley unvermittelt und ein Lichtblitz zuckt über mein Blickfeld. "Ich liebe dich", antworte ich schüchtern. Man müsste meinen, diese drei Worte hätten unglaublich viel Gewicht, aber ich fühle mich federleicht. "Tu mir einen Gefallen", sage ich leise. "Was du willst, Prinzessin." Riley fasst meine Hand, sicher dieses Mal. "Lass uns diese Nacht alles andere vergessen. Nur wir", hauche ich. Besorgnis flackert in seinen Augen auf, aber gleich darauf nickt er wieder. Dann, ganz plötzlich, hebt er mich hoch, sodass ich nicht mehr auf den Zehenspitzen stehen muss, um in seine Augen zu sehen. Luftgleiche Küsse verteilt er auf meinem Schlüsselbein und ich kichere befreit. Als unsere Lippen diesmal aufeinander treffen, ist es nur eine zarte, sanfte, engelsgleiche Berührung, dahin gehaucht. Aber es ist von allen drei Küssen der schönste. Und das beste: Wir haben die Nacht noch vor uns. Und vielleicht sieht morgen die Welt schon wieder ganz anders aus, wie Mutter immer zu sagen pflegte, als ich noch klein war.

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Überraschung, Überraschung! ♥ Was haltet ihr von der Wendung des Kapitels? Und glaubt ihr, Scarlett und Riley werden Cayr verlassen oder eine andere Lösung finden? Schreibt es in die Kommis! ♥♥♥

P.S.: Ich wollte euch nicht so lange zappeln lassen, aber das Kapitel hat sich irgendwie gelöscht und ich musste alles neu schreiben. :/ Seid mir nicht böse! :D

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