Kapitel dreißig
Als es dunkel wird, ist das Fest voll im Gange. Der große Ballsaal im Rathaus ist warm und laut, Geigenmusik bezirzt meine Ohren. Die Menschen schreiten über die hölzerne Tanzfläche oder stehen an der langen gedeckten Tafel und essen. Es ist ein einmaliger Freispruch, einen, den es so nicht wieder geben wird. Denn nachdem ich auf dem Platz stand, in der Kälte, und die Worte des Bürgermeisters die Schuld von mir genommen hatten, wurde Riley nach vorn gerufen. Ich stand auf einer kleinen Erhöhung, aber dann sollte er dort stehen - und wurde glatt zu Cayrs neuem Wunderheiler erkoren! Die Leute wissen nicht, dass er halb Hexer ist, sie denken, er ist einfach ein Mensch mit einem Händchen für Heilung. Und jetzt ist er nicht nur ein vollwertiger Bürger des Dorfes, sondern hat dazu noch einen hoch angesehenen Beruf. Ich weiß nicht, wie ich glücklicher sein sollte und ich weiß auch nicht, wie ich dieses Gefühl beschreiben soll, dass mich im Innern überwältigt. Ich bin stolz. Stolz auf mich und Riley, dass wir nicht aufgegeben haben, stolz, dass wir unser Ziel erreicht haben. Ich bin glücklich, weil in diesem Moment alles stimmt. Es gibt nichts, das mir fehlt, und zum ersten Mal seit Wochen fühle ich wirklich, dass ich angekommen bin. Nach dieser langen Reise, auf der ich mich und meine Zukunft gesucht habe, habe ich beides in einer Person gefunden: In Riley. Ich lebe Riley, ich fühle Riley, ich liebe Riley. Er macht mich aus und ist gleichzeitig meine Zukunft. Und es tut gut, sich an jemandes Seite zu wissen.
Heute Abend lasse ich ihn nicht los. Er trägt eine schwarze, lange Hose, ohne Löcher oder Flicken. Von Vater hat er ein weißes Leinenhemd bekommen, das so groß ist, das er es tief in die Hose stecken musste. Seine Haare sind weich und glänzend und im Nacken lockig, und wie ich lächelt er ein Dauer-Lächeln, während wir Hand an Hand über die Tanzfläche gleiten. Riley bewegt sich grazil, mit viel Anmut und Gefühl. Seine Bewegungen passen perfekt zu der Musik. Ich, die ich einfach von einem Fuß auf den anderen trete, komme aus dem Staunen nicht mehr hinaus. "Woher kannst du so gut tanzen?", frage ich ehrfürchtig und leise. Irgendwie habe ich das Gefühl, als könne die Magie verpuffen, wenn ich laut rede. Riley lächelt wunderbar schief, ohne Trauer in den Augen. "Das ist Teil meiner Gabe als Sirene, die die Männer auch durch Tanz betört." Er hält inne, um die Stirn zu runzeln. "Merkst du was?" Ich sehe Sorge durch seine dunkelbraunen Augen huschen und schüttele verwirrt den Kopf. "Wieso? Was sollte ich denn fühlen?" Ich verstärke meinen Griff, weil ich plötzlich Angst habe, Riley könne mir davonlaufen. Dabei zieht ihn jetzt ganz sicher nichts von mir weg, im Gegenteil: Dieser Abend gehört uns. Riley schaut konzentriert in mein Gesicht. "Sei ehrlich." Ich verstehe nicht. Was will er von mir? "Wirklich. Ich fühle nichts als Glück und Liebe. Wovon redest du?", sage ich, immer noch verwirrt. Wie sooft wünschte ich, ich hätte ebenfalls die Gabe, Gedanken lesen zu können wie er. Dann wüsste ich, was in seinem Kopf vor sich geht. So aber tappe ich im Dunkeln und muss ihm die Antwort aus der Nase ziehen. "Riley!" Er weiß doch, wie ungeduldig ich bin! Wieso sagt er nichts? Ein ungläubiges, winziges Lächeln, das ich so noch nie gesehen habe, tritt in Rileys Gesicht. "Hast du Durst?", fragt er flüsternd und beugt sich zu mir herab. Er will wohl nicht, dass die Leute uns hören. "Nein", sage ich, während ich den Kopf schüttele. "Ich habe eben noch diesen teuren Wein getrunken. Zwei Gläser. Ich glaube, die Wirkung tritt langsam ein. Mein Kopf wird schon ganz wuselig." Ich puste eine Strähne, die mir ins Gesicht gerutscht ist, zurück. Riley nimmt sie, um sie hinter mein Ohr zu streichen. "So meine ich das nicht." Ich sehe kaum, wie seine Lippen sich bewegen, so schnell spricht er. Ich komme kaum noch mit. "Ich meine Durst", beschwört Riley mich fast. Ich verziehe fragend das Gesicht - diese ganze Rätselei wird mir immer suspekter. "Durst auf mich", fügt Riley hinzu, als wäre das ganz offensichtlich. Mit drei Sekunden Verspätung stellt mein Gehirn dann auch den Zusammenhang her und ein wissendes "Ahhh" kommt mir über die Lippen. Riley legt mir rasch einen Finger auf den Mund, bevor ich irgendetwas sagen kann. Ich weiß nun, was er meint: Den Bann. Wenn die Sirenen mit Tanz ihre Opfer anlocken, dann müsste ich jetzt ein Verlangen spüren. Ich müsste mich nach ihm verzehren, mich so beherrschen, dass es schmerzt, ihn bei den fließenden Bewegungen zuzusehen. Doch ich fühle nichts dergleichen. Meine Seele ist rein und unbeschwert. Wir haben den Bann überwunden, und genau das sieht Riley einen Augenblick später in meinen Gedanken. "Nein", haucht er, als könne er es nicht glauben. "Ich kann das nicht fassen", bestätige ich rau. Ich sehe Freudentränen in seine Augen treten, bevor auch er vor mir verschwimmt. Meine Beine geben nach, aber er fängt mich und hält mich fest am Rücken. Es tut gut, so gehalten zu werden. Überhaupt tut dieser Moment gut. Eine Last fällt von mir ab, und eine Minute später werde ich mir bewusst, was es bedeutet den Bann überwunden zu haben: Wir haben eine gemeinsame Zukunft. Wir können uns ohne jegliche Gefahr küssen, uns nahe sein, tiefe Gefühle füreinander haben, die innig und wahrhaftig sind. Wir können so vieles, das wir vorher nicht konnten. Der Moment ist perfekt. Während die Geigen ein schnelleres Stück anstimmen, kommt Rileys Gesicht meinem immer näher. Mein Herz pocht schmerzlich fest gegen meinen Brustkorb, als ich begreife, das nun das eintritt, worauf ich immer gewartet habe. In meinem Bauch ist die Hölle los, alles kribbelt und prickelt. Eine feine Gänsehaut legt sich über meine Arme, und als Rileys Atem meinen Hals streift, schließe ich die Augen, um den Moment ganz bewusst zu durchleben. Ich lasse es einfach auf mich zukommen. Doch dann entfernen sich seine Hände von meinem Rücken und ich kann seinen Atem nicht länger spüren. Hä? Ich schlage die Augen auf und setze zum Protest an, als ich sehe, wer sich zu uns gesellt hat: Großmutter. "Ich will mit dir reden", sagt sie und starrt mir unverhohlen in die Augen. Ein kleiner Schreckenslaut verlässt meine Lippen. Sie hier? Sie ist doch so ungern unter Menschen! Und warum hat sie uns ausgerechnet jetzt gestört? Wollte sie den Kuss womöglich verhindern? Ich werde fast panisch, zwinge mich jedoch zur Ruhe und atme tief durch. "Okay", antworte ich matt, während ich mir eilig über die Augen wische. Meine Wimpern sind noch tränennass. "Unter vier Augen", setzt Großmutter mit Nachdruck hinzu und es ist klar, dass dies an Riley gerichtet ist. "Natürlich", nickt er, ehe er sich umdreht. Ich sehe ihm an, dass er lieber geblieben wäre, aber es ist alles andere als schlau, sich Großmutter zu widersetzen. Ich glaube, ihre Kräfte sind so stark und ausgeprägt, dass sie selbst ihn mühelos außer Gefächt setzen könnte. Ich blicke Riley seufzend hinterher. Nach ein paar Schritten dreht er sich um und wirft mir einen entschuldigenden Blick zu. 'Später', sage ich stumm; er nickt. Wohlige, sprudelnde Vorfreude breitet sich in mir aus, als ich mir unseren ersten Kuss ausmale. Gut, eigentlich den zweiten, aber der erste, den wir beide ganz bewusst und aus freien Stücken erleben. Es passiert heute noch, das habe ich im Gefühl. Nur unwillig lasse ich mich Rileys Anblick losreißen und in eine Nische zwischen rotem Samtvorhang und Wand ziehen. Aber Großmutter sieht so ernst aus, dass ich mich schließlich ganz auf sie konzentriere. "Was ist los?", frage ich irritiert, während sie sich unruhig umsieht. Riley steht etwas entfernt und wirbelt eine kichernde Lexi durch die Luft. "Ich spüre es", antwortet Großmutter und ich kann mich gerade noch beherrschen, nicht laut loszulachen. Von allen verschleierten Sätzen, die sie gesagt hat, ist dieser wirklich der banalste. Ich spüre es. Ungenauer geht's nicht. Das könnte jeder sagen, weil man immer etwas spürt. Trotzdem weiß ich, dass weit mehr dahinter steckt als ein blöder Spruch. "Was?", frage ich reichlich spät. Großmutter atmet tief ein. "Euren Bann. Oder besser gesagt, ich kann ihn weder spüren, noch sehen. Er ist..." - sie schluckt - "Er ist vorüber." So weit sind Riley und ich zwar schon, aber die Bestätigung tut gut. Nicht aber ihr verzerrtes Gesicht, weswegen ich mich nicht freuen kann. Auf einmal ist mir schrecklich kalt, und ich ahne schreckliches: Das hier ist nicht vorbei. Riley und ich können nicht sorgenfrei leben, noch nicht. Irgendwas ist da noch, das uns hindert. Eine weitere Hürde. Am liebsten hätte ich laut aufgestöhnt und meinen Kopf vor die Wand gedonnert, doch ich bleibe unbewegt wie eine Statur. Großmutters Hände, die nach meinen greifen, zittern. "Ich kann den Bann nicht mehr sehen", haucht sie mit tellergroßen Augen. "Aber ich sehe etwas anderes."
*********************
Ich bin gemein, ich weiß. Aber mit dieser Wendung ziehe ich die Geschichte noch etwas in die Länge, und das wollt ihr doch, oder? ♥ Meinungen in die Kommis! ♥♥♥
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top