Kapitel achtzehn

Mit einer Tasse Kräutertee und ein paar Decken sitze ich am Fenster meines Zimmers und warte, dass Riley am Waldrand auftauchen wird. Natürlich ist es naiv von mir, zu denken, dass er sich einfach zeigt, schließlich lassen sie ihn hinrichten, wenn er gesichtet wird. Logischer ist daher wohl eher, dass ich wieder vom Fensterbrett gehoben werde, so wie vorletzte Nacht. Aber dickköpfig wie ich bin, will ich ihn vorher schon sehen, bevor er mich aus dem Zimmer hebt. Wie er das wohl schafft? So schlank und kraftlos wie er aussieht... Womöglich kommen da seine Fähigkeiten als Hexer ins Spiel. Oder als Sirene, nur, die Sache mit dem Hexer gefällt mir besser, weil ich bei der Sirene automatisch an den blöden Bann denken muss, den es zu überbrücken gilt. Grimmig knirsche ich mit den Zähnen. Im nächsten Moment packen mich zwei Hände an den Armen, ziehen mich, ohne dabei jegliche Schmerzen zu bereiten, über das hölzerne Sims und wandern schließlich zu meinen Hüften, um mich vernünftig absetzen zu können. Verärgert klopfe ich die Holzsplitter von meinem Nachtrock. "Wirklich Riley, du solltest Bescheid sagen, bevor du mich aus meinem Zimmer reißt." Ich recke das Kinn und sehe zu ihm auf. Sofort überkommt mich der Drang, ihn zu küssen, oder zu umarmen, aber ich reiße mich zusammen. "Warum sollte ich das tun?", fragt Riley, scheinbar amüsiert. "Es ist demütigend, wie ich als Normalsterbliche nichts mehr mit meinen guten Augen anfangen kann." Ich ziehe erhobenen Hauptes an ihm vorbei. "So ist das nun mal im Leben." Ich höre das Grinsen in seiner Stimme und muss mir alle Mühe geben, ernst zu bleiben. "Halt!" Riley fasst mein Handgelenk. "Wo willst du überhaupt hin?" "Zu Lexi", gebe ich zurück. "Irgendwann muss sie doch mal geheilt werden." "Und du willst einfach durch die Haustüre spazieren und sagen, 'Hallo Mutter. Hier ist der Fremde. Er hat Superkräfte und heilt jetzt Lexi.'" Ich drehe mich um und gehe zum Fenster zurück. "Und genau wegen dieser Kräfte wirst du für mich wohl immer ein Fremder bleiben", antworte ich, während ich ungelenk versuche, wieder in mein Zimmer zu klettern. "Lass mich dir doch helfen", murmelt Riley und ehe ich mich versehe stehe ich in meinem Zimmer. Er schwingt sich komplett geräuschlos hinterher, dann grinst er mich an. "Warum bist du überhaupt so gut gelaunt?", frage ich misstrauisch, obwohl das Grinsen das schönste ist, was ich je gesehen habe. Ich muss wohl so verschlossen sein, um ihn nicht zu verspeisen. Wie beruhigend zu wissen, dass das auf Gegenseitigkeit beruht... "Darf ich nicht?", fragt er unschuldig. Die Melodie seiner Stimme hüpft in meinem Kopf umher. Ohne zu zögern summe ich mit. "Was summst du da?", will Riley wissen und das Grinsen verschwindet. "Die Melodie deiner Stimme", flüstere ich. Das ist im übrigen auch die Melodie, von der ich ständig einen Ohrwurm habe. Riley verzieht das Gesicht. "Schon okay", beschwichtige ich ihn, "keine Sorge, ich werde dich nicht küssen oder so. Großmutter sagt, wir müssen den Bann vorüberziehen lassen. Und zwar mit Zeit und Selbstbeherrschung. Vielleicht reicht die Zeit ja auch aus, um dir zu beweisen, dass ich nicht der Norm entspreche, wie du meinst." Er verdreht die Augen. "So war das nicht gemeint. Und das weißt du auch. Du willst es mir bloß unter die Nase reiben, damit ich mir mies vorkomme." Ich schlucke den beißenden Kommemtar runter, der mir auf der Zunge liegt, und greife seine Hand. Natürlich ist in meinem Bauch bei dieser kleinen, zarten Berührung die Hölle los. Ich zittere, als ich mit geschlossenen Augen schlucke und darauf warte, dass die Attacke von Gefühlen vorbei ist. Riley runzelt die Stirn. "Was ist los?", fragt er. "Kannst du das nicht in meinen Gedanken lesen?", erwidere ich so schroff wie möglich. "Ich kann deine Gedanken nicht lesen", antwortet er ruhig. "Ich kann sie bloß erahnen, wenn ich dir in die Augen sehe. Und so lange du mich nicht anschaust, bleibe ich ahnungslos." "Wie dem auch sei", sage ich gedehnt, betont geduldig, "wir gehen jetzt zu meiner Schwester und du wirst beginnen sie zu heilen." "Ich werde sie mir ansehen und eine Diagnose machen", murmelt er. "Danach sehen wir weiter." "Du wirst sie heilen", zische ich, dann öffne ich leise die Tür und trete hinaus in den Flur. Ich versuche, mich zu konzentrieren, doch so lange ich ihn bei der Hand halte erscheint es mir schier unmöglich. Schüchtern lockere ich den Griff, bis ich ihn schließlich ganz löse. Fass ihn an!, scheint jede Zelle meines Körpers zu schreien. Nimm seine Hand und lass ihn nie wieder los! Doch ich verfolge eisern Großmutter's Rat und ignoriere meine innere, wahnsinnige Stimme geflissentlich, auch wenn es mir noch so schwer fällt. Es ist, als wäre man drei Tage ohne Wasser durch einen Wald gelaufen, als wisse man, dass man sterben muss, wenn man nichts trinkt. Und dann findet man das rettende Wasserloch, aber es ist vergiftet und man muss eine Woche warten, bis das Gift der Klarheit weicht und man trinken kann. Und man weiß, dass man es nie schaffen wird, so lange zu warten, weil der Körper es nicht mitmacht, aber man will sich nicht von der einzigen Rettung losreißen, um andere Wasserlöcher zu suchen. Man ist zu schwach. So ist es mit mir, doch ich habe einen starken Willen, der sich gegen die Verwirrung durch meine Gefühle durchsetzt. Ich weiß, dass nur einer von uns beiden sich nur eine Sekunde nicht unter Kontrolle haben muss, um alles zu zerstören. Wäre ich das, blieben wir wenigstens beide am Leben; ich würde ihn durch mehr Küsse nur verlieren. Das Wasserloch würde schrumpfen und umso giftiger werden. Wird Riley sich nicht unter Kontrolle haben, werde ich sterben. Aber, und ich weiß, dass es kindisch und albern ist, der Gedanke, dass seine  Hände mir den Magen ausreißen, hat etwas, das mich reizt. Ich fürchte mich nicht. Ich hoffe nur um Riley wegen, dass er sich beherrscht, weil ich weiß, dass er sich das selber nie verzeihen würde.

"Scarlett?" Ich zucke zusammen, als seine Stimme so nah an meinem Ohr erklingt, und versuche, die Melodie zu verdrängen. Es ist, als würde sie immer lauter und klarer... Der Bann. "Ja?" Ich drehe mich um und ringe mir ein Lächeln ab. Seine Mundwinkel schießen belustigt nach oben. "Willst du nicht weitergehen?", fragt er und gibt mir einen sanften Schubs. Das Blut schießt mir in den Kopf. "Öh, doch... ich war in Gedanken." Ich rede so schnell, dass ich mich verhaspele. Riley kichert leise. "Psst!", zische ich, während ich die Tür zu Lexi's Zimmer öffne. "Willst du, dass sie uns erwischen?" "Ich hab da einen Trick", gesteht Riley grinsend. Ich verdrehe die Augen. "Wir haben keine Zeit für so - ... Riley?!" Panisch drehe ich mich um meine eigene Achse, dann reibe ich mir ungläubig die Augen. Er ist weg. Einfach vor meiner Nase in Luft aufgelöst. "Scarlett, was suchst du da?" Es ist Mutter von der Schlafzimmertür aus. Ich kann den stillen Triumph nicht unterdrücken, dass sie mit mir gesprochen hat, doch ich sehe sie nicht an. "Ich will zu Lexi." "Lexi ist nicht mehr zu retten. Übermorgen kommt Bernhard Fergail, um sie zu holen." Die Panik kriecht mir eiskalt über den Rücken und landet in meinem Magen. Bernhard Fergail kümmert sich um die Toten im Dorf. Kleidet sie grabgerecht ein, verpackt sie in Särge. Dann kann die Familie einen Gottesdienst beim Pfarrer beantragen, um geistlich von dem Verstorbenen Abschied zu nehmen, bevor er hinter der Kirche begraben wird. "Sie ist nicht tot", sage ich verzerrt. "Lexi ist nicht tot. Sie ist krank. Aber nicht tot." "Hast du dir das Kind mal angesehen? Die lebt nicht mehr. Kannst du vergessen. Wir haben sie schon mit dem Laken verdeckt." Tränen schießen mir in die Augen. "Sie ist nicht mehr zu retten?", flüstere ich und spüre, wie sich alles in mir verkrampft. "Nicht jeder steht von den Toten auf." Mutter versucht, gleichgültig zu klingen, aber ich kenne sie zu gut, als dass sie den Schmerz vor mir verbergen könnte. Komisch, dass ich dasselbe versuche. "Ich würde trotzdem gerne nach mir sehen. Sie ist meine Schwester." Bei den Worten schlucke ich all die Tränen, all die Trauer hinunter, die Platz in meinem Körper suchen. Im Hals bleiben sie allerdings stecken. "Sie atmet nicht mehr, Scarlett", sagt Mutter beherrscht. "Ich will trotzdem zu ihr", entgegne ich mit erstickter Stimme, ehe ich in ihr Zimmer trete und die Tür mit einem Knall hinter mir verschließe. Sofort rollen mir heiße, salzige Tränen über die Wangen. Es ist alles umsonst! Schluchzend trete ich ans Bett und nehme ihr mit zittrigen Fingern das Laken vom Leib und enthülle somit einen ausgezehrten, knochigen Körper. Kinderwangen weich wie Samt und weiß wie Schnee, geschlossene, leblose Augen. Wann hat das Leben sie bloß verlassen? Warum habe ich es nicht gemerkt? Ich sacke auf die Knie herab und lasse meinen Kopf auf ihre weiche, kalte Kinderbrust fallen. Tränen über Tränen bilden da und dort nasse Kreise, Sprenkel. "Es tut mir so leid!", schluchze ich. "Es tut mir so leid, dass ich nur an mich gedacht hab! Es tut mir so leid, dass ich dir nicht schneller helfen konnte!" Ich vergrabe meine Haare in dem einst so lebhaften Orange ihrer Haare und schüttele daran. Es schüttelt mich. In dem Moment kann ich Großmutter's Blick auf mir spüren. Als sich eine Hand auf meine Schulter legt, schrecke ich nicht einmal auf. "Verschwinde, Mutter", schluchze ich. Die Hand bleibt dort. Nach einer Weile drehe ich mich um. Es ist Riley. "Wie..." Die Worte bleiben mir im Halse stecken, da sie im nächsten Moment einem weiteren Schwall Tränen weichen müssen. "Warum hat sie sich nicht verabschiedet?", frage ich mit einer Stimme, die ich selbst noch nicht kenne. Mein Blick fällt wieder auf ihr hübsches, weißes Gesicht. Als sie noch lebte, war es immer sehr katzenhaft. Alles an ihr war katzenhaft. Jetzt ist sie bloß eine Hülle ihrer selbst  "Du musst sie nicht aufgeben", flüstert Riley und deutet auf ihre Brust. "Was?", schnaube ich. "Siehst du es nicht?" Ich lege den Kopf schief. "Der Fleck? Das sind meine Tränen", erkläre ich schluchzend. "Nein", erwidert er ruhig. "Sieh genau hin." "Ich habe grade echt keinen Nerv für so Rätsel", sage ich. "Sieh genau hin", flüstert Riley wieder. Seufzend wische ich mir den Tränenschleier von den Augen und konzentriere mich auf ihre Brust. Erst, als Minuten verstrichen sind, fällt es mir auf: sie hebt und senkt sich. Kaum merklich zwar, aber es ist ein gutes Zeichen. "Sie atmet!", hauche ich erleichtert. "Ja", sagt Riley, "wenn wir sie zurückholen wollen, müssen wir uns beeilen."

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So, da wären wir. ♥ Ich hoffe, es hat euch gefallen und hoffe wieder sehr auf Votes und Kommis. ♥

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